Presseschau vom 15. März 2011 – The Guardian schaut Berliner Theater

Immigrations-Obsessionen

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Immigrations-Obsessionen

London, 13. März 2011. Der renommierte britische Kritiker Michael Billington ist für The Guardian ein Wochenende lang nach Berlin gefahren und hat sich Theater angesehen. Eine etwas eigenwillige Auswahl kam zusammen: Er sah "Der blaue Engel" am Theater am Kurfürstendamm, Paul Brodowskys Regen in Neukölln beim F.I.N.D. an der Schaubühne und Dea Lohers Diebe am Deutschen Theater. Sein Fazit: "Design scheint tatsächlich ein wesentlicher Teil des deutschen Theaters zu sein."

Er selbst gesteht, nach drei Tagen kaum zu elaborierten Schlussfolgerungen fähig zu sein. Aber Berlin scheint seiner Ansicht nach nach den krisenreichen 90ern Zuversicht auszustrahlen mit einem selbstverständlichen Nebeneinander von kommerziellen und subventionierten Theatern. Außerdem findet er, dass sich das Berliner Theater stärker durch Schauspiel, Regie und Ausstattung auszeichne als durch neue Stücke – ein Eindruck, der sich nach einem Gespräch mit Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier ergab.

Aber eigentlich war Billington auf der Suche nach der momentanen "Immigrations-Obsession". Dumm nur, dass er zwar mit Ostermeier über das Ballhaus Naunynstraße sprach, selbst aber nicht vorbeischaute. Immerhin erfahren wir, dass Ostermeier findet, dass Shermin Langhoff dort eine fantastische Arbeit leiste, die Schaubühne aber nicht ihre Arbeit kolonialisieren wolle.

Kurios ist die Liste der fünf großen Namen, die Spiegel-Online-Autorin Hannah Pilarczyk für The Guardian zusammengestellt hat und die gleich im Anschluss an Billingtons Artikel erscheint (so, als stamme sie von ihm): Neben HAU-Chef Matthias Lilienthal, Kölns Intendantin Karin Beier und Dramatiker Nis-Momme Stockmann nennt sie auch Autorregisseur Kevin Rittberger und Lena Lauzemis, Schauspielerin an den Münchner Kammerspielen (wegen des Films "Wer wenn nicht wir").

Sehr aufschlussreich lesen sich die Kommentare zum Artikel, in denen sich auch Michael Billington selbst zu Wort meldet.

(geka)

Kommentare  
Presseschau Guardian in Berlin: warum "Der blaue Engel"?
Aber wieso geht Billington, wenn er das das deutsche Theater kennenlernen will, denn in den "Blauen Engel"? Wer hat ihn denn da beraten? Hannah Pilarczyk? Er hätte auch zur "Blue Man Group" gehen können, das hätte vermutlich ähnliche Aufschlüsse erbracht. Warum ist er nicht während des Theatertreffens gekommen, um seinen Theatercheck zu machen? Die Liste der fünf großen Namen sollte man in eine Schublade tun und in 10 Jahren wieder rausholen.
Presseschau Guardian in Berlin: Liste der großen Namen
wieso durchgeknallte liste? ist dochn ganz wacher blick auf leute, die vielleicht interessanter sind als die immer gleichen namen. hier mal eine gegenliste:
1. claus peymann (für lilienthal)
2. rimini protokoll (für rittberger)
3. michael thalheimer (für beier)
4. nina hoss (für lauzemis)
5. ronald schimmelpfennig (für stockmann)
wäre wohl vielen plausibler erschienen, sone liste. wäre aber auch tausendmal langweiliger.
Presseschau Guardian in Berlin: die Liste ernst genommen
peymann: ähm, wie bitte? wann hat er nochmal die letzte erwähnenswerte inszenierung vorgelegt?

rimini protokoll: meinetwegen, ist aber jetzt auch nicht der brandneue, heiße kram. bei kaegi kann man sehen, dass da in zukunft noch einiges aufregendes kommen wird, bei haug/wetzel habe ich leise zweifel.

thalheimer: hatte seine beste zeit vor ca. 5-6 jahren. mit "die weber" lockste noch nicht mal nen spiegel-rezensenten hinter dem ofen hervor.

nina hoss: was frau hoss auf der bühne so tut, hat nun wirklich nichts mit neuer oder zukunftsweisender schauspielerei zu tun. das ist handwerklich gut, aber doch völlig altbacken. einfühlsoße.

roland schimmelpfennig: da wäre mir beim prusten fast der morgenkaffee aus der nase geschossen. das würde mich dann doch wirklich mal interessieren, in welcher hinsicht schimmelpfennig in den letzten jahren für entscheidende impulse im deutschen theater verantwortlich war. er mag genauso wie frau hoss handwerklich formidabel sein - well made plays - , aber mal ehrlich: hinsichtlich einer inhaltlichen oder auch formalen innovativität ist doch bei schimmelpfennig seit "push up" nichts passiert.

ich finde die liste von frau pilarczyk ja ganz gut, nur bei lena lauzemis habe ich meine zweifel. sie mag eine besondere schauspielerin sein, aber an den kammerspielen hat sie das in der größenordnung wie bei "wer wenn nicht wir" nicht gezeigt. sicherlich ist es eine mutige und auch eher zukunftsorientierte auswahl, aber wenn es um die frage geht, von welchen theatermachern man in den nächsten jahren entscheidende impulse für das deutsche theater erwarten kann, sind da auf jeden fall vier namen dabei, die ich total zulässig und diskutierbar finde.
Presseschau Guardian in Berlin: eine andere als die herrschende Meinung
Don't mention Mars....

Es gab in England in den 60ern eine Poetenschule, die sich nach einem Gedicht ("Marsianer schickt eine Postkarte nach Hause") von Craig Raine "Die Marsianer" nannten - sie hatten sich auf die Fahne geschrieben, die Dinge komplett neu zu sehen.

Wenn ein Engländer nach Deutschland reist, wieso soll er sich mit unseren Sehgewohnheiten, Vor- und Fehlurteilen rumschlagen? Er will einen Artikel eines Engländers über das Theater in Berlin für die Engländer schreiben. Er will nicht dem Deutschen Feuilleton in den Hintern kriechen.

Was ist das dümmste Reaktion eines Theatermenschens auf eine Kritik? Sagen: Der Kritiker war aber bei einer schlechten Vorstellung da (in diesem Fall lies: Eigentlich haben wir ganz viel tolleres Theater, aber das hat er nicht gesehen!).

Die der Artikel hier und die Kommentarebene zeigen mir eins: wir wollen Deutschland gerne das repräsentiert sehen, was wir grade für gut und wichtig halten. Nur: Ist das Theater am Kurfürstendamm kein Theater? Ist das Ballhaus Naunynstrasse mehr Theater als die Schaubühne? Werden die Zuschauerzahlen der Bluemangroup nicht jährlich in den Zahlen des Bühnenvereins mitverrechnet? Wer definiert hier, was Theater sein darf und was nicht?

Vielleicht sollte man den Artikel von Michaal Billington sehen als den eines Unabhängigen, der sich nicht dem unterwirft, was wir hören wollen. Das dürfte eine eigene Perspektive eröffnen.
Presseschau Guardian in Berlin: unbestechlicher Blick
unglaublich, was nk da schreibt. da will jemand wohl die realität nicht wahrhaben. finde das einen klugen überblick auf das deutsche theater. wo sind denn neue autoren ? wo ist denn immigrationstheater, außer in einem offtheater in neukölln ? de facto bekommen ergo-theaterfamilien, pseudo castorfs und intendantensöhne in deutschland preise und aufmerksamkeit. diese betriebsseligkeit und netzwerkerei wird nur in deutschland als state of the art angesehen, ein unbestechlicher blick von außen offenbart die mittelmäßigkeit.
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