Medienschau: Diverse – Streit um Besetzungspolitik am Zürcher Theater Neumarkt
Nach den Regeln der Hisbollah?
Nach den Regeln der Hisbollah?
12. Dezember 2023. Über einen Konflikt um die Besetzungspolitik am Zürcher Theater Neumarkt berichten diverse Schweizer Medien.
Der aus Israel stammende Schauspieler Yan Balistoy hat in einem offenen Brief an die jüdische Gemeinde dem Theater vorgeworfen, ihn aufgrund seiner Herkunft gezielt aus Stücken herauszulassen: "Seit August 2021 werde ich nur bei der Hälfte aller Stücke besetzt, weil ich Israeli bin", zitieren Isabel Heusser und Tobias Marti in ihrem Bericht für die NZZ aus der Stellungnahme. Grund dafür sei eine libanesische Kollegin, die um ihre Sicherheit fürchte, wenn ihre Zusammenarbeit mit einem Israeli öffentlich werde, heißt es in dem NZZ-Artikel weiter. Für Balistoy bedeutet diese Praxis den "Einbau eines 'anti-Israelischen Boykott der Hisbollah in die Arbeitsstrukturen am Theater Neumarkt'", so die NZZ.
Das Theater Neumarkt weist gegenüber der Zeitung die Vorwürfe zurück und unterstreicht, dass man "ein Haus der Vielheit und Offenheit" sei, an dem "'anti-israelisches und anti-jüdisches Gedankengut' keinen Platz hätten". Um dem Verdacht auf antisemitische Diskriminierung entgegenzutreten, hebt das Theater der NZZ zufolge "zahlreiche Kollaborationen mit israelischen wie jüdischen Künstlerinnen und Künstlern" hervor. Die umstrittenen Besetzungsfragen seien aktuell Gegenstand eines Arbeitsrechtsprozesses, den Balistoy angestrebt habe.
In einer Facebook-Stellungnahme unter dem Titel "Antwort eines jüdischen Mitarbeiters" erwähnt Hausdramaturg Eneas Nikolai Prawdzic vom Neumarkt das libanesische Gesetz, das "es Libanesen verbiete, mit Israeli zusammenzuarbeiten". Das stelle das Theater vor ein "Dilemma". Man habe, um Yan ins Ensemble aufzunehmen, in Absprache mit allen Beteiligten entschieden, die schon vorher im Ensemble engagierte libanesische Schauspielerin nicht in denselben Stücken einzusetzen wie ihren israelischen Ensemble-Kollegen. "Die Leitung, die in der Fürsorgepflicht für alle Mitarbeitenden stehe, sei bemüht gewesen, niemanden zu benachteiligen", schreibt Prawdzicic in seiner Stellungnahme, die auch die NZZ zitiert.
Kommentare
Die NZZ beschließt ihren Bericht mit offenen Fragen: "Geht es um einen rein arbeitsrechtlichen Konflikt? Lassen sich Balistoys Vorwürfe erhärten oder entkräften? Warum kümmert sich eine Schweizer Theaterführung um ein libanesisches Gesetz? Klar ist: In einem Theater, das aus lediglich sieben Ensemble-Mitgliedern besteht, dürfte es schwer sein, diesem Konflikt aus dem Weg zu gehen."
Im St. Galler Tagblatt kommentiert Julia Stephan: "Sollte er sich bewahrheiten, wäre das der Beweis, dass die vielen rhetorischen Stolperer, die man in öffentlichen Briefen linker Kulturschaffender irritiert zur Kenntnis nahm, alles andere als harmlos sind." So schreibt Stephan mit Verweis auf einen von 8000 Kulturschaffenden unterschriebenen Offenen Brief in der US-Zeitschrift "Artforum", der Israel "Genozid" vorwirft: "Wer sich in seiner Bubble aber eigene Gerechtigkeitskonzepte nicht nur ausdenkt und über sie debattiert, sondern diese auch umsetzt, gefährdet längerfristig unser Zusammenleben und das unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger." Der ausführliche Bericht des Tagblatts steht ebenfalls hinter Paywall.
(NZZ / St. Gallener Tagblatt / chr)
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https://www.srf.ch/kultur/buehne/offener-brief-wie-es-zu-antisemitismus-vorwuerfen-gegen-das-theater-neumarkt-kam
Wenn ich den Fall hier richtig verstehe, so wirken sich die Entscheidungen der Leitung fundamental auf die Besetzung und damit Arbeit von auf zwei Menschen aus. Wie es im offenen Brief dargestellt wird, ist aber Herr Balistoy an den Entscheidungsprozessen nicht beteiligt gewesen, obwohl sie ihn grundlegend betreffen. Das finde ich nicht richtig. Das scheint keine Entscheidung auf Grund von Konsens zu sein und über den Kopf einer beteiligten Person hinweg getroffen zu sein. In dem Dreieck also ein äußerst asymmetrisches Machtverhältnis, dass reflektiert gehört. Da frage ich mich schon, wer hier welche Verantwortung trägt. Wer ist von den Gesetzen eines anderen Landes betroffen und wer hat da für sich selbst Entscheidungen zu treffen? Wer hat hier zugunsten jemand anders ein-/wegzustecken und würde es für die Zukunft einen anderen, besseren Weg geben?
(Anm. Redaktion. Der Kommentar operiert mit Insiderwissen und enthält persönliche Unterstellungen. Zu den Kommentarregeln: https://nachtkritik.de/impressum-kontakt#kommentarkodex)
Was die Lösung angeht, wir hier sind ja durchaus fast alle Profis und wenn man auch nur bisschen länger über das Problem nachdenkt, liegt eine Lösung nahe: Wie bei Schauspieler:innen, die viel Filme drehen, aber für das Haus wichtig, müsste man die libanesische Schauspieler:in nun mit Stückverträgen anstellen. Dann könnte die Leitung auch - wie bei Gästen üblich - die Produktionen so zusammenstellen, dass es für alle geht, aber die Ensemblemitglieder nicht in Geiselhaft von diesem Gesetz genommen werden.
Aber was defintiv nicht geht: Jemand im Ensemble zu haben, der mit solchen Regeln andere wegdrängen kann. Auch ist ja keine Teambildung möglich, kein interner Diskurs, auch kein Widerstand gegen die Leitung. Das ist absolut intolerabel und ja, eben antisemitisch und auch hausintern totalitär.
diese Frage ist nicht polemisch. Sie ist juristisch interessant und würde sicherlich vor Gericht genau so behandelt werden. Dass sie nun einen solchen Fall wie am Neumarkt- Theater, der die Grundrechte eines Menschen tangiert mit einem Steuergesetz (Geld) vergleichen irritiert schon eher.
Moral, egal wie gut gemeint führt hier nicht weiter. Ich hätte an Stelle des Schauspielers deutlich früher Anwälte eingeschaltet.
Die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut. Dieser Raum muss offen bleiben. Dies gelingt immer weniger. Ein Theaterensemble wird gebildet, um miteinander zu spielen. Das ist doch eigentlich Allen klar, oder?
Wie kommen Sie auf den Gedanken, ein Gesetz-woher auch immer- als Möglichkeit durchzuspielen, dass ausschliesst, mit einem Menschen aufgrund seiner Ethnie oder religiösen Zugehörigkeit zusammenzuarbeiten.
_____________________
Werter karl,
Ihr Kommentar enthielt unüberprüfbare Tatsachenbehauptungen und verstieß daher gegen unseren Kommentarkodex. Dieser ist hier nachzulesen: https://nachtkritik.de/impressum-kontakt
Herzliche Grüße aus der Redaktion, Esther Slevogt
Dass das Neumarkt Theater vor einem anti-israelischen Gesetz einknickt, welches möglichweise gar nicht existiert, ist nicht nur lächerlich, sondern feige und spiessig, und vor allem cent pour cent, mais alors cent pour cent füdli-bünzlig.'
(füdli-bünzlig= schweizerisch spiessig).
Die Kritik am Neumarkt ist also von internationalem Geist
Die Kunst muss frei bleiben, sie wird zunehmend von Politischem vereinnahmt.
https://www.tachles.ch/artikel/schweiz/arbeitskonflikt-oder-israel-boykott
Die Schweiz hat ja - im Gegensatz zu Deutschland ja beispielsweise keine Resolution erlassen, die den Einfluss eines in Deutschland als antisemitisch bezeichnete BDS-Bewegung irgendwie einschränken würde. Bei uns ist es üblich, das an grossen Stadttheatern offen BDS Werbung gemacht werden kann - ohne dass die Sprechenden unterbrochen würden, oder irgendetwas von BDS Anhänger:innen relativiert werden muss. Ich denke, ihnen würde diese grundsätzliche Haltung hier sehr gut gefallen.
Die Schweizer:innen sind auch sehr stolz auf diese ganz eigene eidgenössische Weltoffenheit.
(Das kann man natürlich auch kritisieren, ist hier aber kein Thema)
Es geht aber in dem Falle Neumarkt wirklich - wie ja auch "Tachles" schreibt, auch um einen Arbeitskonflikt. Das libanesische Gesetz beeinflusst die freie Entfaltung der Meinungsbildung innerhalb eines Ensembles. Und wie Kommentar#21 blendend beschrieben hat, ist ja libanesische Spielerin ja bereits Teil des Ensembles und als in - für das rassistische Gesetz - unzulässiger Zusammenarbeit mit einem Israeli verbunden. Das beeinflusst zudem nun nicht nur die beiden, sondern alle Ensemblemitglieder auf unzulässige Weise. Ein Ensemble ist ja auch ein Willensbildungs-Kern gegen (potentielle) Machtmissbräuche der Leitung. Deshalb muss hier nun auch geprüft und diskutiert werden, ob hier Machtmissbrauch vorliegt, wenn ein solches Gesetz Wirkung im Ensemble Wirkung entfaltet (und das nicht offen kommunziert werden darf, sondern scheinbar - so der Vorwurf des Schauspielers - sogar noch verschleiert wird durch Nicht-Erwähnung der biographischen Hintergründe, was, wenn man die Bios liest, ganz offensichtlich stimmt).
Damit spreche ich nicht für die Gültigkeit der Gesetze anderer Länder in der Schweiz oder wo auch immer, ich anerkenne nur die geschickte Lösung der Intendantinnen, die den Druck von der Libanesin genommen hatten. (Bis jetzt jedenfalls.)
Die nächsten Wochen können zu anderen Meinungen führen. Balistoy ist seit einer Spielzeit und vier Monaten im Engagement - in seiner ersten Spielzeit war die Situation doch die gleiche, wieso jetzt? Was hat sich geändert?
Nachtrag: ja, laut Ausweis bin ich Deutscher. Und zum Glück nicht in dieser Zwickmühle, sondern nur in ungleich weniger gewichtigen :-)
--
Lieber Peter,
eine Korrektur: Das Gesetz besteht seit 1955.
Quelle: https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-anti-israelisches-boykottgesetz-fuehrt-zu-eklat-an-theater-neumarkt-ld.1770095
Viele Grüße aus der Redaktion!