Schriftsteller und Bittsteller

von Michael Wolf

2. März 2021. Zunächst eine Anekdote: Claus Peymann probte am Burgtheater Peter Handkes Stück "Die Fahrt im Einbaum", als er auf eine verhängnisvolle Regieanweisung stieß: Ein Huhn überquert rückwärts die Bühne. Peymann beauftragte also seinen damaligen Assistenten Philip Tiedemann damit, das Unmögliche zu schaffen, nämlich ein Huhn zu besorgen, das eben das kann: rückwärts laufen. Als Tiedemann ohne Huhn zurückkehrte, soll Peymann einen Tobsuchtsanfall bekommen und die Proben für zwei Tage unterbrochen haben. Zur Premiere gab es dann tatsächlich ein zumindest scheinbar rückwärts laufendes Huhn zu sehen, das mit langem Szenenapplaus bedacht worden sei. Peter Handke hatte diesen Auftritt als Letzter erwartet, das Huhn sei nur eine Metapher gewesen, erklärte er später. Sein Regisseur aber hatte ihn beim Wort genommen.

Keine Erfüllungsgehilfen

"Die Fahrt im Einbaum" kam 1999 zur Uraufführung, diese Geschichte wirkt nicht nur deswegen wie aus einem anderen kolumne wolfJahrtausend. Cholerische Regisseure gibt es natürlich immer noch, aber es ist kaum vorstellbar, dass sie wegen einer Regieanweisung eine Produktion lahmlegten. Charakteristikum einer Regieanweisung ist heute kaum noch mehr als das kursive Schriftbild, ihre Verbindlichkeit hat sie eingebüßt. Besonders deutlich wird das, wenn Schauspieler sie sprechen, anstatt sie zu spielen. Nicht nur einfallslos kommt mir das stets vor, sondern wie eine trotzige Geste, als wollten Regie und Ensemble den Autor darauf hinweisen, dass sie der Anweisung des feinen Herrn Dramatikers natürlich nicht folgen, seien sie doch ganz sicher nicht seine Erfüllungsgehilfen.

Wohl auch wegen dieses Machtgefälles verschwinden Anweisungen aus den Stücken. Ein Autor erzählte mir einmal, er betrachte seine Stücke "als Briefe an die Regie". Ich finde diese Haltung allzu bescheiden, denn so gedacht wäre nicht der Text selbst schon etwas wert, und er würde sich auch nicht an ein Publikum richten, sondern erschiene nur als Material einer übergeordneten Instanz. Stücke wären dann weder Werke, noch hätten ihre Urheber einen Anspruch auf ästhetische Autonomie.

Der Autor als Lieferant

Wollen Autoren etwa gar keine Künstler mehr sein, zumindest keine Künstler im herkömmlichen Sinne des Wortes? Einiges deutet darauf hin. Vor allem in der jüngeren Generation ist es nicht nur üblich, auf Anweisungen zu verzichten, man arbeitet hier auch bereitwillig Stücke noch bis zur Premiere um, wenn die Regie es wünscht oder ein Schauspieler einen Satz nicht sagen möchte. Solche Autoren verstehen sich als Teil des Ensembles, ihre Stücke sind Angebote, so wie ihre Arbeit viel mehr in der Kommunikation mit anderen besteht, denn in der Schaffung eines Werks, das alle weitere Bemühungen erst in Gang setzt. Im besten Falle führt diese Arbeitsweise zu einem für alle Beteiligten bereichernden Ergebnis, im schlechteren wird das Schreiben entwertet, agieren Autoren nur noch als Textlieferanten, bei denen man sich etwas Passendes bestellen kann.

Natürlich hat das Schwinden von Regieanweisungen auch ästhetische Gründe. Das Theaterstück in dramatischer Tradition mit Figuren, Szenen und einer linearen Handlung ist lange schon nur noch eine Option, zudem eine, mit der man den Ruf eines Gestrigen riskiert. Auf die oft großen Publikumserfolge sogenannter well-made-plays blickt man im Betrieb mit Geringschätzung herab. Den Dekonstrukteuren und Zertrümmerern des Dramas darf man allerdings vorwerfen, dass sie zwar die alten Formen eindrucksvoll verabschiedet haben, jedoch kaum neue etablieren konnten. Das Drama war noch imstande, Anweisungen zu erteilen, weil in ihm bereits alles enthalten war: nicht nur Text, sondern auch Konflikt, Raum, Atmosphäre, Situation, Sound, Temperatur, Dynamik. Ein gutes Drama ist bereits gänzlich vorhanden, es muss nur noch geborgen werden, realisiert. Was hingegen unter dem – zugegeben sehr groben – Begriff der Textfläche firmiert, zeichnet sich durch eine Offenheit aus, durch die sich der Autor selbst entmachtet.

Eine Vorstellung davon, was werden soll

Die berühmteste Regieanweisung der letzten Jahrzehnte spricht Bände: Elfriede Jelineks Machen Sie damit, was Sie wollen! Gern wurde dieser Satz so verstanden, dass Jelinek um die unangreifbare Qualität ihrer Texte wisse. Ebenso gut kann man ihn aber auch als Rückzug verstehen, als flüchtete da eine Autorin aus dem Theater. Viele sind ihr seither gefolgt, indem sie szenische Fantasien der Regie überließen, sich für nicht zuständig oder kompetent erklärten. Es mangelt an Selbstbewusstsein, an Strenge, an Dringlichkeit, an Vorstellungen, die unbedingt Aufführung werden wollen. Niemand muss dafür zu Gustav Freytag zurückkehren, aber es wäre doch an der Zeit, wieder starke zeitgenössische Formen zu entwickeln, die nicht nur brav Stoff liefern, sondern an ihren eigenen Status als Literatur und als Kunstwerk glauben – und dessen Anerkennung offensiv einfordern.

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein. 

 

Die Autorin Sibylle Berg hat auf diese Kolumne geantwortet. Zu ihrem Text.

Zuletzt schrieb Michael Wolf über die überschätzte soziale Dimension des Theaters.

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Kommentare  
Kolumne Wolf: Haarscharfe Analyse
Eine haarscharfe Analyse der Bedeutung einer Regieanweisung im Drama und auch des Dramas als Textfläche, das die Regieanweisung in sich verbirgt. Das war auch lange Zeit sehr sinnvoll, um das Schauspiel und Spielformen weiterzuentwickeln. Man - also die DramatikerInnen - forderten das durch im Grunde eine Prosa heraus, die so starke Bilder enthielt, dass sie das Theater zum Darstellen verführte. Die Intendanzen durch vermeintlich besser als durch klassische Dramenform mögliche politische Intendierung, die RegisseurInnen durch Macht-Vermehrung, die SchauspielerInnen durch den verstärkten Anreiz für die persönliche Eitelkeit, sich aus dem Ensemble hervorheben zu können. Das war gut und sinnvoll in einer Zeit, in der dem Theater, dem es nach Revolution dürstete nur mehr Shakespeare einfiel. Und in dem die feinen Herren Regisseure die Damen Regisseurinnen noch geflissentlich ignorieren konnten oder als Frauen betrahcteten, die ihre liebreizende Fantasie zu ihrem männlichen Entzücken darauf genial verwendeten, den Kindern und ihren Freunden aus der Nachbarschaft zwischen Küchen- und Wohnzimmertür das Kasperletheater zu vollkommen neuen ästhetischen Höhen zu befördern. Und in der Zeit, als Ensemble als lebendige Gestaltungskörperschaften, die stets aufeinander bezogen miteinander arbeiteten ökonomisch als unangreifbar etabliert waren, weshalb der identiäre Schauspieler - und selbstverständlich auch die schauspielerin - im Grunde die Rettung der Theater finanzierenden Kommunen wurde. Was er/sie selbstverständlich im Entzücken über die hinzugewonnene vereinzelte Interpretationsmacht nicht mehr bedenken konnte...

Es ist aber schon lange nicht mehr als einzig wahre Dramenveränderung gültig. Das Theater hat es nur nicht gemerkt. Vielleicht hat es das auch gemerkt, aber schämt sich, dies einzugestehen. Weil. Das Theater möchte immer so gern dem Fuilleton gefallen. Und das Fuilleton liebt beharrlich und besonders laut Textflächen, denen man nun einmal leichter eine Genialität bescheinigen kann als langweilig gebauten neuen Dramen in relativ alter Form. Es ist auch viel schwerer in einer relativ alt ausschauenden zeitgenössischen Form das NEUE zu entdecken.
Man muss dann als Autor - zumindest als Autorin kann ich es für mich sagen, einigermaßen tapfer sein, wenn man zu sich und seiner selbstverfassten originären Dramamtik samt ihrer individuellen Form der Regieanweisung stehen will: Man muss die Dramatik dann immer wieder möglichst gelassen dem Theater via Intendanzen, RegisseurInnen oder auch Theaterverlagen das Zeug anbieten. Und wenn die das dann nicht wollen und dies auf mitunter überaus diskriminierende Weise zu verstehen geben, mit möglichst wenig Verachtung die Schultern zucken: Na dann eben nicht, ersauft doch in eurem eigenen arroganten Schmonz-

Natürlich macht man das nur, wenn man genug Selbstvertrauen als Dramatiker hat. Oder als Dramatikerin.
Andernfalls stellt man halt Förderanträge oder fragt bei der Bundeszentrale für politische Bildung nach, wie sies denn gerne aktuell hätte und bastelt dann halt an seiner ästhetischen Gesinnung bis zur Unkenntlichkeit der Komplexität des Individuums. - Herzlichen Glückwunsch, Theater.
Kolumne Wolf: nix reininterpretieren
In fehlende oder überbordende Regieanweisungen würde ich nix reininterpretieren. Regieanweisungen sind nötig, wenn die Textstelle ohne sie nicht zu verstehen wäre. Mehr nicht. Weniger auch nicht.
Kolumne Wolf: Widerspruch
Ich muss entschieden widersprechen, zumindest im Sinne einer Differenzierung! Bei Shakespeare gibt es in der Regel nur eine einzige Regieanweisung bzw. zwei: Tritt auf. Tritt ab. Den Rest schrieb er wie jeder gute Dichter in sein Stück hinein. Und steckt durch viele Hinweise ein Assoziationsfeld ab, das die Phantasie des Schauspielers und des Regisseurs entzündet, ohne ihn oder sie zu stark einzuengen. Indem er z.B. andere Figuren über jemanden sprechen lässt, was im Übrigen mindestens soviel über den Sprecher selbst verrät wie über den, der beschrieben wird. Das Zeitalter der scheinbar nicht realisierbaren Regieanweisungen beginnt vielleicht bei Kleist. Brennende Schlösser, reißende Wasser - da muss man sich schon was einfallen lassen. Oder auch Goethe in Faust II... Herausforderungen an den Theaterapparat wie auch an die Möglichkeit, theatralische Umsetzungen zu finden. Einen wunderbaren Höhepunkt findet das bei Heiner Müller... Eine ganz andere Blüte von Regieanweisungen findet man in amerikanischen Stücken. Hier handelt es sich oft um Transkriptionen der Uraufführung, um einem lesenden Publikum den Zugang zu erleichtern. Und spätestens hier gilt es, den Rat einer schon damals älteren Kollegin zu beherzigen: "Das erste, was du machst, wenn du ein Stück liest: Nimm dir einen dicken Edding und streiche die Regieanweisungen durch." Jeder Autor, jede Autorin hat eine Vision beim Schreiben. Muss sie haben. Die kann auch ganz konkret szenisch sein. Beim Proben ergeben sich aber ganz andere Umsetzungen, was von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. Und da stehen Regieanweisungen dann eben oft einfach im Weg. Das Peymannsche bzw. Handkesche Huhn gehört für mich nicht dazu. Das würde ich mal als stummen Auftritt bezeichnen... Kurz: Theater ist ein lebendiger Prozess. Und es war von jeher tendenziell ratsam, dem Autor den Zutritt zu den Proben zu verwehren. Nicht aus Missachtung. Sondern, um der Freiheit des schöpferischen Prozesses nicht von vornherein enge Grenzen zu setzen. Im Übrigen hat niemand so radikal in seinen eigenen Texten herumgefuhrwerkt wie Goethe. Er war eben auch Theaterpraktiker und wusste, dass eine Aufführung etwas anderes ist als ein geschriebenes Werk.
Kolumne Wolf: verhindert
Das ist richtig. Und daher kommt es auch, dass Regisseure mit ihrer Regie die Stücke so verändern, dass sie oft nicht wiederzuerkennen sind.
So geht es ihnen nicht so sehr um das Stück, wie der Dramatiker es
wollte, sondern um ihre Vorstellung, mit der sie das Stück überschreiben
und überzeichnen. Sollen doch die Regisseure ihre eigenen Stücke schreiben, diese verhinderten Stückeschreiber.
Kolumne Wolf: Instinkte
Es ist ja richtig und wichtig, dass RegisseurInnen eine Vorstellung haben von dem, was am besten für das jeweilige Stück ist: Welche Besetzung zum Beispiel. Was genau das Wichtigste im Moment an einer im Stück festgelegten kommunikativen Situation ist, die ja sozial(ökonomische) Verhältnisse präsentiert, sollte eine Regie sich ebenfalls vorstellen können. Wenn eine Regie aber schon beleidigt ist, wenn ein Autor - oder eine Autorin - vor-schreibt, welche erfundene Person in welcher Szene auf welche trifft (oder nicht), welche von den darstellbaren erfundenen Personen bereits anwesend ist auf der Szene und welche dazukommt oder sich entfernt, was durch ein Mindestmaß an Regieanweisung - wie z.B. bei Shakespeare - formal gesetzt werden kann... dann ist das nicht überbordendes Regie-Selbstbewusstsein oder Hang zum Überschreiben, sondern Idiotie auf hohem Niveau: Eine Regie - oder auch Dramaturgie oder Lektorat - die/das denkt: Ooch die Sprache ist ja irgendwie total geil - aber die Situationen so unerheblich, ist, jedenfalls was Dramatik anlangt, genauso instinktlos wie eine, die denkt: Ohman, tolle situative Ausgangslage, aber die Sprache passt irgendwie nicht, da hat sich der Autor - oder die Autorin - aber vollkommen vergaloppiert - Das eine geht nämlich aus dem jeweils anderen hervor. Jedenfalls in der Dramatik. Und dafür muss eine Regie, eine Dramaturgie und muss auch ein Lektorat auch ohne Autorengespräch INSTINKTE haben, andernfalls ist sie/es künstlerisch debil. Und mit einer Regie, einer Dramaturgie oder einem Lektorat, die/das k ü n s t l e r i s c h debil ist, kann weder der Dramentext, noch sein Autor - oder seine Autorin - etwas anfangen.

Ich finde das vollkommen in Ordnung, als Dramatikerin nicht in Proben anwesend zu sein, man sollte doch darauf vertrauen, dass man eine n e u e Herausforderung für das Theater geschrieben hat, mit der es sich herumschlagen sollte, möglichst wieder und wieder anders...
Dennoch finde ich es wichtig, bei einer URaufführung als Dramatikerin im ersten Leseprobendurchgang anwesend zu sein um Fragen beantworten zu können und später angefragt zu werden, wenn sich Text-Änderungen nötig machen durch die Arbeit der SchauspielerInnen. Nach der Uraufführung soll dann wirklich jeder machen, was er will mit dem Text.
Ich finde es auch vollkommen in Ordnung, wenn ein Theater mir einen Text zur Uraufführung direkt abkauft, ohne Verlag. Ich weiß echt nicht, was daran ein Problem sein soll, denn Theater haben in aller Regel gute Anwälte, die ja wohl Verträge machen können. Notfalls hab ich die übrigens auch-

PS: Natürlich schreibt man besonders als Dramatikerin u.a. Fuilleton "Feuilleton" und vollendet Sätze auch in Kommentaren ordentlich - nur nicht, wenn man gerade gar nicht besonders gelassen ist. Weil endlich mal ein Kritiker den Finger in eine sehr tiefe, aber gut kaschierte Theaterwunde gelegt hat und man auf sowas von Kritikerseite schon JAHRE wartet und seit bereits langer Zeit denkt, das erlebt man nicht mehr...:D
Kolumne Wolf: Druck des Systems
Stimme der Kolumne definitiv zu- allerdings muss der Genauigkeit halber allerdings vor allem auch erwähnt werden, dass diese teilweise sehr uninspirierte „Neue deutsche Dramatik“ ein Resultat des tiefsitzenden inneren Widerspruchs der Theaterleitungen und „renommierten“ -kritikerInnen ist, die seit mindestens 10 Jahren nach ersehnten neuen Formen etc rufen aber dabei ein wesentlichen Fakt ausblenden (ob aus Angst oder Demenz): das Medium Theater ist eine uralte, dem modischem Zeitfenster widerstandsfähige und (heute nicht mehr!!!) unmodische „Handarbeit“... Ein anderer unerwähnter Aspekt ist die Tatsache der zur Verfügung stechenden desolaten Arbeitszeit und -geld , die es letztlich beinahe unmöglich machen, das so heiß ersehnte „Neue“ überhaupt zu denken, geschweige denn zu entwickeln...
Zu Punkt 1: das Medium neu oder weiter denken wie Brecht und den Brecht dann weiter denken wie die Regisseure der alten Volksbühne Berlin, bedeutet vorallem ZEIT, Zeit in der man sich dann auch so „frei und hingebungsvoll“ diesem so wichtigem Prozess ausliefern kann- weil die Intendanz einen nicht nach drei erfolglosen Arbeiten fallen lässt und/ oder man in einem sozioökonomischen System lebt, wie noch vor Mauerfall...
Alle blicken in die Vergangenheit als die Volksbühne unter Castorf tatsächlich genau dieses Problem nie wirklich hatte aber dabei bleibt der Blick ständig in der ästhetischen Form hängen und verkennt dabei, dass diese tollen Arbeiten nur dadurch möglich waren, sich nicht dem Druck des Systems zu beugen und auf ziemlich selbstverständliche Art deutlich machen, dass Kunst und künstlerisches Schöpfen nicht funktionieren kann, wenn ihr Arbeitsprozess einer industriellen Produktionsweise angeglichen wird...
Zu Punkt 2: der oft erwähnte fehlende Mut bei „junger“ Regie und Autorenschaft darf die Feigheit oder meinetwegen auch das Desinteresse bzw der mangelhafte/ fehlende inhaltliche Austausch zwischen freien Künstlern und den festangestellten künstlerischen Leitungspersonen... Auch ist es tatsächlich ein Rätsel, warum der Aufschrei der TheatermitarbeiterInnen bei den Symptomen der Krise so laut und geballt daherkommt aber es verhältnismäßig ruhig bleibt, wenn es um die Frage nach wirklicher Qualität geht, die ja leidet, allein dass man in der Regel als unbekannter Künstler binnen ca 6 Wochen mit absolut fremden Menschen ein Erfolgsprodukt raushauen muss... Hinzu kommt dabei auch noch verschärft, dass IntendantInnen oftmals die ästhetisch gut plagiierten Epigonentegie und epigonalen AutorInnen teilweise gewünscht und gezüchtet werden- unausgesprochen zieht man dann stillschweigend folgendes Fazit: je weniger Überzeugungen und zu Erzählen man hat desto besser, heute muss man nur wissen wie man seine Ideen verpackt und verkauft...

Und noch ein letztes:
Regieanweisungen sind absolut grundlegend wichtig, die muss man nämlich auch erstmal wirklich lesen, verstehen um erstmal die Zusammenhänge (wie sie gemeint waren) von Situationen/ Raum und Mensch in ihrem Verhältnis zueinander zu sehen... Erst danach macht es Sinn die Anweisung frei zu behandeln und diese Behandlung zumindest nicht bloß heiße Luft produziert sondern vielleicht die ein oder andere Erkenntniss... Dabei glaube ich aber nicht nur, dass das allein was mit einer Pose der „Coolness“ zu tun hat, sondern schlichtweg vorallem auch damit, dass Stücke nicht mehr präzise gelesen werden und der gedankliche Umgang mit Literatur bei „jungen“ DramaturgInnen, RegisseuInnen und AutorInnen ist definitiv wesentlich begrenzter ausfällt als zur Zeiten, da sich das Theater immer den Mut bewahren konnte Themen zu verhandeln und sich selbst dabei absolut angreifbar zu machen... Die Moralpolizei in den eigenen Reihen war wesentlich geringer...
Kolumne Wolf: früher
ach ja ... früher ... man besuchte theater ...
und stritt sich sogar ... über texte ...
ich habe davon gehört.
Kolumne Wolf: fruchtbar
Wow! Was für eine fruchtbare und dabei immer faire Diskussion, auf Feldern noch weit jenseits des engeren Themas. Mehr kann man mit einer Kolumne doch gar nicht erreichen. Glückwunsch!
Kolumne Wolf: Hoffnung
@#7 genau... und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass das wiederkommt: Theaterbesuche, Streit, Texte!
Kolumne Wolf: kein Huhn
Lieber Michael Wolf,
Manches wird nicht geschrieben, Manches wird nicht gelesen und Manches werid nicht richtig kolportiert: In Handkes "Die Fahrt im Einbaum" gibt es keine Regieanweisung vom rückwärts laufenden Huhn - und bei den Proben gab es keinen Assistenten Tiedemann. Aber bei des Autors "zurüstungen für die Unsterblichkeit" (1997) war ich Regieassistent, und neben vielen bizarren Regieanweisungen Handkes tritt dort ein König mit Huhn auf, der erschossen wird und das Huhn soll davonlaufen. Aber unser Huhn folgte weder den Anweisungen von Handke noch von Peymann. Das waren wahrlich herausfordernde Tage auf der Probe; es kam aber zu keiner 2-Tages-Unterbrechung, wie Sie schreiben (ich hätte gerne eine Pause gehabt...).
Immerhin fand auch diese UA auf der großen Bühne Burgtheater statt (wie "Einbaum") - siehe Sibylle-Berg-Text. Auch später, in der Bachler-Zeit, durfte ich dort "Die Zeit der Plancks" (Sergi Belbel) erstaufführen (ÖE), da begegnet sich die junge Tochter am Schluss selbst: Der Autor hatte in Barcelona Zwillinge zur Verfügung...
Ich finde Ihre Fragestellung sehr interessant und die Diskussion erhellend!
Kolumne Wolf: nicht das Problem
... Regieanweisungen? Wirklich? Welche bei den Griechen? Welche bei Shakespeare und seinen Co-Elisabethanern? Welche bei Racine oder Molière? Welche bei Brecht? An Wolfs Artikel schockiert mich nur, dass der Mann am Theater arbeitet. Die Regieanweisungen oder ihre Abwesenheit sind jedenfalls noch nicht einmal Teil des Problems. Der nach wie vor aktuellste Text über die Probleme der Entstehung von Theater zwischen Schreiben und Spielen ist immer noch das IMPROMPTU DE VERSAILLES von Molière. Und wenn ein zeitgenössischer Autor wie etwa Christophe Pellet findet, dass ein Spatz auf die Bühne muss, dann schreibt er eben eine Regieanweisung, die eine Zeile kaum überschreitet. Auch Taboris Huhn Mizzi brauchte nicht mehr Platz. Der Regieanweisungen bedarf es nur dann, wenn sie etwas transportieren, was der Dialog nicht transportiert.
Kolumne Wolf: kein Huhn
Lieber Herr Tiedemann,

danke für Ihre Richtigstellung, es klingt, als sei die tatsächliche Geschichte nicht weniger erzählenswert als die Anekdote. Ich habe diese übrigens von Michael Maertens: https://www.sueddeutsche.de/kultur/claus-peymann-wird-80-er-nennt-es-leidenschaft-1.3535299-2

Viele Grüße
Michael Wolf
Kolumne Wolf: noch eine Anekdote
@#11: Da ich vier Jahre lang in Taboris "Mein Kampf" spielen durfte, könnte ich allein über das Huhn Bände schreiben... Tabori wusste eben, wie man als Autor Sprengsätze in der Theaterarbeit installiert, auch in der eigenen... Heute von mir nur eine Anekdote zum Diskurs, diesmal aus dem Bereich der Musik: Der Komponist Wilfried Hiller beschrieb einmal, warum er in seine Partituren komplizierte italienische Anweisungen schreibt, die auf Anhieb niemand versteht: "Da muss der Dirigent dann aufstehen, um das italienische Wörterbuch zu holen und nachzuschlagen. Und auf dem Weg zurück zum Schreibtisch überlegt er sich, was ich wohl mit meiner Anweisung gemeint habe." Was dies allerdings im digitalen Zeitalter bedeutet, wurde nicht überliefert.
Kolumne Wolf: Kafka
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Ich weiß nicht mehr wer es geschrieben hat:
Franz Kafka schrieb seine Erzählungen in rätselhafter Parabelform,
um den Leser dahin zu bringen, die Erzählung zweimal, oder noch öfter
zu lesen, und sich Gedanken über sie zu machen.
Kolumne Wolf: Gibt zu denken
Man könnte ja meinen, dass Sybille Berg zu Michael Wolfs Kolumne alles Wesentliche gesagt habe. Und man könnte es vielleicht auch zu schätzen wissen, dass sie Ihre Einsprüche in diese schönen, ironisch hingetuschten Bilder gepackt hat, für die ich sie liebe. Ich selbst spare es mir deshalb, meinen eigenen Widerspruch gegen Wolfs Botho-Strauß-artiges Geschwurbel über den Zusammenhang von Regieanweisung und Kunst näher auszuführen – wobei man den Alten aus der Uckermark gegen solchen Epigonen wohl fast noch verteidigen möchte..

Was mir aber doch noch kommentierenswert erscheint, sind die Argumentationsweisen des Kolumnisten und Redakteurs, die eine Verelendung der feuilletonistischen Diskurse dokumentieren.

Erstens: Niemandem scheint aufzufallen (oder zu stören), dass der Kolumnist seine Überlegungen an einer ekligen Anekdote über einen ekligen Vorgang aufhängt, die er mit einem Unterton der Bewunderung für den Spielvogt Peymann im Vollbesitz seiner feudalen Kunstmacht an der Burg erzählt: Wie dieser in all seiner Grandiosität seinem Assistenten ein Ding der Unmöglichkeit abverlangt und ihn – im Angesicht des folgerichtigen Scheiterns - nach Strich und Faden demütigt: Tobsuchtsanfall und zwei Tage Unterbrechung der Arbeit!

Solange solche Erzählungen noch als verklärende Kantinengeschichten unkommentiert durchgehen, ist der Feudalismus im deutschen Theaterwesen noch längst nicht überwunden. Widerspruchslos wird die lustige Anekdote als Aufhänger für die Argumentation hingenommen, das Verschwinden ernst zu nehmender Regieanweisungen sei ein Indiz für das Vergehen des Kunstwillens von Autor*innen, die sich damit dem gewachsenen Bedarf an regiefreundlicher Gebrauchsliteratur anpassen würden. Weder die Redaktion noch die Blog-Kommentator*innen erinnern sich offenbar an die auf Nachtkritik breit geführten Debatten um Machtmissbrauch am Theater im Zusammenhang der Studie von Thomas Schmidt oder die Vorwürfe an den Karlsruher Generalintendanten Spuhler. Das gibt zu denken – über die Ernsthaftigkeit, mit der diese „Debatten“ hier geführt werden.

Zweitens: Dass mit der Intervention von Philip Tiedemann die Peymann-Anekdote als fake news entlarvt wird, scheint ebenfalls niemanden zu stören – schon gar nicht den Kolumnisten selbst, dem das, meinem Verständnis von Journalismus nach, doch wohl höchst peinlich sein müsste – hat er doch für seine Pointe darauf verzichtet, seine Aufhänger-Geschichte gegenzuchecken. Und zu allem Überfluss hat er seine Anekdote, die er in Auskenner-Manier süffig präsentiert, auch noch ohne Quellenangabe einfach abgekupfert, wie er mit der Mitteilung ihrer Herkunft (aus der Süddeutschen Zeitung) zu erkennen gibt, nachdem ihn Philip Tiedemann aufgeklärt hat. (Dass Tiedemann der ausgelösten „Diskussion“ dann noch ehrfürchtig seine Reverenz erweist, macht es auch nicht gerade schöner.) Und dass der Kolumnist dessen Hinweis dann auch noch lässig als Befeuerung seiner Nonchalance beim Umgang mit der Wirklichkeit kommentiert, lässt auf ein ziemlich verkorkstes Berufsverständnis schließen.

Was mich drittens zu der Vermutung führt, dass das Redaktionskollegium von Nachtkritik womöglich doch nicht viel mehr ist als eine Zweckgemeinschaft von Meinungsproduzent*innen, die einander gewähren lassen, mag es auch noch so abstrus oder monströs sein, was ihnen da durch die Spalten rauscht.
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