Zorn - An den Hamburger Kammerspielen inszeniert Harald Clemen die deutsche Erstaufführung des Stücks von Joanna Murray Smith
Auf der Suche nach den vergessenen Abgründen
von Katrin Ullmann
Hamburg, 7. September 2014. Zorn war immer ihr Antrieb, sagt Alice Harper (Jacqueline Macaulay) gleich zu Beginn. "Zorn", so lautet auch der Stücktitel von Joanna Murray Smiths jüngstem Werk "The Fury". Und der Name der radikalen Protestbewegung "The Fury", der sich Alice während ihrer Studentenzeit angeschlossen hat. Was am Anfang gesagt wird, deutet auf das spätere Verhängnis hin. Oder: Wenn in einer Geschichte eine Pistole auftaucht, muss sie auch abgefeuert werden.
Ein gut gebautes Kammmerspiel hat die australische Erfolgsdramatikerin geschrieben, Harald Clemen hat es an den Hamburger Kammerspielen zur deutschen Erstaufführung gebracht. In Murray Smiths Stück freut sich ein mehr als gutbürgerliches, intellektuelles Ehepaar in seinen besten Jahren über Erfolg, ein gelungenes Leben und seinen "wundervollen Jungen" Joe. Doch das Image ist nur so lange intakt, bis jener 16jährige Joe eine nahegelegene Moschee mit Grafitti besprüht. Kein Versehen, sondern ein ernst zu nehmendes und auch politisch motiviertes "Hass-Verbrechen", wie sich bald herausstellt. Die gut meinenden Eltern sind entsetzt. Der kleinkarierte Lehrer (Gerd Lukas Storzer) spricht vor, die Eltern des Mittäters kommen zu Besuch, und auch die merkwürdig überengagierte Journalistikstudentin Rebecca (Lena Dörrie) mischt die Familie auf. Angeblich will sie ein Porträt über Alice schreiben, die als erfolgreiche Neurowissenschaftlerin einen hochkarätigen Preis erhalten hat.
Die Geheimnisse der Vergangenheit
Die hartnäckige und so harmlos daherkommende Journalistin ist es auch, die den ungeheuren Aufruhr um Joes Tat mit einer viel brisanteren Geschichte aus Alices Vergangenheit vereitelt. Bald schon verhandeln die Figuren Schuld und Unschuld, Leidenschaft, Aktionismus und Radikalität und vor allem Liebe und Lebenslügen. Das Bild der heilen, politisch korrekten Familie, die einfach alles richtig gemacht hat, zerfällt.
Harald Clemen lässt die knappen Szenen vor einem hellgrauen Rundhorizont spielen, ein paar Freischwinger, ein Tisch und weiße Sitzkissen machen aus dem Raum wahlweise das Wohnzimmer der Harpers, das Schulbüro, ein Zimmer an der Universität. Edel, unprätentiös und vor allem variabel. In knapp zwei Stunden ist die Geschichte erzählt. Zwischendurch werden Fragen zu Ethik und Moral, zu Rassismus und Toleranz, Erziehung und Prägung aufgeworfen, und ganz zuletzt werfen dann die Geheimnisse der Vergangenheit natürlich die längsten Schatten. Die Dialoge sind knapp und alltagstauglich, die Pointen gut gesetzt und die Figuren in ihren Sorgen und Nöten absolut nachvollziehbar. Unfreiwillig und sofort denkt man an die Stücke von Yasmina Reza. Auch "Zorn" bietet unterhaltsames Schauspielerfutter vor tiefsinnigem Fonds.
Wohldosierte Figurenzeichnung
Clemen bleibt in seiner Regie durchweg realistisch, Glaubwürdigkeit scheint sein höchstes Ziel. Auch als die Mittäter-Eltern – ein Toyota-Schrauber und eine Friseurin (Ulrich Bähnk und Isabell Fischer) – mit halboffenem Mund und wuchtiger Körperlichkeit das Wohnzimmer der Harpers zu sprengen drohen, ist die Figurenzeichnung noch wohl dosiert. "Sie sind wohl nicht auf dem Laufenden … Sie haben den Kopf gesenkt und schreiben", geht Bob den erfolgreichen Patrik Harper einmal an. Und ja, Rufus Beck bewahrt Fassung. Er mimt weiterhin den eitlen, verständigen, aber gegen seine eigene Arroganz tapfer ankämpfenden Schriftsteller. Und wird doch am radikalsten handeln.
Clemen und Murray Smith scheinen – wie die Figuren im Stück – alles richtig zu machen. Solide und sortiert. Und doch, oder gerade deshalb bleiben Stück und Inszenierung recht distanziert, schmerzfrei und wutarm. Der Zorn, den Alice zu Anfang erwähnte, bleibt letztlich nur ein dramaturgisches Stichwort.
Zorn
von Joanna Murray Smith
Deutsch von John und Peter von Düffel
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Harald Clemen
, Bühne: Hans Richter, Kostüme: Claudia Kuhr.
Mit: Ulrich Bähnk, Jonathan Beck, Rufus Beck, Lena Dörrie, Isabell Fischer, Jacqueline Macaulay.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.hamburger-kammerspiele.de
Mit dem "Prädikat unbedingt sehenswert" versieht Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (9.8.2014) diese deutschsprachige Erstaufführung. Joanna Murray-Smith habe "in mehrfacher Hinsicht das Stück der Stunde" geschrieben, verhandele es doch alle "derzeit brennenden Themen – Religion, Rassismus, Extremismus, Familie, Selbstgerechtigkeit, Werte". Es handele sich um "ein spannendes, wortreiches, dabei schnell geschnittenes Konversationsstück". Bei Harald Clemen entstehe daraus "intensives, kluges Theater am Puls der Zeit" mit Schauspielern, die "bis in die Nebenrollen ein Glücksfall" seien. "Die Reibung zwischen der glatt inszenierten Oberfläche und den eruptiven Konflikten und Leidenschaften wirkt lange nach."
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Allerdings war Lena Dörrie als Journalistikstudentin Rebecca eine Leerstelle, die den Texte aufsagte, ohne ihn zu spielen und ihrer Rolle die unbedingt notwendige zweite Ebene nicht zu geben vermochte.
Meine Kritik betrifft die Vorstellung am 15.05. im Theater Marl (Ruhrfestspiele).