Kolumne: Heimatgeschichten - Lara-Sophie Milagro über Kunstwerke aus problematischen Hintergründen
Was tun mit den Arschlöchern?
von Lara-Sophie Milagro
14. Mai 2019. Während meines Gesangsstudiums begrüßte mich Herr Professor B. jedes Jahr zu Semesterbeginn mit demselben Kalauer: "Na junge Frau, haben Sie sich nicht in der Abteilung geirrt? Dies ist der Fachbereich Operngesang, die Jazz-Abteilung ist im Gebäude nebenan". Ich habe immer brav gelacht über Herrn Prof. B., Humor ist ja bekanntlich Ansichtssache. Klassische Gesangstechnik folgt da schon klareren Regeln: Entweder du triffst das hohe C oder nicht. Kein Interpretationsspielraum, kein "ich fänd h aber besser". Natürlich gibt es unendlich viele Möglichkeiten, einen Ton zu gestalten, ihm Farben und Nuancen zu verleihen. Aber C ist C und eine gute Oper ist eine gute Oper, das war für mich nie verhandelbar.
Ist ein Werk von Worten und Taten zu trennen?
Umso überraschter war ich, als ich auf Einladungen zu meinem ersten großen Bühnen-Engagement, als Blumenchormädchen in Wagners "Parsifal", gleich mehrere Absagen von Freunden und Familie bekam. Begleitet von Bemerkungen über die fehlende Qualität dieser "Herrenmenschenmusik" und Diskussionen darüber, "warum ausgerechnet du Wagner singst", so als hätte ich eine besondere moralische Verpflichtung, sein Werk zu meiden.
Natürlich war mir stets bewusst, dass Wagner glühender Antisemit gewesen ist und natürlich ist das abscheulich. Deswegen seine Musik zu meiden, als Sängerin wie als Hörerin, wäre mir allerdings nie in den Sinn gekommen, genauso wenig, wie aus seiner zweifelhaften moralischen Integrität eine fehlende Qualität seines musikalischen Schaffens abzuleiten. Es gibt viele Schwarze Opernsänger*innen, die als Wagner-Interpretinnen weltberühmt geworden sind, darunter Eric Owens, Simon Estes, Denyce Graves, Jessye Norman, Leontyne Price und Grace Bumbry, die 1961 als Venus in Bayreuth Musikgeschichte schrieb. Hätten die das alle lieber lassen sollen? Da wären wir dann wieder bei Professor B. Der war ja auch der Meinung, dass ich viel besser in die Jazzabteilung gepasst hätte. Vor dem N-Wort wäre ich dort allerdings auch nicht sicher gewesen.
Die Frage, ob man Worte und Taten eines Künstlers von seinem Werk trennen kann und sollte, ist nicht erst seit der #MeToo-Debatte oder dem Erscheinen der Dokumentation "Leaving Neverland", in der erneut Missbrauchsvorwürfe gegen Michael Jackson laut werden, genauso viel diskutiert wie unbeantwortet. Schriftstellerin Thea Dorn sprach jüngst von einem "neuen moralischen Totalitarismus" und gab zu bedenken, dass es in Bibliotheken, Museen und Kinos ziemlich leer würde, "wenn wir jetzt anfangen, in der Kunst alle die, die salopp gesagt, Arschlöcher sind, herauszuschneiden".
Was geht – und was geht gar nicht?
Die Liste derer, deren Ächtung man in Erwägung ziehen könnte, ist in der Tat lang: Caravaggio, bedeutender Maler des Frühbarock, war ein Mörder, Picasso hat seine Frauen schlecht behandelt und Jörg Immendorff feierte regelmäßig Kokain-Partys mit Prostituierten, bis er schließlich bei der Staatsanwaltschaft verpfiffen wurde (ausgerechnet während er in St. Petersburg eine überlebensgroße Nasen-Skulptur als Geschenk an die Stadt übergab); Günther Grass gehörte der Waffen-SS an, Martin Heidegger der NSDAP und die große Hannah Arendt war der Ansicht, dass "die Rassen Afrikas und Australiens von einer katastrophenhaften Einförmigkeit ihrer Existenz [zeugen] und bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen [sind], von denen wir wissen". Ganz zu schweigen von Roman Polanski, Bill Cosby, R. Kelly, Harvey Weinstein, Kevin Spacey, Woody Allen oder US-Serien Star Allison Mack, die sich gerade schuldig bekannte, Frauen für eine Sexkult-Sekte rekrutiert zu haben.
Wodurch wird jemand zu einem derartigen Arschloch, dass es unmöglich wird, seine Musik zu hören, seine Bilder aufzuhängen, sein Gesicht auf der Leinwand oder Bühne zu sehen? Ist den Partner mies behandeln oder seine Kinder schlagen, Sexorgien feiern oder rassistische Ansichten vertreten noch ok, ja, verleiht es einem Künstler sogar erst die rechte street credibilty, den Anstrich des unangepassten Outlaws, der seit jeher mit besonders großer Kreativität assoziiert wird?
Noch komplizierter wird es, wenn moralisch fragwürdiges Verhalten von Künstlern die Geisteshaltung einer ganzen Epoche widerspiegelt. Mir Leni Riefenstahls "Olympia" anzusehen, empfinde ich als weniger problematisch als Björn Höcke zuzuhören, obwohl ich weiß, dass Sätze wie "Tief bewegt und erfüllt mit heißem Dank erleben wir mit Ihnen, mein Führer, Ihren und Deutschlands größten Sieg" von ihr stammen. Sicherlich, diese Aussagen entstanden im Kontext einer Diktatur und bestimmt spielt auch der Faktor Zeit – Riefenstahl ist Vergangenheit, Höcke leider Gegenwart – eine nicht unwesentliche Rolle. Aber konsequent ist das nicht. Unmenschlichkeit und Verbrechen lassen sich weder durch "ist lange her", noch durch einen wie auch immer gearteten Zeitgeist abmildern.
Abschied vom Privileg der Ahnungslosigkeit
Vielleicht geht es auch gar nicht so sehr darum, das Werk von auf Irrwege geratenen Promi-Künstlern zu verbannen, sondern deren Vergehen zum Anlass zu nehmen, anzuerkennen, dass weite Teile unserer kulturellen Erzeugnisse, die wir so stolz für uns in Anspruch nehmen, aus fragwürdigen sozialen, politischen und zwischenmenschlichen Kontexten hervorgegangen sind. Denn in die aktuellen Debatten darüber, wen man ächten sollte und wen nicht, mischt sich auch immer wieder ein gehöriges Maß Heuchelei. So herrscht zu Beispiel weitgehende Einigkeit darüber, dass Weinstein zur persona non grata abgestiegen ist, aber kaum jemand regt sich hierzulande darüber auf, dass die Bankiers, die Goethes Italienische Reise finanzierten – die Gebrüder Bethmann aus Hessen – ihre Gewinne unter anderem aus der Verwaltung und Finanzierung von Zuckerrohrplantagen in der Karibik erzielten, deren Gewinnmargen deshalb so hoch waren, weil sich dort versklavte Menschen zu Tode schuften mussten. Auch andere Geistesgrößen jener Zeit, wie der Philosoph John Locke und der Mathematiker Isaac Newton, mischten als Anteilseigner von Unternehmen munter im transatlantischen Menschenhandel mit. Und einige der Leute, die einst meinen "Parsifal" anprangerten, hätten wahrscheinlich kein Problem damit, beim diesjährigen Summerjam Festival in Köln zu den Beats von Buju Banton zu feiern, der in seinem Song "Boom Bye Bye" dazu aufgerufen hat, Schwule zu töten. Diffamierende Inhalte finden hier also sogar unverhohlen im Kunstwerk selbst statt. Dass Banton trotzdem eingeladen wurde, rechtfertigte die Festivalleitung damit, dass sein Hass-Song eine Jugendsünde und er inzwischen geläutert sei.
Der Abschied vom Privileg der Ahnungslosigkeit wäre für uns alle sicherlich ein guter Anfang: Sich den ein oder anderen Lied-Text einfach mal genauer anhören, auch wenn sich dann möglicherweise nicht mehr so unbeschwert dazu abtanzen lässt. Sich eingestehen und aushalten, dass man die Huxtable-Familie geliebt hat und "American Beauty" ein verdammt guter Film ist – trotz und auch wegen ihrer Hauptdarsteller Bill Cosby und Kevin Spacey. Und wenn das Humboldtforum Ende 2019 eröffnet wird, könnte man beim Schlendern durch die Ausstellungsräume ja mal überlegen, wie und unter welchen Umständen der ein oder andere Artefakt aus Afrika, Asien oder Südamerika seinen Weg in die Hauptstadt gefunden hat. Antworten hierauf bekommt man übrigens auch bei einem Kongress der Initiative "No Humboldt 21" im Oktober in Berlin. Hingehen und Museen mit ganz neuen Augen sehen lohnt sicher mehr, als den "Tristan" auf den Index zu setzen.
Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.
Zuletzt befragte Lara-Sophie Milagro den Wertekanon in Gesellschaft und Theater.
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Kunst hat jedoch immer einen Zeitbezug, wird aus der Zeit und ihrer Political Correctness geboren. Das muss man heute wissen und Kunst unter diesem Blickwinkel betrachten. Wie hätten Künstler wie Caravaggio oder Picasso heute gedacht, gelebt und gearbeitet. Picassos Liebe zu seinen Frauen, insbesondere zu Jacqueline, zeigt aus meiner Sicht doch nicht nur ausschließlich den Macho.
Political Correctness heute bedeutet für den Betrachter oder Zuhörer, sich mit dem Werk, der Zeit und dem Hintergrund auseinanderzusetzen. Die Schieflage wissend zu reflektieren. Die Zauberflöte von Mozart habe ich mit 12jährigen Kindern gesehen. Es ist musikalisch ein genuss, auch für die kleinen Zuhörer. Das Frauenbild udn der Rassismus in dieser Oper sind fürchterlich. Darüber muss man sprechen und kann das nicht unreflektiert lassen. Diese Oper zu streichen, sie Kindern nicht zuzumuten, halte ich für falsch.
Denn Künstler sind Teil der Geschichte, handeln in ihrer Zeit. Da gibt es Irrungen und Wirrungen. Wir müssen uns auch mit historischen Ereignissen auseinandersetzen und sie einordnen. Kannibalismus bleibt Kannibalismus, Sklaverei bleibt Sklaverei, Kriege bleiben Kriege, Rassismus bleibt Rassismus, Faschismus... Nationalsozialismus... Stalinismus... Stellvertreterkriege... Ausländerfeindlichkeit...
Wir lernen nicht durch Verbote, sondern durch Aufklärung, eigenständiges Denken, demokratisches Handeln.
Dabei muss man Arschlöcher als solche bezeichnen können udn dürfen. Dazu gehört auch ein Professor B, ein Arschloch der zweiten Reihe.
Liebe Frau Milagro, all ihre Beispiele sind überzeugend. Wichtig sind aber ihre Schlussfolgerungen. Vielen Dank!
Was den »Parsifal« betrifft, würde ich den Freunden, die mit moralinsauren Argumenten den Besuch verweigert haben, eine Beschäftigung mit dem Stück empfehlen. Es ist unstreitig offen für eine antisemitische Lesart, die Wagner-Forschung hat das ausreichend klar belegt. Nicht belegt hat sie (und wir es nicht vermögen), dass dies die einzig mögliche Lesart ist. Es gibt andere, darunter einige, die überaus produktiv und von brennender Aktualität sind. Diese alle auszulöschen, weil es eine in der Tat vollkommen inakzeptable gibt, oder gar ganz einfach, weil der Komponist sich seinen Mitmenschen gegenüber oft ausgesprochen schäbig verhalten hat, ist nicht besonders klug. (...)
- Ist doch so, wer künstlerisch arbeitet, gibt in der Regel seines Wissens nach das Beste. Warum soll dann entweder dem Professor B nicht die gleiche moralische Milde zuteil werden wie Wagner, wenn er sich regelmäßig in einer bestimmten Sache wie ein hirnverbranntes Arschloch benommt? Wenn man die Milde nicht hat - je jünger man ist, je weniger wird man sie naturgemäß haben - sollte man in Zweifelsfall auch ein A-Arschloch entsprechend behandeln und zur Rede stellen. Und zwar sofort. Das ist immer so eine Sache mit diesem "aufaugenhöhebehandeltwerdenwollen". Es ist nämlich eine zweiseitige Sache. Manchmal muss man sich für Augenhöhe kleiner machen als man ist und manchmal größer, wenn jemand vor einem steht, der eben kleiner oder größer als man selbst ist... Mit etwas schauspielerischem Talent und vor allem mit Humor sollte das eigentlich für niemanden ein Problem sein. - Und man kann Schlagfertigkeit auch üben: Also liebe Gesangs-Professoren, die immer wieder bestimmte Studentinnen in die Jazz-Klasse schicken möchten wegen ihrer äußeren Erscheinung: "Oh, danke für den Tipp, Herr Professor, ich bin übrigens sehr erleichtert und hocherfreut, Sie erneut hier anzutreffen, ich hatte schon befürchtet, Sie würden jetzt hauptberuflich einen Schulchor leiten!"... Sowas muss man übenübenüben... dann klappts auch mit dem Feminismus und ohne Rassismus- gut, jetzt nicht immer mit der Karriere, aber: Was will man für sein Ego mit dem Lob von zeitgenössischen Arschlöchern?
Mir stellt sich dabei eine Frage:
wie können wir Kunst vermehrt als Anlass nehmen, die häufig fragwürdigen Kontexte in denen sie entstanden ist, zu reflektieren und zu diskutieren - ohne dabei eine Routine, die ständig nach neuen Infos zu Verfehlungen sucht, zu entwickeln? Eine Lösung wäre die Band von nebenan zu bevorzugen - bei der man noch einen persönlichen Eindruck der Charaktere im Alltag bekommt, sodass man auch nicht wiederwillen zum Heuchler wird, wenn man forderte, sie aufgrund von unvereinbarem Verhalten von einem Konzert auszuschließen oder zwecks Diskussion lieber zu ertragen.