Der letzte Sommer - Waldhaus Sils
"Nimm jetzt mit Anstand Abschied"
25. August 2022. Thomas Mann residierte 1954 im Waldhaus Sils. Die Gruppe Raum+Zeit bringt ihn nun in ihrer VR-Installation zurück in das Edelhotel. Eine Begegnung der Lebenden mit den Toten.
Von Valeria Heintges
25. August 2022. Da sitzt er, Klaus Mann. Im grünen Pullover, braunmelierte Hose, grobe Wollsocken und Wanderschuhe. Die haben Dreck mitgebracht, der sich unter dem Stuhl gesammelt hat. Wer macht denn sowas in der Beletage des Waldhaus Sils? Eine Traumfigur macht so etwas, eine, die sich ein anderer nur erdacht, eralbträumt hat. "Ich bin nicht da. Ich bin ja tot", sagt Klaus Mann. "Ich liege weit weg, an dem Mittelmeer." Als Thomas und Katia Mann 1954 im Engadiner Nobelhotel weilten, hatten sie ihren Sohn bereits verloren – er starb 1949 im französischen Cannes an einer Überdosis Schlaftabletten. Doch jetzt hat Klaus das Wort – und die Rechnung, die er aufmacht, ist nicht eindeutig. Tot ist er, ja. Aber hat er nicht im Gegensatz zum Vater wenigstens versucht, seine Träume, seine Liebe zu leben?
Etwas ist komisch in diesem Hotelzimmer. Der Gast, hierher geleitet von Thomas Manns Stimme über Kopfhörer, wundert sich. Wo ist der alte Herr geblieben? Liegt er im Bett? Schließlich wölbt sich die Bettdecke, als würde jemand drunterliegen. Steht der jetzt auf? Und warum hat der Mensch gegenüber einen so merkwürdigen Kopf? Klein, schwarz, zwei Augen. Aber halt – sind auf der Seite nicht auch Augen?
Rückkehr ins Engadin
Willkommen in "Der letzte Sommer – Thomas Mann@Waldhaus Sils", in der neuen Installation von Raum+Zeit. Dieses Mal geht es nicht um Brecht, wie etwa in Berlau :: Königreich der Geister um Brechts Mitarbeiterin und Geliebte Ruth Berlau, entstanden am Berliner Ensemble und soeben mit dem Friedrich-Luft-Preis für die beste Berliner Inszenierung der Spielzeit 2021/22 ausgezeichnet. Sondern um den Kosmos von Thomas Mann, dem sich die Truppe bereits mit dem Audio-Spaziergang "Tod in Venedig" oder mit Gespenster. Erika, Klaus und der Zauberer an den Münchner Kammerspielen näherte. Der "Letzte Sommer" kommt wiederum in einem Doppelpack mit "Im Zauberberg – Thomas Mann @Davos" daher, für das Raum+Zeit ein historisches Zimmer im Sanatorium Davos für ein Aufeinandertreffen von Thomas Mann mit seiner eigenen Figur Hans Castorp virtuell eingerichtet haben.
In Sils also sitzt da Klaus Mann, den sich der im Bett liegende Vater Thomas erträumt. Es ist ein Vexierspiel der besonderen Art, das sich die Truppe um Regisseur Bernhard Mikeska ausgedacht hat und das die Zuschauer*innen jeweils ganz allein in 20 Minuten erleben. Zunächst sitzt man in Zimmer 71 der Klaus-Puppe gegenüber, die zu einem spricht. Im zweiten Teil wird der Gast merken, dass er die ganze Zeit vom Puppen-Kamerakopf gefilmt wurde. Er sieht sich nun über eine Virtual-Reality-Brille selbst in der Perspektive der Puppe. Sieht also einen soeben gedrehten Film. Sieht, wie er selbst zur Tür hereinkommt, sich setzt, sich neugierig im Raum herumschaut. Und hört dazu ein Selbstgespräch von Thomas Mann. Im dritten Teil steigt Vater Thomas aus dem Bett, lebendig, ein wenig gefangen noch in komischen Traumgespinsten, die ihn in der Nacht gequält haben. Er will das Zimmer räumen und dann nach Hause fahren. Jetzt sieht man via VR-Brille einen vorproduzierten Film, sieht den Schauspielerin Peter Jecklin, der sich – aussehend wie Mann Sr., sprechend wie Mann Sr., hypernervös wie Mann Sr. – für die Abreise fertig macht.
Wie viel Zeit bleibt?
So weit, so halbwegs klar. Aber es ist noch komplizierter. Denn wenn Thomas Mann zum Gast, der in sein Zimmer gekommen ist, redet, spricht er dann wirklich mit sich? Wen genau fragt er: "Wie siehst du aus? Was trägst du da?" Man hört die Worte, sieht sich aber selbst – und fragt sich: Saß ich wirklich so krumm auf diesem Stuhl? Manchmal wiederum adressiert Thomas Mann klar sich selbst, den "Meisterkopf, der die Geschichten macht". Doch halt! Baue ich mir nicht selbst gerade auch eine Geschichte? Schließlich sehe ich mich, bin gerade Hauptfigur des Films. "Was hast du denn erreicht?", fragt sich Mann Sr. Und fragt sich die Zuschauerin. "Wie viel Zeit bleibt? Kommt noch mehr?" Wer wüsste das nicht gern?
"Nimm jetzt mit Anstand Abschied", sagt Thomas Mann, frisch aufgestanden, forsch in das Hotelzimmer. "Die Berge breiten ihre kalten Arme aus. Als flögest du nach Haus." Und dann sagt er, und es wirkt beinahe brutal: "Nimm die Brille ab."
Ein komplexes Gebilde. Es macht die Sache nicht einfacher, dass Lothar Kittstein Thomas Mann zuweilen in langen Sätzen sprechen lässt, die ineinander verschoben und verschroben sind. Zudem sind Neulinge so mit diesem beunruhigenden Gefühl beschäftigt, das die VR-Brille verleiht, dass es schwer ist, allzeit dem Text zu folgen. Unbestritten aber, dass das Aufeinandertreffen von Träumendem und Geträumtem in der virtuellen Realität und im intimen Rahmen des Hotelzimmers einen ganz eigenen, einen großen Reiz entwickelt.
Der letzte Sommer
Thomas Mann@Waldhaus Sils
Eine VR-Installationen von RAUM+ZEIT
Idee, Konzeption: Raum+Zeit, Regie: Bernhard Mikeska, Text: Lothar Kittstein, Dramaturgie: Daniela Guse, Beratung Raum: Duri Bischoff, Kostüme: Almut Eppinger, Sounddesign: Rupert Jaud, Spielleitung: Jenny Krug, 360° Video: Raum+Zeit, heimspiel GmbH, INVR.Space GmbH, Produktionsleitung: Lukas Piccolin, Produktion: Raum+Zeit, Koproduktion mit Kulturplatz Davos, Kooperation: Waldhotel Davos, Hotel Waldhaus Sils.
Mit: Peter Jecklin (im 360° Film)
Premiere am 24. August 2022
Dauer: 20 Minuten
waldhaus-sils.ch
Kritikenrundschau
"Wie dies bei Virtual-Reality-Installationen der Fall ist, lebt diese Art der theatralischen Aufführung von der Nähe zum Geschehen, in diesem Fall zu Thomas Mann (hervorragend verkörpert durch den Bündner Schauspieler Peter Jecklin)", schreibt Marie-Claire Jur in der Engadiner Post (27.8.2022). Die Begegnung zwischen Vater und Sohn werde zu einer Konfrontation von realem und ersehntem Ich.
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