Kolumne Als ob: Michael Wolf über das verräterische Verschwinden der Regieanweisungen
Schriftsteller und Bittsteller
von Michael Wolf
2. März 2021. Zunächst eine Anekdote: Claus Peymann probte am Burgtheater Peter Handkes Stück "Die Fahrt im Einbaum", als er auf eine verhängnisvolle Regieanweisung stieß: Ein Huhn überquert rückwärts die Bühne. Peymann beauftragte also seinen damaligen Assistenten Philip Tiedemann damit, das Unmögliche zu schaffen, nämlich ein Huhn zu besorgen, das eben das kann: rückwärts laufen. Als Tiedemann ohne Huhn zurückkehrte, soll Peymann einen Tobsuchtsanfall bekommen und die Proben für zwei Tage unterbrochen haben. Zur Premiere gab es dann tatsächlich ein zumindest scheinbar rückwärts laufendes Huhn zu sehen, das mit langem Szenenapplaus bedacht worden sei. Peter Handke hatte diesen Auftritt als Letzter erwartet, das Huhn sei nur eine Metapher gewesen, erklärte er später. Sein Regisseur aber hatte ihn beim Wort genommen.
Keine Erfüllungsgehilfen
"Die Fahrt im Einbaum" kam 1999 zur Uraufführung, diese Geschichte wirkt nicht nur deswegen wie aus einem anderen Jahrtausend. Cholerische Regisseure gibt es natürlich immer noch, aber es ist kaum vorstellbar, dass sie wegen einer Regieanweisung eine Produktion lahmlegten. Charakteristikum einer Regieanweisung ist heute kaum noch mehr als das kursive Schriftbild, ihre Verbindlichkeit hat sie eingebüßt. Besonders deutlich wird das, wenn Schauspieler sie sprechen, anstatt sie zu spielen. Nicht nur einfallslos kommt mir das stets vor, sondern wie eine trotzige Geste, als wollten Regie und Ensemble den Autor darauf hinweisen, dass sie der Anweisung des feinen Herrn Dramatikers natürlich nicht folgen, seien sie doch ganz sicher nicht seine Erfüllungsgehilfen.
Wohl auch wegen dieses Machtgefälles verschwinden Anweisungen aus den Stücken. Ein Autor erzählte mir einmal, er betrachte seine Stücke "als Briefe an die Regie". Ich finde diese Haltung allzu bescheiden, denn so gedacht wäre nicht der Text selbst schon etwas wert, und er würde sich auch nicht an ein Publikum richten, sondern erschiene nur als Material einer übergeordneten Instanz. Stücke wären dann weder Werke, noch hätten ihre Urheber einen Anspruch auf ästhetische Autonomie.
Der Autor als Lieferant
Wollen Autoren etwa gar keine Künstler mehr sein, zumindest keine Künstler im herkömmlichen Sinne des Wortes? Einiges deutet darauf hin. Vor allem in der jüngeren Generation ist es nicht nur üblich, auf Anweisungen zu verzichten, man arbeitet hier auch bereitwillig Stücke noch bis zur Premiere um, wenn die Regie es wünscht oder ein Schauspieler einen Satz nicht sagen möchte. Solche Autoren verstehen sich als Teil des Ensembles, ihre Stücke sind Angebote, so wie ihre Arbeit viel mehr in der Kommunikation mit anderen besteht, denn in der Schaffung eines Werks, das alle weitere Bemühungen erst in Gang setzt. Im besten Falle führt diese Arbeitsweise zu einem für alle Beteiligten bereichernden Ergebnis, im schlechteren wird das Schreiben entwertet, agieren Autoren nur noch als Textlieferanten, bei denen man sich etwas Passendes bestellen kann.
Natürlich hat das Schwinden von Regieanweisungen auch ästhetische Gründe. Das Theaterstück in dramatischer Tradition mit Figuren, Szenen und einer linearen Handlung ist lange schon nur noch eine Option, zudem eine, mit der man den Ruf eines Gestrigen riskiert. Auf die oft großen Publikumserfolge sogenannter well-made-plays blickt man im Betrieb mit Geringschätzung herab. Den Dekonstrukteuren und Zertrümmerern des Dramas darf man allerdings vorwerfen, dass sie zwar die alten Formen eindrucksvoll verabschiedet haben, jedoch kaum neue etablieren konnten. Das Drama war noch imstande, Anweisungen zu erteilen, weil in ihm bereits alles enthalten war: nicht nur Text, sondern auch Konflikt, Raum, Atmosphäre, Situation, Sound, Temperatur, Dynamik. Ein gutes Drama ist bereits gänzlich vorhanden, es muss nur noch geborgen werden, realisiert. Was hingegen unter dem – zugegeben sehr groben – Begriff der Textfläche firmiert, zeichnet sich durch eine Offenheit aus, durch die sich der Autor selbst entmachtet.
Eine Vorstellung davon, was werden soll
Die berühmteste Regieanweisung der letzten Jahrzehnte spricht Bände: Elfriede Jelineks Machen Sie damit, was Sie wollen! Gern wurde dieser Satz so verstanden, dass Jelinek um die unangreifbare Qualität ihrer Texte wisse. Ebenso gut kann man ihn aber auch als Rückzug verstehen, als flüchtete da eine Autorin aus dem Theater. Viele sind ihr seither gefolgt, indem sie szenische Fantasien der Regie überließen, sich für nicht zuständig oder kompetent erklärten. Es mangelt an Selbstbewusstsein, an Strenge, an Dringlichkeit, an Vorstellungen, die unbedingt Aufführung werden wollen. Niemand muss dafür zu Gustav Freytag zurückkehren, aber es wäre doch an der Zeit, wieder starke zeitgenössische Formen zu entwickeln, die nicht nur brav Stoff liefern, sondern an ihren eigenen Status als Literatur und als Kunstwerk glauben – und dessen Anerkennung offensiv einfordern.
Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.
Die Autorin Sibylle Berg hat auf diese Kolumne geantwortet. Zu ihrem Text.
Zuletzt schrieb Michael Wolf über die überschätzte soziale Dimension des Theaters.
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Es ist aber schon lange nicht mehr als einzig wahre Dramenveränderung gültig. Das Theater hat es nur nicht gemerkt. Vielleicht hat es das auch gemerkt, aber schämt sich, dies einzugestehen. Weil. Das Theater möchte immer so gern dem Fuilleton gefallen. Und das Fuilleton liebt beharrlich und besonders laut Textflächen, denen man nun einmal leichter eine Genialität bescheinigen kann als langweilig gebauten neuen Dramen in relativ alter Form. Es ist auch viel schwerer in einer relativ alt ausschauenden zeitgenössischen Form das NEUE zu entdecken.
Man muss dann als Autor - zumindest als Autorin kann ich es für mich sagen, einigermaßen tapfer sein, wenn man zu sich und seiner selbstverfassten originären Dramamtik samt ihrer individuellen Form der Regieanweisung stehen will: Man muss die Dramatik dann immer wieder möglichst gelassen dem Theater via Intendanzen, RegisseurInnen oder auch Theaterverlagen das Zeug anbieten. Und wenn die das dann nicht wollen und dies auf mitunter überaus diskriminierende Weise zu verstehen geben, mit möglichst wenig Verachtung die Schultern zucken: Na dann eben nicht, ersauft doch in eurem eigenen arroganten Schmonz-
Natürlich macht man das nur, wenn man genug Selbstvertrauen als Dramatiker hat. Oder als Dramatikerin.
Andernfalls stellt man halt Förderanträge oder fragt bei der Bundeszentrale für politische Bildung nach, wie sies denn gerne aktuell hätte und bastelt dann halt an seiner ästhetischen Gesinnung bis zur Unkenntlichkeit der Komplexität des Individuums. - Herzlichen Glückwunsch, Theater.
So geht es ihnen nicht so sehr um das Stück, wie der Dramatiker es
wollte, sondern um ihre Vorstellung, mit der sie das Stück überschreiben
und überzeichnen. Sollen doch die Regisseure ihre eigenen Stücke schreiben, diese verhinderten Stückeschreiber.
Ich finde das vollkommen in Ordnung, als Dramatikerin nicht in Proben anwesend zu sein, man sollte doch darauf vertrauen, dass man eine n e u e Herausforderung für das Theater geschrieben hat, mit der es sich herumschlagen sollte, möglichst wieder und wieder anders...
Dennoch finde ich es wichtig, bei einer URaufführung als Dramatikerin im ersten Leseprobendurchgang anwesend zu sein um Fragen beantworten zu können und später angefragt zu werden, wenn sich Text-Änderungen nötig machen durch die Arbeit der SchauspielerInnen. Nach der Uraufführung soll dann wirklich jeder machen, was er will mit dem Text.
Ich finde es auch vollkommen in Ordnung, wenn ein Theater mir einen Text zur Uraufführung direkt abkauft, ohne Verlag. Ich weiß echt nicht, was daran ein Problem sein soll, denn Theater haben in aller Regel gute Anwälte, die ja wohl Verträge machen können. Notfalls hab ich die übrigens auch-
PS: Natürlich schreibt man besonders als Dramatikerin u.a. Fuilleton "Feuilleton" und vollendet Sätze auch in Kommentaren ordentlich - nur nicht, wenn man gerade gar nicht besonders gelassen ist. Weil endlich mal ein Kritiker den Finger in eine sehr tiefe, aber gut kaschierte Theaterwunde gelegt hat und man auf sowas von Kritikerseite schon JAHRE wartet und seit bereits langer Zeit denkt, das erlebt man nicht mehr...:D
Zu Punkt 1: das Medium neu oder weiter denken wie Brecht und den Brecht dann weiter denken wie die Regisseure der alten Volksbühne Berlin, bedeutet vorallem ZEIT, Zeit in der man sich dann auch so „frei und hingebungsvoll“ diesem so wichtigem Prozess ausliefern kann- weil die Intendanz einen nicht nach drei erfolglosen Arbeiten fallen lässt und/ oder man in einem sozioökonomischen System lebt, wie noch vor Mauerfall...
Alle blicken in die Vergangenheit als die Volksbühne unter Castorf tatsächlich genau dieses Problem nie wirklich hatte aber dabei bleibt der Blick ständig in der ästhetischen Form hängen und verkennt dabei, dass diese tollen Arbeiten nur dadurch möglich waren, sich nicht dem Druck des Systems zu beugen und auf ziemlich selbstverständliche Art deutlich machen, dass Kunst und künstlerisches Schöpfen nicht funktionieren kann, wenn ihr Arbeitsprozess einer industriellen Produktionsweise angeglichen wird...
Zu Punkt 2: der oft erwähnte fehlende Mut bei „junger“ Regie und Autorenschaft darf die Feigheit oder meinetwegen auch das Desinteresse bzw der mangelhafte/ fehlende inhaltliche Austausch zwischen freien Künstlern und den festangestellten künstlerischen Leitungspersonen... Auch ist es tatsächlich ein Rätsel, warum der Aufschrei der TheatermitarbeiterInnen bei den Symptomen der Krise so laut und geballt daherkommt aber es verhältnismäßig ruhig bleibt, wenn es um die Frage nach wirklicher Qualität geht, die ja leidet, allein dass man in der Regel als unbekannter Künstler binnen ca 6 Wochen mit absolut fremden Menschen ein Erfolgsprodukt raushauen muss... Hinzu kommt dabei auch noch verschärft, dass IntendantInnen oftmals die ästhetisch gut plagiierten Epigonentegie und epigonalen AutorInnen teilweise gewünscht und gezüchtet werden- unausgesprochen zieht man dann stillschweigend folgendes Fazit: je weniger Überzeugungen und zu Erzählen man hat desto besser, heute muss man nur wissen wie man seine Ideen verpackt und verkauft...
Und noch ein letztes:
Regieanweisungen sind absolut grundlegend wichtig, die muss man nämlich auch erstmal wirklich lesen, verstehen um erstmal die Zusammenhänge (wie sie gemeint waren) von Situationen/ Raum und Mensch in ihrem Verhältnis zueinander zu sehen... Erst danach macht es Sinn die Anweisung frei zu behandeln und diese Behandlung zumindest nicht bloß heiße Luft produziert sondern vielleicht die ein oder andere Erkenntniss... Dabei glaube ich aber nicht nur, dass das allein was mit einer Pose der „Coolness“ zu tun hat, sondern schlichtweg vorallem auch damit, dass Stücke nicht mehr präzise gelesen werden und der gedankliche Umgang mit Literatur bei „jungen“ DramaturgInnen, RegisseuInnen und AutorInnen ist definitiv wesentlich begrenzter ausfällt als zur Zeiten, da sich das Theater immer den Mut bewahren konnte Themen zu verhandeln und sich selbst dabei absolut angreifbar zu machen... Die Moralpolizei in den eigenen Reihen war wesentlich geringer...
und stritt sich sogar ... über texte ...
ich habe davon gehört.
Manches wird nicht geschrieben, Manches wird nicht gelesen und Manches werid nicht richtig kolportiert: In Handkes "Die Fahrt im Einbaum" gibt es keine Regieanweisung vom rückwärts laufenden Huhn - und bei den Proben gab es keinen Assistenten Tiedemann. Aber bei des Autors "zurüstungen für die Unsterblichkeit" (1997) war ich Regieassistent, und neben vielen bizarren Regieanweisungen Handkes tritt dort ein König mit Huhn auf, der erschossen wird und das Huhn soll davonlaufen. Aber unser Huhn folgte weder den Anweisungen von Handke noch von Peymann. Das waren wahrlich herausfordernde Tage auf der Probe; es kam aber zu keiner 2-Tages-Unterbrechung, wie Sie schreiben (ich hätte gerne eine Pause gehabt...).
Immerhin fand auch diese UA auf der großen Bühne Burgtheater statt (wie "Einbaum") - siehe Sibylle-Berg-Text. Auch später, in der Bachler-Zeit, durfte ich dort "Die Zeit der Plancks" (Sergi Belbel) erstaufführen (ÖE), da begegnet sich die junge Tochter am Schluss selbst: Der Autor hatte in Barcelona Zwillinge zur Verfügung...
Ich finde Ihre Fragestellung sehr interessant und die Diskussion erhellend!
danke für Ihre Richtigstellung, es klingt, als sei die tatsächliche Geschichte nicht weniger erzählenswert als die Anekdote. Ich habe diese übrigens von Michael Maertens: https://www.sueddeutsche.de/kultur/claus-peymann-wird-80-er-nennt-es-leidenschaft-1.3535299-2
Viele Grüße
Michael Wolf
Ich weiß nicht mehr wer es geschrieben hat:
Franz Kafka schrieb seine Erzählungen in rätselhafter Parabelform,
um den Leser dahin zu bringen, die Erzählung zweimal, oder noch öfter
zu lesen, und sich Gedanken über sie zu machen.
Was mir aber doch noch kommentierenswert erscheint, sind die Argumentationsweisen des Kolumnisten und Redakteurs, die eine Verelendung der feuilletonistischen Diskurse dokumentieren.
Erstens: Niemandem scheint aufzufallen (oder zu stören), dass der Kolumnist seine Überlegungen an einer ekligen Anekdote über einen ekligen Vorgang aufhängt, die er mit einem Unterton der Bewunderung für den Spielvogt Peymann im Vollbesitz seiner feudalen Kunstmacht an der Burg erzählt: Wie dieser in all seiner Grandiosität seinem Assistenten ein Ding der Unmöglichkeit abverlangt und ihn – im Angesicht des folgerichtigen Scheiterns - nach Strich und Faden demütigt: Tobsuchtsanfall und zwei Tage Unterbrechung der Arbeit!
Solange solche Erzählungen noch als verklärende Kantinengeschichten unkommentiert durchgehen, ist der Feudalismus im deutschen Theaterwesen noch längst nicht überwunden. Widerspruchslos wird die lustige Anekdote als Aufhänger für die Argumentation hingenommen, das Verschwinden ernst zu nehmender Regieanweisungen sei ein Indiz für das Vergehen des Kunstwillens von Autor*innen, die sich damit dem gewachsenen Bedarf an regiefreundlicher Gebrauchsliteratur anpassen würden. Weder die Redaktion noch die Blog-Kommentator*innen erinnern sich offenbar an die auf Nachtkritik breit geführten Debatten um Machtmissbrauch am Theater im Zusammenhang der Studie von Thomas Schmidt oder die Vorwürfe an den Karlsruher Generalintendanten Spuhler. Das gibt zu denken – über die Ernsthaftigkeit, mit der diese „Debatten“ hier geführt werden.
Zweitens: Dass mit der Intervention von Philip Tiedemann die Peymann-Anekdote als fake news entlarvt wird, scheint ebenfalls niemanden zu stören – schon gar nicht den Kolumnisten selbst, dem das, meinem Verständnis von Journalismus nach, doch wohl höchst peinlich sein müsste – hat er doch für seine Pointe darauf verzichtet, seine Aufhänger-Geschichte gegenzuchecken. Und zu allem Überfluss hat er seine Anekdote, die er in Auskenner-Manier süffig präsentiert, auch noch ohne Quellenangabe einfach abgekupfert, wie er mit der Mitteilung ihrer Herkunft (aus der Süddeutschen Zeitung) zu erkennen gibt, nachdem ihn Philip Tiedemann aufgeklärt hat. (Dass Tiedemann der ausgelösten „Diskussion“ dann noch ehrfürchtig seine Reverenz erweist, macht es auch nicht gerade schöner.) Und dass der Kolumnist dessen Hinweis dann auch noch lässig als Befeuerung seiner Nonchalance beim Umgang mit der Wirklichkeit kommentiert, lässt auf ein ziemlich verkorkstes Berufsverständnis schließen.
Was mich drittens zu der Vermutung führt, dass das Redaktionskollegium von Nachtkritik womöglich doch nicht viel mehr ist als eine Zweckgemeinschaft von Meinungsproduzent*innen, die einander gewähren lassen, mag es auch noch so abstrus oder monströs sein, was ihnen da durch die Spalten rauscht.