Schöner Etikettenschwindel

24. Oktober 2023. Das Schreiben unter Pseudonymen gehört im Literaturbetrieb dazu. Im Theater trifft man dagegen vergleichsweise selten auf unbekannte Namen hinter großen Werken. Eigentlich schade, denn die geschickte Täuschung würde manche Gewissheiten gehörig durchschütteln.

Von Wolfgang Behrens

24. Oktober 2023. Als ich noch ein Kritiker war, wurde einmal – 2015 war es – beim Heidelberger Stückemarkt ein Stück mit dem wundersam anspielungsfreudigen Titel "Wunderungen durch die Mark Uckermark" für den Autorenwettbewerb eingeladen. Der Text stammte von einem Verfasser (Achtung! generisches Maskulinum!), dessen Name mit Lisa Engel angegeben war, von dem aber nur bekannt war, dass ebendieser Name ein Pseudonym sei. 

Keine Unbefangenheit

Was logischerweise sofort der Spekulation Tür und Tor öffnete: Man munkelte, das Stück habe möglicherweise der Leiter des Theaterverlags geschrieben, der es eingereicht hatte. Oder vielleicht sogar – manche Kaffeesatzleser:innen glaubten das scharfsinnig aus dem Wort Uckermark im Titel ableiten zu können – Botho Strauß (was natürlich ein unglaublich raffiniertes Versteckspiel gewesen wäre: ungefähr so, wie wenn ich mit einem Stück "Als ich noch eine Kritikerin war" unter dem Namen Lisa von Wiesbaden antreten würde).

Die "Wunderungen" gingen bei der Preisverleihung schließlich leer aus (und sie wurden leider bislang auch nicht uraufgeführt). Trotzdem stellt sich die Frage, ob sie als anonymes Werk anders bewertet wurden, als wenn tatsächlich – sagen wir: Botho Strauß auf dem Deckblatt gestanden hätte. Wahrscheinlich hätte dann erst recht das große Fragen eingesetzt: Warum nimmt jemand wie Strauß am Stückemarkt teil? Wie könnte man den Text in Strauß' Gesamtœuvre einordnen? Ist er ein typischer Strauß oder eher nicht? Das Etikett "Strauß" hätte die Rezeption des Textes entschieden verändert – die Unbefangenheit von Jury und Kritiker:innen, die sie einer unbekannten Autorin gegenüber vermutlich aufgebracht hätten, wäre sofort dahin gewesen. Ob die Verfasserin / der Verfasser der "Wunderungen" darauf hoffte, eine solche Unbefangenheit wiederherstellen zu können, muss offen bleiben.

Der Fall "Luciana Glaser"

Experimente, welche die kritische Öffentlichkeit auf ähnliche Weise mit einem Pseudonym zu narren versuchen, sind gar nicht so selten. Stephen King etwa veröffentlichte mehrere Romane unter dem Namen Richard Bachman, um zu testen, ob sie auch ohne das Label "King" ein Erfolg würden (sie wurden es, aber der Erfolg wurde noch ungleich größer, als man die Identität der beiden Autoren feststellte). Der Philosoph Peter Bieri schrieb seine belletristischen Bücher (darunter den Bestseller "Der Nachtzug nach Lissabon") unter dem Pseudonym Pascal Mercier, weil er unabhängig von seiner eigentlichen Profession als Schriftsteller wahrgenommen werden wollte (hat nur so mittel geklappt, weil das Geheimnis doch sehr schnell gelüftet wurde). Das sind immerhin zwei Autoren, denen man lautere Motive für ihre Maskerade unterstellen darf.

Etwas anders sieht es bei einem Fall aus, der vor über drei Jahrzehnten kurzzeitig für Erregung in der Literaturszene sorgte. Mehrere Kritiker:innen feierten damals, 1990, das erzählerische Debüt "Winterende" einer aus Rovereto stammenden jungen Deutschitalienierin namens Luciana Glaser. Groß war dann freilich das Augenreiben, als sich herausstellte, dass sich hier in Wirklichkeit ein – wie Willi Winkler damals im "Spiegel" schrieb – "glückloser, weil redlich um die 'Europäische Moderne' bemühter Autor" hingesetzt hatte, um "ein Buch in simpler, frauenbewegter Prosa zum Riesenerfolg" zu sülzen.

Im Theater kaum möglich

Der Mann, der hinter Luciana Glaser steckte, war der Schriftsteller Walter Klier: Er hatte sich vorgenommen, ein vermeintliches Phänomen zu entlarven, für das man (später?) das hässliche Wort "literarisches Fräuleinwunder" verwendete, und produzierte mit "Winterende" nach eigenem Bekunden "jene Sorte von hochgestochener Trivialität, auf die das deutsche Literaturbewusstsein, das Trivialität höchst verabscheut, gerne hereinfällt". Die Biografielegende samt der angeblich weiblichen Schreibweise gehörte selbstverständlich zum Kalkül.

Die Lehre, die aus diesen Exempeln gezogen werden kann, ist im Grunde banal: Der Glaube mancher Kritiker:innen (und man darf hier getrost Dramaturg:innen, Lektor:innen und wen auch immer hinzuzählen), sie könnten die ästhetischen Gegenstände völlig unabhängig von den ihnen anhaftenden Etiketten beurteilen, ist irrig. Und es ist fast schade, dass ein Etikettenschwindel im Theater gar nicht so leicht zu haben ist, denn ich wäre schon neugierig, was passieren würde, wenn etwa auf Inszenierungen von Regieanfänger:innen bekannte Namen stünden. Oder interessanter noch: wenn bekannte Regisseur:innen, am besten noch in der sogenannten Provinz, unter dem Namen Lisa Engel inszenieren würden. Wie würden die Kritiken ohne Vorschusslorbeeren ausfallen? Vielleicht würden die eine oder der andere dabei ja einige Wunderungen erleben …

Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war

Wolfgang Behrens

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 am Staatstheater Wiesbaden tätig - zunächst als Dramaturg, inzwischen als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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Kommentare  
Kolumne Behrens: PseudonYma
Lieber Wolfgang Behrends!
Da lachen ja die PseudonYma.
Die HeteronYma mit eingeschlossen.

Eine leider sehr sehr inhaltslose Kolumne,
die gespickt mit 2-3 Anekdoten aus Ihrem Theaterleben,
wohl das Verlangen in sich birgt, es mögen sich diejenigen,
die sich bislang im Verborgenen hielten, hier outen.

Ein kleine Recherche war Ihnen scheinbar zu aufwendig.
Denn es gibt einige "Lisa Engels" , die zu
Premieren nicht erschienen und sich der Öffentlichkeit
verweigerten. Beweise? Bitte recherchieren Sie selbst.
Denn das Bekannte ist schließlich bekannt.

Ob dann dahinter PseudoNyma stecken, wäre sicher
eine spannende Aufgabe. Die Aufdeckung grenzt aber
immer auch an Verrat.
Kolumne Behrens: Totale Entblößung
Was Theater unbedingt wollen, dass die Dramatiker:innen
sich öffentlich zeigen, auftreten, sich positionieren
mit allem durum&dran. Kurz: Die totale Entblößung.
Dass sich da einige enthalten und sich dem Trubel
nicht hingeben wollen, ist gut verständlich.

Nur hätten die - selbst mit grandiosen Theaterstücken -
im Betriebssystem der Theater - überhaupt ein Chance?
Wird nicht von den Theatern zuvor immer auch die Persona beleuchtet?
Obwohl es doch eigentlich (ja eigentlich) auf das Drama ankommen sollte?

Was meinen Sie - Herr Behrens?
Wie würden Sie (nicht fiktionale andere Dramaturgen) reagieren?
Kolumne Behrens: Keine Chance
#2: Wird immer beleuchtet. Ergo: Keine Chance für die VerweigerInnen im Betrieb gegenüber dem betrieblichen Willen (sowohl Theater als auch Verlage) zur Beleuchtung der Person, die ein Stück hier oder auch da einreicht. Oder einreichen lässt. Hat denn der Betrieb halt Pech gehabt und die Möglichkeit des eigenen Versäumnisses oder gar fachlichen Versagens erheblich erhöht.
Kolumne Behrens: Werk ohne Autor
Ehrlich gesagt, befürchte ich auch, dass es ein "Werk ohne Autor" sehr schwer hat/hätte. Der Name der Autorin/des Autors legitimiert ja meist schon die Uraufführung, da muss man sich dann inhaltlich nicht mehr so viele Gedanken machen. Umgekehrt werden viele Erstleser:innen von neuen Texten in den Dramaturgien Eigenheiten gegenüber sehr viel weniger tolerant sein, wenn die Autor:innen unbekannt sind. Wobei hier die Entdeckungsarbeit natürlich in erster Linie die Sache der Verlage ist, und im Grunde sollte jede neue Autorin/jeder neue Autor erst einmal über einen Text und dessen Qualität in das Blickfeld der Verlage gekommen sein. Dann aber beginnt das Marketing, und, ja, ich glaube schon, dass die Persona da oft mit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Nicht zuletzt durch die identitätspolitischen Diskurse.
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