Gegen fadenscheinige Argumente

30. Oktober 2023. Nicht "Identitti", sondern "Identitti Rezeptionista": Nur zwei Jahre nach seinem Erscheinen hat Mithu Sanyals Erfolgsroman eine Rezeptionsgeschichte, die es sich auf die Bühne zu bringen lohnt. Der Abend, den Simone Dede Ayivi im Frühjahr mit einem Ensemble of Colour in Graz entwickelt hatte, läuft jetzt im Deutschen Theater Berlin.

Von Reinhard Kriechbaum

"Identitti Rezeptionista" von Simone Dede Ayivi am Schauspielhaus Graz © Lex Karelly

19. März 2023. Saraswati, die von ihren People of Colour-Studentinnen so sehr verehrte Postcolonial-Studies-Professorin und Rassismus-Bekämpferin, ist als Betrügerin aufgeflogen. Die vermeintliche Inderin war eine weiße Sarah Vera Thielemann! Das gibt Stunk. Alle Achtung vor der Romanfigur Nivedita. Denn die Studentin und Wortführerin des unweigerlich angesagten Shitstorms vergräbt sich, anders als man es erwarten würde, nicht im virtuellen Schützengraben der sozialen Medien. Schnurstracks marschiert sie zur "Übeltäterin", nimmt sogar Quartier in deren Gästezimmer. Die zwei Frauen, so unterschiedlich in der sozialen Stellung und doch bisher scheinbar so gleich gestimmt in ihrer Ablehnung aller Unterdrückung von PoCs, begegnen einander in echt und auf Augenhöhe.

(An)griffiger Debattenbeitrag

Dieser Touch von Lebensnähe mag eines der Erfolgsrezepte sein für das Buch "Identitti" von Mithu Sanyal, einer Vorzeige-Vorkämpferin in Sachen Antirassismus. So trocken der (akademische) Diskurs darüber sein mag, so ausführlich Fragen nun wirklich "durchdekliniert" werden: Es geht immer um Menschen aus Fleisch und Blut, um ihre Brüche in Biographien und Denkweisen, was Absurdität und Irr-Witz im Wortsinn einschließt. Dass eine Dramatisierung des Anfang 2021 erschienenen Buchs nicht lange auf sich hat warten lassen (im November 2022 am Düsseldorfer Schauspielhaus) verwundert deshalb nicht. Die Rassismus-Debatte wird von Mithu Sanyal so griffig und so angriffig wie nur denkbar geführt, aber nicht engstirnig.

Die Version, wie sie die in Sachen Antirassismus nicht weniger umtriebige Berlinerin Simone Dede Ayivi jetzt auf die Bühne im Haus Zwei des Grazer Schauspielhauses gestellt hat, greift den Stoff auch aus der unmittelbaren Lebenswelt ihrer Darstellerinnen heraus auf. Das Bühnenbild besteht nur aus Fäden-Vorhängen, die sich für reale und gedankliche Projektionen gleichermaßen gut eignen. Da wird auch die Fadenscheinigkeit von Argumenten augenscheinlich. Wo keine Türen und Wände sind, gibt's keine Barrieren. Vorhänge kann man flugs beiseite schieben. Es können sich alle so recht herzblutig einbringen, indem sie auch aussteigen aus den jeweiligen Rollen.

Colour als Unterdrückungskategorie

Da ist also Katrija Lehmann in der Rolle der Nivedita. Vater Inder, Mutter Polin, die junge Frau fühlt sich da wie dort nicht wirklich zuhause. Dass sie „in Wirklichkeit nur eine Weiße mit brauner Haut" sei, diesen Verdacht muss sie schon auch auf sich sitzen lassen und schaut trotzdem mit großen, manchmal gar ungläubigen Augen auf ihre alltagsrassistische Umwelt. In Aufführungen mit jugendlichem Publikum gibt Katrija Lehmann gewiss eine mehr als glaubwürdige, Zutrauen einflößende Indentifikationsfigur ab.

Identitti 1 LexKarellyÖffnen diskursiv die Vorhänge für neue Gedanken: Vernesa Berbo, Iman Tekle (vorne), Alexej Lochmann © Lex Karelly

Die Gegenspielerin ist eine mit allen Wassern gewaschene Selbstdarstellerin. Mit strohblondem Haar, dickgerahmten Augengläsern, dekorativ um die Schulter geschwungenem Tuch aus dem Indien-Shop ist sie so absurd designt, dass es fast schon wieder authentisch wirkt. Vernesa Berbo spielt die Professorin Saraswati, die auf jeden Vorwurf eine grelle Antwort, einen verbalen Winkelzug oder auch nur eine vage Hypothese aus ihrem Fachgebiet parat hat. Spannend wird's an dem Abend immer, wenn sich die Darstellerinnen selbst einbringen. Vernesa Berbo (eine Bosnierin aus Sarajewo) beginnt plötzlich davon zu erzählen, wie mühevoll sie sich die Akzeptanz als Schauspielerin in Deutschland hat erobern müssen und wie sie jetzt doch eher wieder in einschlägigen Rollenbildern fest hängt. Und ja, auch schlecht, wenn die Haarfarbe so gar nicht zum eigentlichen Herkunftsland passt. Colour meint nicht nur die Haut und ist immer falsch. "Colour ist eine Kategorie – eine Unterdrückungskategorie", heißt es einmal.

Eigenschau auf ein diverses Theater

Immer gegenwärtig und argumentiv reaktionsschnell zur Stelle sind Iman Tekle und Chen Emilie Yan, in Somalia geboren die eine, die andere in Shanghai. Iman Tekle holt einmal in einem schier unbremsbaren Wortschwall aus über die Position als Schwarze am Theater. Fazit: "Weiße können alles spielen, Schwarze nicht einmal sich selbst."
Die Eigenschau auf ein diverses Theater fehlt also ebenso wenig wie Querverweise auf die jeweiligen Biographien der Darstellerinnen. Der Quotenmann in der Runde, Alexej Lochmann, kann auf Russland-Deutsche in seinem Stammbaum verweisen.

Viel Bewegung, viel Musik, gebotene Überdrehtheit, hohes Sprechtempo mit Gespür dafür, wo man bremsen muss, um die Gedanken des Publikums doch auf wesentliche Aussagen zu lenken: das hat die Regisseurin Simone Dede Ayivi, wie die Romanautorin Mithu Sanyal auch eine einschlägig ausgebildete und publizistisch rege tätige Kulturwissenschafterin, gut im Griff. "Identitti Rezeptionista" lebt davon, dass vermeintliche "Race-Terroristinnen" mit all ihren begründeten Anliegen herzhaft aneinander vorbei diskutieren, hoch emotional und doch so gar nicht verbiestert. Das hat auch etwas Befreiendes.

Identitti Rezeptionista
nach dem Roman "Identitti" von Mithu Sanyal
Regie: Simone Dede Ayivi, Bühne: Lani Tran-Duc, Kostüme: Mariama Sow, Sound und Musik: Katharina Pelosi, Dramaturgie: Hannah Mey.
Mit: Vernesa Berbo, Iman Tekle, Chen Emilie Yan, Katrija Lehmann, Alexej Lochmann.
Premiere am 18. März 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de
www.schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com


Kritikenrundschau

Die Inszenierung funktioniere als "Well-made Play, aus dessen geschliffenen Sätzen sich Geschichten von Menschen schälen, die im Spannungsfeld von ethnischer Herkunft und sozialen Zuschreibungen nach ihrer Identität suchen", schreibt Hermann Götz in der Kleinen Zeitung (20.3.2023). Das Theater sei im Postkolonialismus nicht nur Diskurs-Ort, sondern selbst Schauplatz des Konflikts. "Eben das wird in Graz humor- und eindrucksvoll erlebbar gemacht."

Kommentare  
Identitti Rezeptionista, Berlin: Wer darf wen spielen?
Die selbstreferentiellen, identitätspolitischen Debatten, mit denen sich die Romanfiguren quälen, passen nur schwer in den kurzen Theaterabend. Der Abend ächzt streckenweise unter der Diskurs- und Thesen-Last.

Interessanter wird es, wenn die Spieler*innen aus ihren Rollen treten: die Bosnierin Vernesa Berbo erzählt von den schwierigen Anfängen, als sie aus dem belagerten Sarajevo nach Deutschland floh und statt großer Hauptrollen wie Lady Macbeth russische Prostituierte spielen sollte. Den Aufbruch des postmigrantischen Theaters in den 2010er Jahren am Ballhaus Naunynstraße und später am Gorki Theater erlebte sie als Befreiung, aber auch als Falle, wieder nur auf eine Nische festgelegt zu sein. Iman Tekle, in Eritrea geboren und in Köln aufgewachsen, erzählt in längeren Einschüben von den Schwierigkeiten einer PoC-Spielerin und über die Frage: Wer darf wen spielen?

Tekle kennt das Berliner Publikum bereits aus dem Glossy Pain-Überraschungs-Hit „Sistas!“, der 2022 im 3. Stock der Volksbühne herauskam und mittlerweile auf die große Bühne umzog. Die identitätspolitischen Fragen verhandelt auch dieser Abend, allerdings mit mehr Zeit und Leichtigkeit, anhand einer Überschreibung des Tschechow-Klassikers „Drei Schwestern“.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/03/25/identitti-rezeptionista-deutsches-thester-berlin-kritik/
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