Presseschau vom 22. Mai 2013 – Der Freitag findet Disabled Theater vor allem blöde
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22. Mai 2013. Matthias Dell schreibt auf der Website der Wochenzeitung Der Freitag (22.5.2013, 11:30 Uhr) einen geharnischten Einwand gegen die Hymnen auf Jérôme Bels Inszenierung "Disabled Theater" beim 50. Theatertreffen in Berlin und zuvor schon anderswo auf der Welt. Es handele sich um einen Abend, "der blöder war, als Theater ist".
Verwunderlich, so Matthias Dell, dass "weder in Berlin noch auf dem Weg dahin problematisiert" worden sei, dass "Disabled Theater" in Wirklichkeit die "mit Abstand schlechteste Arbeit von Jérôme Bel", eine "künstlerische Bankrotterklärung" mit "politisch unterkomplexem Ansatz" sei.
"Fassungsloser" als auf die Art, wie Bel sich seine Performer vom Theater Hora vom Leibe halte, schaue man nur auf die Kritiken, die diese Inszenierung feierten. Den Satz aus Andreas Klaeuis Nachtkritik-Rezension der Avignon-Premiere im Sommer 2012 würde Dell "gern einmal erklärt bekommen": "Mit dieser Produktion hat die Theaterarbeit mit Behinderten eine neue Ebene erreicht." Was immer Klaeui gemeint habe, Christoph Schlingensief sei in seiner Arbeit mit Performern wie Achim von Paczensky oder Werner Brecht vor 15 Jahren Bel um Lichtjahre voraus gewesen.
Bel stelle seine Performer mit Behinderung aus. Wie anders sollte man die Befehle eines Konzeptkunstgezeiges verstehen ("Und dann hat Jérôme die Darsteller gebeten..."), die von einem Übersetzer "ungerührt vorgetragen werden" und die in "ihrer Überschaubarkeit jeder Reduzierung Hohn" sprächen: "Lasst euch eine Minute angucken. Stellt euch mit Behinderung vor."
Die Konkretion der Körper auf der Bühne müsse "deren Differenz nicht auf einen Begriff bringen" – man könne sie sehen. Und dadurch erkennen, "welch prekäre Kategorie 'Normalität' eigentlich" sei.
Dass das kaum jemand sehen wolle oder könne, spreche, "wie schon bei der Blackfacing-Diskussion, für die Blindheit des Theaters samt Apparat gegenüber politischen Fragen, die über eine 'Aktualisierung' von Hamlet hinausgehen".
(jnm)
Mehr zu Jérôme Bels "Disabled Theater": Die Nachtkritik, der Theatertreffen-Shorty und ein Vortrag des Theaterwissenschaftlers Benjamin Wihstutz über die Emanzipation in Bels Inszenierung. Außerdem der Lexikoneintrag zum Inklusionstheater.
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Mit jedem sanft befehlenden Eso-Satz des Übersetzers als Erfüllungsgehilfe des Regisseurs wurde in meiner Wahrnehmung eher die sozial erwünschte bzw. hierarchisch-harmonisierende Perspektive des Publikums auf das Andere, vermeintlich Nicht-Normale vorgeführt. Das Raus- und wieder Reinwählen einiger Tanzperformer bzw. -performances war in meiner Sicht eher dem historischen UND gesellschaftlichen Umgang mit Behinderten geschuldet. Sprich: Darf man Menschen von der gesellschaftlichen Bühne ausschließen, die anders funktionieren als die vermeintlich normale Mehrheit? Darf man Behinderte bewerten wie DSDS-Stars? Oder ist nicht vielmehr das gesamte DSDS-Bewertungs-Konzept unmenschlich? Schließlich fiel mir auf: Wie krank muss eine Gesellschaft eigentlich sein, dass sie erst über die Betrachtung Tanzender bzw. tanzender Behinderter die eigene Lebensfreude und Lust am Anarchischen wiederentdeckt?
Was mir ebenso gefehlt hat, war die sprachliche Komponente. Als ob Behinderte keine Texte lernen und sprechen könnten. Die Arbeiten von Ramba Zamba und Schlingensief beweisen das Gegenteil.
Wenn Matthias Dell meint, die Anweisungen des Übersetzers zeigten, dass die Behinderten ausgestellt würden, kann man doch auch fragen, was die Anweisungen denn gezeigt hätten, wenn sie an Nicht-Behinderte gegeben worden wären. Wären die dann auch ausgestellt gewesen? Wenn Bel einen Abend machen würde, an dem "Normale" gesagt bekommen: "Stelle dich hierhin!", "Jetzt gehe in die Ecke!", "Jetzt tanze!", hätte niemand ein Problem damit.
Jerome Bels Arbeit ist offenbar doch so komplex, dass sie schon allein mit der Frage, wie komplex sie denn nun tatsächlich sei, verwirrt. Das scheinbar Simple der Struktur stößt offenbar viele Fragen an - nicht nur über Behinderte, sondern über Theater insgesamt. Wenn es heißt, dass 7 der 11 ausgewählt worden seien, um ihr Solo vorzuführen - ist das Fake oder nicht? Wird man hier hinters Licht geführt, oder war das wirklich so? Ist es wichtig, ob es so war? Was macht das in den Köpfen des Publikums, wenn der Leistungsgedanke auf diese Art auf die Bühne Einzug hält? Es ist alles nicht soooo einfach. Und wenn Dell von der "Blindheit des Theaters samt Apparat gegenüber politischen Fragen" schreibt, kann man ihn nur beglückwünschen: Denn er ist allein sehend und im Besitz der Wahrheit. Diesen Gestus, unangefochten auf der Seite des Durchschauers zu stehen, kann ich ja gerade leiden.
Selbstbestimmt war der Tanz auf jeden Fall. Und das hat mich positiv angesteckt. Erst ein regelhafter Rahmen ermöglicht es, diesen zu durchbrechen, mit den Regeln zu spielen. Und es war gerade dieses Zusammenspiel zwischen Anweisung und Spontaneität, was mich an dieser Arbeit fasziniert hat. Weg vom "edlen Leistungsgedanken", weg vom Denken, dass Menschen, die angeblich keine überragende bzw. gesellschaftlich nützliche Leistung bringen (Arbeit Arbeit Arbeit), nichts wert sind. Ich glaube, ich habe Jérôme Bel sehr gut verstanden. Matthias Dells Aussagen dagegen irritier(t)en mich.
" Wenn Bel einen Abend machen würde, an dem "Normale" gesagt bekommen: "Stelle dich hierhin!", "Jetzt gehe in die Ecke!", "Jetzt tanze!", hätte niemand ein Problem damit."
Aber der Witz ist ja, und deshalb verweise ich auf "The Show must go on" (das könnte/müsste man auch noch ausführen), dass Bels Theater sonst ohne die Anweisungen auskommt, dass die Anweisungen integriert sind in die Regie der Songs ("The Show must go on") oder Abläufe ("Jerome Bel"). Das einzige, was mir noch einfällt, als offensichtliches Anweisungstheater (obwohl das ja eher auch eine Lecture war), ist der Abend mit Pichet Klunchun, da gab's so was meiner Erinnerung nach auch. Ich würde jetzt eher umgekehrt sagen: Warum kann Bel seine Regie nicht in Songs oder einstudierten Abläufen ausdrücken gegenüber den Performern vom Theater Hora? Eine Antwort, die er darauf wohl selbst gegeben hat, ist, dass er die Differenz zeigen wollte, dass er da dirigiert. Das halte ich für kein überzeugendes Argument: Damit mir keiner Ausstellung vorwirft, stelle ich erst recht aus? Überdies, habe ich beim Schauen gedacht, ist diese Figur des "Gib mir Anweisungen"/"Ich geb dir Anweisungen", auch keine besonders reizende - sie operiert immer an so Fremdheitsgrenzen (siehe auch Sophie Calle in New York bei Paul Auster), hat aber so was uninspiriert Hausaufgabenfleißiges (siehe auch Sophie Calle in New York bei Paul Auster)
Und wenn Sie fragen:
"Wie krank muss eine Gesellschaft eigentlich sein, dass sie erst über die Betrachtung Tanzender bzw. tanzender Behinderter die eigene Lebensfreude und Lust am Anarchischen wiederentdeckt?"
dann macht gerade die Aufführung am Samstag (11. Mai) in Berlin nachdenklich - wie da in einer fast mobhaften Stimmung irgendwann jeder Satz, jede Bewegung der Performer von einem sozial erwünschten Honoratiorenapplaus beklatscht wurde, das war ziemlich strange
"Und wenn Dell von der "Blindheit des Theaters samt Apparat gegenüber politischen Fragen" schreibt, kann man ihn nur beglückwünschen: Denn er ist allein sehend und im Besitz der Wahrheit. Diesen Gestus, unangefochten auf der Seite des Durchschauers zu stehen, kann ich ja gerade leiden."
ich sehe ihren punkt, aber das ist eben ein dilemma: mir geht es nicht darum, mich selbst toll zu finden oder klüger oder so'n scheiß, mir geht es um die sache, darum, dass ich das starke gefühl hatte beim schauen, dass etwas nicht gesehen wird, nicht gesehen werden kann, vielleicht auch, dass in meinen augen aber zentral für die wahrnehmung von bels arbeit ist. und wie soll ich das artikulieren, ohne dadurch, ob ich will oder nicht, als ein schlaumeier dazustehen. wie soll man dann, angesichts dieser ganzen texterklärungsproduktion bei bels arbeit, die immer nur zu dem schluss kommt, dass alles richtig ist, wie es ist, ausdrücken, dass das doch eine offensichtliche abwehrhaltung ist, dass es eben eine gewisse blindheit gibt, sachen nicht zu sehen.
ich denke, dass es, wenn man an auseinandersetzung und kritik interessiert ist, möglich sein muss, nicht offended zu sein von einer kritik, die einen selbst vielleicht auch trifft, sondern sich mit dieser kritik auseinandersetzen. als grund, sie abzutun, scheint mir der einwand nicht zu gut zu taugen, gerade weil auch die theaterkritik nicht zimperlich mit dem theater ist. ich würde freilich sofort konzedieren (zahlenmensch schreibt das ja auch), dass mein text schon auch einen ton hat, der deutlichkeit und offenes visier will.
Ich will niemanden beschützen, ich habe lediglich kritisiert, dass Bel in dieser Arbeit seine Distanz zu den "Anderen" weder reflektiert noch originell bearbeitet kriegt. In Sachen Selbstbestimmung wäre ich - erst recht im Theater – pessimistischer. Man muss aber nicht mal im Theater arbeiten, um zu wissen, dass man Sachen tun kann, die man eigentlich nicht tun will. Jeder CEO redet von Sachzwang.
Sie fragen: "Warum kann Bel seine Regie nicht in Songs oder einstudierten Abläufen ausdrücken gegenüber den Performern vom Theater Hora?" Weil es halt eine andere Inszenierung ist und weil wir dem Regissuer nicht vorschreiben sollten, bereits erprobte Konzepte zu wiederholen. Und weil die Figur der Anweisung etwas produktiv Verwirrendes mit sich bringt, was sich in unserer Diskussion doch bestens abbildet.
Die Frage ist doch: Sind die Anweisungen, was sie sind, oder sind sie Bestandteil eines übergeordneten Spiels, das wir Zuschauer vielleicht gar nicht ganz durchschauen? In der Aufführungssituation reagieren die Schauspieler ja nicht spontan auf die Anweisungen, sie geben z.B. jeden Abend dieselben Antworten. Sie spielen also Rollen. Die Anweisungen erwecken aber den Anschein, als seien die Schauspieler vor allem sie selbst. Vielleicht ist das aber gar nicht so, und die Anweisungen selbst sind nur eine Rollenposition?
Und warum das alles? Ich habe darauf keine klare Antwort, außer der, dass wohl festgefügte Differenzbegriffe ins Rutschen gebracht werden sollen: sowohl solcher der theatralen Repräsentation als auch solche von Normalität und Andersheit.
Ich freue mich übrigens, dass Sie sich diskussionsoffen zeigen und nehme meine Spitze aus Kommentar 2 zurück.
"Die Spielwütigen" zum Beispiel), stünden sie heute nicht auf einer der zum Glück noch recht zahlreichen Bühnen. Ich will das "Korrektiv" Elternhaus dabei garnicht unterschätzen: Wer sich von den Eltern vom Schauspiel abbringen ließ (ich zum Beispiel), hat in vielen Fällen wahrscheinlich gut daran getan (im übrigen läßt man sich ja tatsächlich auf so mancherlei ein, nicht nur auf drohendes Dauerprekariat), dies zu tun. Aber, hier wird schon von Leuten gesprochen, die sich nicht abbringen ließen: ganz im Gegenteil. Sollte man möglicherweise im Hinterkopf haben bei solchen Debatten, wie Prospero schon schrieb: daß es hier um SchauspielerInnen geht! Will "zahlenmensch" jetzt die Theaterkritik durch Verwandte und Bekannte ersetzt wissen, oder was soll das ??
Genauso werte ich Herrn Dells Einlassungen zunächst auch nicht als dadurch bestimmt, daß dieser in etwa von den Grundannahmen ausgeht, die Prospero das Blut in den Adern erfrieren lassen. Über SchauspielerInnen, Herr Dell deutet es jetzt selbst an, und ihre Abhängigkeiten bzw. ihr "Ausgeliefertsein" hört man ja eh nicht wenig , frei nach "Schade um die SchauspielerInnen, daß sie so einer Inszenierung, so einer Regie folgen mußten"-"Schlechte Regie, gute SchauspielerInnen", und so scheint mir auch Herrn Dells Kritik ein wenig zu verhaftet dem "Regisseursdenken".
Und so kommt es meineserachtens, daß Herr Dell hier mancherlei unter den Tisch fallen läßt, was im Wihstutzartikel (siehe oben) eigentlich ganz gut nachvollziehbar erläutert wird. Herr Dell, haben Sie diesen Artikel aufmerksam gelesen ?
ich glaube, ich bin nicht Ihrer Meinung oder nur in Teilen, aber ich finde es wirklich toll, wie Sie hier Rede und Antwort stehen und weiter diskutieren. Danke!
danke für die Antwort. Leider lese ich ihren Text immer noch bevormundend. Sie haben sicher, was Sachzwng etc. angeht, sicher recht, nur ist es eben auffällig, dass diese Diskussion eben bei Schauspielern mit Behinderung geführt wird und nicht bei anderen Schauspielern. Das lässt den Schluss zu, dass es dann eben doch primär um die Behinderungen geht, weil man hier mit solchen "Sachzwängen" anders umgehen müsse als bei anderen Schauspielern (weil sie sich nicht "wehren können"?).
Was die Inszenierung angeht muss ich Ihnen vehement widersprechen. Nicht nur thematisiert und reflektiert Bel "seine Distanz zu den 'Anderen'", dies, seine - und unsere - Distanz und das Unwohlsein mit ihr sind viel mehr das zentrale Thema des Abends. Wer Disabled Theater als Theater über Menschen mit Behinderung versteht, versteht iohn m. E. völlig falsch. Es ist vielmehr ein Abend über uns, unseren Blick, unsere (selbstgeschaffene?) Distanz, undser Unwohlsein - und in all dies schließt Bel sich mit ein. Ich verstehe, wenn man diese Auseinandersetzung scheut, finde es aber ungehörig, die Schauspieler als argumentative Schutzschilde für diesen Unwillen einzusetzen.
zur eröffnung des hau und beim tt zu suchen hat.
Ihrem letzten Satz stimme ich zu. Auch ich habe eine der Theatertreffen-Inszenierungen im HAU gesehen. Und auch mich machte genau das nachdenklich: "wie da in einer fast mobhaften Stimmung irgendwann jeder Satz, jede Bewegung der Performer von einem sozial erwünschten Honoratiorenapplaus beklatscht wurde". Für mich hieß das: Wer hier nur klatscht, weil er sich darüber freut, dass ein als "Behinderter" Gelabelter eine so tolle Leistung zeigt, der hat das ganze Ding nicht verstanden. Ich habe mitgelacht und einige der Tanzperformances mit Szenenapplaus bedacht (kein rhythmisches Klatschen zur Musik!), weil ich die anarchische Spiellust der Tänzer als ansteckend empfunden habe. Die Behinderung spielte für mich in dem Moment gar keine Rolle. Für mich wurde hier vor allem der Zuschauer in seiner fordernden Rezeptionshaltung gegenüber dem (Repräsentations-)Theater vorgeführt.
lieber sascha krieger,
das mit der bevormundung hat sicherlich auch etwas mit dem dilemma zu tun, das ich weiter oben schon mal erwähnt hatte. dabei geht es mir wie gesagt um eine kritik an bel, über die performer kann und will ich nicht urteilen, ich stecke nicht in ihnen drin und ich kann mir vorstellen, deshalb der hinweis auf den sachzwang, dass es natürlich auch tolle seiten hat, mit jemandem wie bel zu arbeiten, auf tour zu gehen, den applaus zu kriegen.
das bels ziel mein unwohlsein war, kann ich mir schlecht vorstellen, das hat er in meinen augen nämlich gar nicht verstanden. und außerdem unterscheidet sich mein unwohlsein ja doch stark von den glücksgefühlen ("zum heulen schön") von kritik und den urteilen anderer zuschauer, die ich gesprochen habe. der mobapplaus im hau am 11.5. hatte ebenfalls keinen begriff von seinem unwohlsein oder er hat es eben kompensiert durch dieses hardcoregeklatsche. und das hat bel, dieser alte fuchs, dann alles zum ziel gehabt, diese unterschiedlichen gefühle? ich glaube nicht. und nicht um sie zu bevormunden, aber lesen sie sich ihren satz noch einmal mit etwas abstand durch:
"Wer Disabled Theater als Theater über Menschen mit Behinderung versteht, versteht iohn m. E. völlig falsch."
wie soll man einen - ebenfalls unglaublich doofen - titel wie "disabled theater" denn sonst verstehen? das krasse für mich ist, dass zum einen die reflektion so gering ist und der respekt so groß, dass bel da durchmarschiert mit der billigsten reproduktion von deutlichster markierung von "andersheit", die man sich vorstellen kann, und hinterher sagen alle, dass er sich dabei so unglaublich viel gedacht habe, dass das quasi alles einmal meta und zurück ist. ist es nicht, da gibt es keine anzeichen für
ihr mutter-vergleich hinkt, wenn ich das sagen darf. habe schon das gefühl, dass eine mutter, die mit den alltäglichen markierungen ihres kindes vertraut sein wird, ein feineres sensorium für ausstellen und nicht-ausstellen haben wird, als es aus ihren berufsratschlagsanekdoten spricht.
und ja, ich habe, wihstutz gelesen und auch dort kommentiert, weil ich den text in den entscheidenden fragen wenig hilfreich finde. der wäre für mich eher teil dieses unglaublichen erkläraufwandes, mit dem die scheinbare selbstverständlichkeit von bels toller inszenierung legitimiert werden kann
"Die Behinderung spielte für mich in dem Moment gar keine Rolle. Für mich wurde hier vor allem der Zuschauer in seiner fordernden Rezeptionshaltung gegenüber dem (Repräsentations-)Theater vorgeführt."
das mag für sie ja stimmen, wenn aber außer uns beiden in dem saal alle abgehen wie schmidts katze, weil die behinderten, die tanzen ja so toll, die lernen da auch was in diesen tollen einrichtungen – dann kann man schlecht behaupten, finde ich, dass die das stück alle falsch verstanden haben, dass bel also nur applaus von der falschen seite kriegt.
Herr Dell, Sie wissen aus meinen sogenannten "Berufsratschlagsanekdoten" heraus
nullkommanichts über die Feinheit meines Sensoriums und wofür es etwaig besteht,
Sie kennen mich nicht und sind schlicht anmaßend.
Herr Wihstutz macht immerhin einen Unterschied zwischen einer Interviewsituation
und der möglicherweise hier durch einige Performer vertretenen Rollenposition,
währenddessen Sie ganz offensichtlich auch keinen ganz geringen Aufwand betreiben, gegen diesen Abend zu polemisieren, der Ihnen nicht zusagt.
Und es ist Polemik, hier mit Passagen aus der Performance selbst so umzugehen,
als seien das gesicherte Zitate der Eltern von Performerinnen und Performern, und dann auch nur den Teil herausgreifend, der in IHR KONZEPT paßt. Hieß es nicht
einerseits "werden ausgestellt" und andererseits "aber das finden sie gut so" ?
Und macht nicht gerade das einen Großteil der hier zu registrierenden Spannung aus: Wie kann jemand das unter Umständen gut und richtig finden, wenn ein Ausstellungstatbestand erfüllt scheint ? Ist nicht das die Frage bezüglich der Eltern aus dieser Passage ?? Skandalon der "Menschenvernutzung" oder kaum zu verhindernder Tatbestand ! Zahlenmensch und Sie tun ja glatt so, als habe es hier quasi eine gescheiterte Elterninitiative gegen das Projekt gegeben. Wenn mein Vergleich dennoch hinken mag, könnte das dann so garnichts mit der Grundproblematik dieses Abends zu schaffen haben ? Und warum soll man nicht von den vertrauteren Eltern-Kind-Verhältnissen bezüglich des Schauspielberufes ausgehen, wenn man sich der hiesigen Situationsschilderung annähern möchte ??
Als gäbe es derlei Diskussionen nicht ebenso oder vergleichbar mit den Trisomie-21-
Performern ! Natürlich könnte ich mir auch einen ganz anderen Theaterabend vorstellen, irgendein Stück, bei dem nicht ein Deut darauf verweist, daß wir es mit Trisomie-21-Darstellern zu tun haben werden, von einem Thalheimer oder Nübling oderoderoder inszeniert, wo dann alle hinlaufen, KritikerInnen von land- und überlandauf und -ab, um dann ganz unversehens und überraschend vor dem Inszenierungsgeschehen zu stehen, aber ich glaube sogar, daß für diesen Abend ganz entscheidend war und ist, daß er eine frontale, geradezu an "moderne Formen" wie "Theatersport" gemahnende Aufstellung gewählt hat: gerade damit wir die Möglichkeit bekommen, so rein sensoriumstechnisch, uns darin zu üben, mit allerlei Markierungen vertraut zu machen: mitunter fängt man ja mit den gröbsten an vor aller Verfeinerung; insoweit scheint das Konzept doch ihren Grundannahmen (sogar über Ihnen völlig fremde Poster) sogar sehr entgegenzukommen, wenn ich mir erlauben darf, darauf hinzuweisen.
was «The show must go on» betrifft: Die zögerliche Anfrage, dieses Stück mit den Schauspieler/innen vom Theater HORA zu machen (und zwar als Eröffnung von deren eigenem Festival), war übrigens wirklich der Anlass für meine Kontaktaufnahme zu Jérôme Bel (und letztendlich die Initialzündung für «Disabled Theater»). Zögerlich war diese Anfrage, weil ich mir (so für mich) von Bel zwar schon lange eine Arbeit mit «geistig behinderten» Schauspieler/innen erhofft hatte und in diesem Sinn «The show must go on» - seine bislang einzigen Arbeit, die mit seiner Erlaubnis auch nachgespielt werden kann – als eine Möglichkeit erschien, ihn mit dieser Art von Schauspielern in Kontakt zu bringen, mir andererseits aber justament das Projekt «The show must go on mit geistig behinderten Schauspieler/innen» relativ komplett der Logik/Ironie dieses Stücks zu widersprechen schien bzw. Gefahr zu laufen drohte, Leute mit «geistiger Behinderung» als komplett doof, als Idioten zu verkaufen. Denn gewissermaßen funktioniert «The show» ja über eine höhere Form von Idiotie: restlos alles, was die Songtexte aussprechen, wird hier (von Inszenierung und eben auch den Performern) doofstmöglich beim Wort genommen und als Befehl verstanden (Songtext sagt: «Let’s dance» - daraufhin tanzen alle, usw.). (Von daher auch dort bereits – und in weiteren früheren Arbeiten von ihm auch - «eindimensionale Befehle» - nur eben hier vom Mainstream-Pop und nicht von einer Übersetzerin oder einem Übersetzer).
Auf viele andere Aspekte, die Sie in Ihrer Kritik ansprechen, kann ich kaum reagieren, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstehe:
1.Weshalb genau ist «Disabled Theater» in Ihrem Augen eine «künstlerische Bankrotterklärung»?
2.Warum ist sein Ansatz für Sie «politisch unterkomplex», bzw. was wäre für Sie politisch angemessen?
3.Warum genau macht Sie Bels Art, sich die HORA-Performer vom Leib zu halten, fassungslos? In welcher Form hätte er sich ihnen, Ihrer Meinung nach, in dieser konkreten Arbeit annähern können/sollen?
4.Ja, natürlich stellt Bel seine Performer/innen aus (man könnte auch sagen: vor), das ist, meiner Meinung nach, das Grundprinzip dieses Stücks – wer stellt das denn in Zweifel?
5.Wie meinen Sie das: «Ein Theater, das blöder tut, als es selbst ist»? (Mal abgesehen davon, dass das vielleicht die Grundstrategie praktischer aller Bel-Stücke ist: An welchen Punkten tut «Disabled Theater» blöder, als es ist?)
6.Was meinen Sie mit «die Konkretion der Körper» auf einen Begriff bringen? Und warum darf man das Ihrer Meinung nach nicht, wenn sie, wie Sie schreiben, sichtbar ist?
7.In welchen sonstigen Zusammenhängen haben Sie Dolmetscher/Übersetzer erlebt, die sich als Person einmischen in den Verlauf von Gesprächen und Arbeitsprozessen?
8.Welche «spezifischen Fähigkeiten» der Schauspieler, mit denen Bel Ihrer Meinung nach nichts anzufangen wusste, meinen Sie genau?
Über Ihre Erläuterungen zu diesen Punkten würde ich mich also freuen, denn grundsätzlich bin ich sehr an allen Debatten interessiert, die Hinweise darauf geben können, wie Theater mit «geistig behinderten» Performer/innen denn zukünftig aussehen könnte oder sollte oder eben auch nicht aussehen sollte.
Liebe Grüße,
Marcel Bugiel
P.S.: Bei der Version von «The show must go on», die Bel Anfang dieses Monats im Schiffbau vom Zürcher Schauspielhaus gezeigt hat, waren dann übrigens wirklich zwei Schauspieler vom Theater HORA auf wunderbar selbstverständliche Weise Teil des Ensembles: Remo Beuggert und Damian Bright.
Wenn ich da jetzt etwas zu flapsig formuliert habe, dann bitte ich das zu entschuldigen. Ich kann mir allerdings auch erklären, warum; ich hatte mich über Ihren Post geärgert (und mich gefragt, ob ich da überhaupt darauf antworten soll), weil der mir unpassend und auch unsensibel schien: Die konkrete Sorge der Mutter hat doch nichts mit diesem allgemeinen "Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder Schauspieler werden, weil das kein bürgerlicher Beruf ist"-Zeug zu tun – außer dass es um Eltern und ihre Kinder geht. (Dass man damit auch so ne Position wie die der Mutter abwerten kann, will ich jetzt nur am Rande erwähnen).
Dass ich mir vor allem Belege suche, die für meine These sprechen, aus denen sich meine Wahrnehmung ihr Urteil gebildet, ja, das ist MEIN KONZEPT, ich finde das bloß nicht so skandalös, sondern eher verbreitet; sie nennen es Argumentation. Die Frage ist doch, wie überzeugend das je gelingt.
Von Tatbeständen würde ich nicht sprechen wollen, wir sind ja nicht vor Gericht. Beste Grüße
Liebe Inga,
ich hatte das mit uns beiden und Schmidts Katze nur geschrieben, weil Sie sich doch einen Post früher auch an diesem Geklatsche gestört hatten. Das mit dem Lernprozess versteh ich nicht ganz. Wie ich weiter oben geschrieben habe, hat die Mehrheit der Leute am 11.5. in meinen Augen auch deshalb so krass geklatscht, weil es für einen selbst im Publikum als "normaler" Mensch einfacher ist, ganz laut und demonstrativ die "behinderten" Menschen auf der Bühne toll und super zu finden, anstatt sich zu fragen, ob solch ein Paternalismus nicht eigentlich unerträglich ist und nur die eigene Unsicherheit kompensiert. Gelernt wird da gar nix, da wird etwas manifestiert, die – wir oder: Ach, die Behinderten, die tanzen so schön.
Man kann sicher versuchen, wohlmeinende Erklärungen für den Titel "Disabled Theater" zu finden, als Metapher für wasweißich. Es scheint mir nur absurd und unnütz, weil die konkrete Lesart eben die für mich überzeugendste ist, zumal Bels Titel immer auch konkret waren: Er macht Theater mit "Behinderten", also nennt er das Stück "Behindertes Theater". Ich würde ja sogar glauben, dass er das nicht böse meint oder macht, weil er ein böser Mensch ist, es ist für das Resultat – die alte Markierung einer Differenz, die ich unproduktiv und konservativ finde – nur relativ unerheblich. Dass Bel kein Bewusstsein von dem Problem solcher Markierungen hat, zeigt auch, dass er mit Hinweisen, dass etwa ein Begriff wie "Disabled" in der englischsprachigen Diskussion so eher nicht mehr verwendet wird, nichts anfangen kann.
jetzt kann ich diesen Satz auch mal schreiben: Ich finde es gut, dass Sie hier kommentieren.
Um mit einem Missverständnis aufzuräumen, ich will nicht sagen, Bel hätte "The Show must go on" machen sollen am Theater Hora. Ich habe das nur zum Vergleich heranziehen wollen, um zu zeigen, wie klug und durchdacht Bel Theater machen kann. Ich bin ja weder Dramaturg noch Jerome Bel. Ich teile Ihre Ansicht, "The Show" sei eine höhere Form von Idiotie nicht beziehungsweise nur in dem Sinne, der Idiotie hier nicht pejorativ verstünde (was Ihre Formulierung mir aber zu tun scheint), sondern als eigene Form von Weltwahrnehmung, wie man sie bei Beckett oder auch in dem sehr guten Film mit dem leider etwas dämlichen deutschen Titel "Dinner für Spinner" finden kann.
"Doofstmöglich" wäre nicht das Attribut, das mir zu "The Show" einfällt, das Stück handelt nicht davon, dass Schauspieler so bescheuert sind, dass sie nur Botschaften aus eingängigsten Popsongs verstehen können. Das Stück erzählt in meinen Augen dem Theater seine Geschichte anhand von Popsongs, die gerade im weihevoll-bildungswichtigen deutschen Theater als nicht ernstzunehmende Kunstform gölten. Die ersten beiden Songs formulieren doch nix anderes als den alten Tragödienklassiker von der Einheit des Ortes und der Zeit – bloß eben mit Popmusik. Das ist sehr smart, und vor allem gelingt es Bel, obwohl man das Prinzip nach dem dritten Song oder spätestens bei "Let's Dance" verstanden hat, das Publikum immer wieder zu überraschen. Die Idee von "The Show" mag einfach sein (Popsongs ernstnehmen), aber das Arrangement, seine Erzählung ist dramaturgisch komplex.
Das fehlt mir – zu 1.) – bei "Disabled Theater", dort ist die Erzählung eben ziemlich plan (auch gemessen an den anderen Bel-Arbeiten, die doch immer originell kombinieren), treten auf, stellt euch vor, tanzt euer Lieblingsstück, sagt, wie ihr's fandet, tanzt alle euer Lieblingsstück, zu Ende. Das zweite Lieblingsstücktanzen könnte man als retardierendes Moment begreifen, die Definition des Endes als originellsten Umgang mit dem Zeichensystem, über das Bel regiert, weil hier Aufforderung und – eigentlich unübliche – deutliche Schlussansage in eins fallen. Vielleicht bin ich da ein bisschen ungerecht gegenüber diesem Einfall, mir schien er, nach den problematischen Markierungen eben auch nur wie der Taschenspielertrick eines Konzepttheatermachers, der nicht recht weiß, wie er eine Inszenierung zu Ende kriegt, die ihn nie richtig interessiert hat. Wenn es bei der Kunst darum geht, die je passende Form für die Erzählung zu finden oder die Erzählung in der sich je adäquatesten Form ereignen zu lassen, dann ist das Bel m.E. nicht gelungen. Er protokolliert Differenz und gibt das als Kunst aus.
Vermutlich werden Sie oder andere mir entgegnen, und das wäre dann zu 2.), dass das Thema des Stückes – siehe auch Ihr 4.) – bewusst und explizit die Behinderung der Performer ist. Dann machen die Hausaufgaben Sinn (die, wie weiter oben angedeutet, ich für eine öde Form halte), und vielleicht auch der ganze Abend. Aber da entsteht für mich ein Problem, das ich mit "politisch fragwürdig" bezeichnet habe: Jerome Bel muss 2013 ganz tapfer Menschen mit Behinderung als Menschen mit Behinderung ausstellen, damit wir ignoranten Zuschauer etwas total Verdrängtes facen? Echt? Diese Position hätte Eindruck gemacht kurz nach der Erkenntnis, dass eine "geistige Behinderung" sich vielleicht doch nicht göttlichem Fluch oder religiösem Fehlverhalten verdankt, also, etwas polemisch gesagt, kurz nach der letzten Hexenverbrennung. Aber im Jahr 2013, wo der Diskurs eben schon zum Begriff "Inklusion" gefunden hat, muss das doch radikal antiquiert wirken. Aber weil Bel es aber macht, geht's als Kunst durch? Story. Ich habe weiter oben schon beschrieben, wie absurd es mir vorkommt, dass man mit der Reproduktion der Differenzmarkierung auf solch explizite Weise für totalmeta und vollreflektiert gehalten wird, weil man sich mit smarten Arbeiten einen Namen gemacht hat. Die Erkenntnis, dass Menschen mit Trisomie 21 tanzen können, überrascht mich jetzt nicht so, und dabei würde ich noch nicht behaupten wollen, ich sei ein besonders origineller Typ. Das kann's doch nicht sein, dass man 2013 mit solchen Selbstverständlichkeiten beeindrucken kann.
3). Fassungslos macht mich das, weil ich denke, dass man mit "Anderen" so nicht umgehen sollte, es gilt, auch wenn das margotkäßmannhaft unlässig klingt, das Gebot der Mitmenschlichkeit. Jetzt geht es nicht darum – was mir vermutlich Leute einwenden werden, die der Meinung sind, dass nicht-diffamierende Sprachregelungen Sachen beschönigen wollen, so wie das die Sprache des Kapitals mit ihren eigenen Schweinereien tut –, etwas zu unterdrücken und zu verschweigen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Menschen, aber das zu akzeptieren, heißt für mich zuerst zu verstehen, dass ich nicht die Norm bin, weil ich weiß, männlich, heterosexuell und "normal" bin. Und deshalb muss sich mir auch kein Theater-Hora-Performer mit seiner Behinderung vorstellen – was weiß ich denn, wenn ich das weiß? Nix. Aber der Performer muss wieder die Geschichte erzählen, die er immer erzählt. Das finde ich zuallererst auch unendlich langweilig.
Was Bel hätte tun können? Ich bin, wie gesagt, weder Dramaturg noch versteh ich Kritik als Hinweisgegebe aus Besserwisserei. Grundsätzlich würde ich sagen, dass man Dinge auch lassen kann, wenn man merkt, das sie einen nicht interessieren (wobei ich natürlich nicht unterschlagen will, dass die Prominenz von Bel dem Theater Hora und der hier geführten Diskussion durchaus so-oder-so zu Sichtbarkeit verhilft, die bestimmt auch positive Seiten hat). Beziehungsweise, dass man einfach seine eigenen Unsicherheiten in Bezug auf das "Andere" thematisiert, anstatt das "Andere" als das "Andere" hinzustellen und dann zu sagen, es ginge um die eigene Verunsicherung/Unsicherheit.
4.) Zwischen aus- und vorstellen würde ich differenzieren. Ein Großteil der Kritik, die applaudiert, und der Wissenschaft, die erklärt, verwendet Energie ja gerade darauf, den Vorwurf des Ausstellens zu entkräften. Das sind so Dilemmata, die aus dem spezifischen Diskurs kommen: Der Vorwurf des Ausgestelltwerdens hängt an einer Arbeit, wie Bel sie am Theater Hora gemacht hat, immer schon dran, deshalb muss er ihn reflektieren und sich dazu verhalten, ob er will oder nicht, es gibt da keine unschuldige Position. Und dann zu sagen, ich geb' so voll auf die Zwölf, ich stell' erst recht aus wie in der Eingangsaufforderung "Lasst euch ne Minute lang angucken" (die dramaturgisch bei 11 Leuten auch unendlich redundant und unspannend ist), das ist darauf leider keine originelle Antwort, sondern im Grunde nur das Problem, zu dem sich verhalten werden müsste.
5.)/6.) Blöder ist das Theater – im allgemeinen und das von Bel im besonderen –, weil es ja Mittel hätte, um die Fehler nicht zu machen, die "Disabled Theater" macht. Wenn ich einen Text schreibe als Journalist und darin über "Andere" spreche, dann muss ich einen Begriff finden, der womöglich Sachen unterschlägt. Das Geile am Theater ist – es kann handeln und die Begriffsbildung dem Publikum überlassen. Ich hab' doch ein viel genaueres Bild von Remo Beuggert, wenn ich ihn ein Abend lang auf der Bühne handeln sehe, als durch die Information, er habe eine Lernbehinderung, unter der ich mir nichts vorstellen kann. Warum muss das also dazu gesagt werden, wo es doch komplett überflüssig ist? Das ist so ein Kneifzangentheater, das Bels Smartness und der – einmal angenommenen – Klugheit des Publikums Hohn spricht.
7.) Der Übersetzer soll sich ja nicht einmischen, auch hier ist es nur diese bewusste Trennung, die nervt, die eben die Distanz zeigt, die Bel zum Ganzen hat. Der Übersetzer so total ungerührt, ohne jede Emotion (auch als Julia Häusermann ihn offensiv antanzt) – das erzählt mir alles etwas über eine Konzeptstraightness, die mich nicht interessiert und die ich fehl am Platz finde. Wie bei "The Show" der DJ siedelt der Übersetzer hier auf einer anderen Ebene als die Darsteller, er ist in gewisser Werkzeug des Demiurgen/Regisseur Bel, im klassischen Drama wäre das die Regieanweisungen und Kapitelüberschriften (während die Darsteller der Text wären). Bei "The Show" ist der Auftritt des DJs ("Private Dancer") eine der klugen Peripetien des Stücks, dieser betont cool-humorlose Übersetzer sitzt dagegen nur rum und gibt Botschaften weiter. Kann man sich deutlicher distanzieren? Und wenn er schon keinen eigenen Auftritt hat (was ja in der Logik von "The Show" durchaus interessant gewesen wäre herzustellen), wieso kommt er nicht mal zum Applaus auf die Bühne, auf der den ganzen Abend gesessen hat? Diese zwanghafte Trennung von "Behinderten" und "Normalen" ist das politisch Rückwärtsgewandte/Konservative an Bels Abend.
8.) Ich meine damit nur, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass dieses Differenzbefehlsgetue das einzige ist, was sich zwischen den Theater-Hora-Darstellern und einem an sich ja klugen Regisseur wie Bel ereignen kann. Dass es da nicht andere Formen geben könnte, wie beide miteinander kommunizieren und zum Publikum, ohne diese nichtssagenden Schubladenabstraktionen von "Andersheit".
Immer alles Schöne
PS. Ihr PS. ist doch genau das, was ich meine.
Und: tolle Funktion hier ("Dein Kommentar ist zu lang"), vielleicht sollte man an einem gewissen Punkt besser miteinander reden, schon weil das Schreiben so exhausting ist
Herr Dell ! Es wimmelt in Ihren Auslassungen nur so von Werturteilen, ich schlage vor, mir nicht den Splitter aus dem Auge ziehen zu wollen, um dann mit der von Ihnen erwähnten Flapsigkeit nur umso fröhlicher fortzufahren. Wenn Sie denn meinen, etwas sei nicht skandalös, weil es unter Umständen weit verbreitet ist, dann spricht das nicht sonderlich für Ihr Verfahren, mit den eigenen Thesen zum Zwecke ihrer Erhärtung aus Wahrnehmungen Urteile gerinnen zu lassen. Von einem Skandal habe ich bezüglich Ihres Vorgehens, hier sich etwas passend zu schreiben, garnicht geschrieben, aber daß es in der Tat leider ziemlich üblich ist, etwas aus Zusammenhängen oder Paranthesen zu reißen, um es seiner sogenannten Argumentation einzuverleiben, sehe ich auch (Leser im Gefängnis ihrer Überzeugung). Sie scheinen es sehr "smart" zu finden, sich diesem Trend anzupassen, muß ich annehmen. Wenn Sie denn den Begriff "Tatbestand" für die Juristerei reklamieren wollen, wundern Sie sich nicht, wenn er irgendwann auch nur noch dort vorkommt. Aber, wenn wir hier schon von einem möglicherweise erzkonservativen Theateransatz, so verstehe ich Sie, sprechen, und von unnötig unsensibler Markierung, ja Ausstellung und Vom-Leibe-Haltung, wenn ein Kunstvorgang quasi die Frage im Raum erscheinen läßt "Dürfen die das ?" und somit gewissermaßen Stadium oder Diskursebene zu wechseln sich anschickt, frage ich mich, warum nicht auch von Tatbeständen handeln (Sie gehen ja ganz explizit davon aus, daß Herr Bel ganz anders hätte mit dem Theater inszenieren hätte können und eigentlich müssen; ebenso urteilen Sie über diverse KritikerInnen des Abends - nicht ganz zu unrecht meineserachtens-); es ist gewiß nicht nur ernst, was irgendwie gerichtsnotorisch verhandelt werden kann, und es ist eine ernste Sache, daß Menschen aus lauter nicht-gerichtsnotorischen Tatbeständen heraus und mit diesen es fertig bringen zu leben, ja, daß sie mitunter vielleicht gerade daran zugrundegehen, daß und wie sie dies fertig bringen (siehe Robert Musil "Die Schwärmer").
Schön, daß Sie mich darüber aufklären, daß man auch die Rollenposition der Mutter verletzen könnte. Sie tun es meineserachtens dann sogar im nächsten Atemzug, indem sie den, nennen wir ihn einmal so, "Berufsfindungsdiskurs Eltern/Kind" hier willkürlich und ebenso strikt von der "Sorge einer Mutter" abtrennen. Ich könnte ein Vater, ein Onkel oder eine mich "Mario Kläve" nennende Mutter einer Darstellerin, eines Darstellers sein, oder vielleicht arbeite ich über Jahrzehnte mit einem Trisomie-21-Personenkreis und dennoch den von mir gemachten Einwand formulieren. Ihre Formulierung scheint mir das auszuschließen, daß der hier umrissene Personenkreis so schreiben könnte wie ich es gegenüber "Zahlenmensch" tat (der abgetaucht ist, wie so viele, die diesen Abend offenbar für wertvoll hielten, beispielsweise der seinerzeitige Nachtkritiker oder Leute aus der TT-Jury etcpp.), also erzählen Sie mir nichts darüber, was es heißt, daß es hier nur um Formulierungen geht und nur diese interessant seien. Was sich bei Ihnen wie ein generelles Verdikt über die fehlende Sensibilität der Theaterszene allgemein liest, findet offensichtlich (siehe PS-Notiz des Dramaturgen) Gegenbeispiele,
Futter für Ihre Wahrnehmung zur Gerinnung Ihrer Urteile. Nein, Ihre "Argumente" überzeugen mich bislang wirklich nicht. Daß "Disabled Theatre" kein gebräuchlicher Begriff im Englischen ist,
läßt Sie auf keine anderen Gedanken kommen, als wiederum einer anderen Person "Problem- oder Sachbewußtsein" abzusprechen: traurig, daß das Gebräuchliche Sie offenbar so mitreißt, und sie dann nicht müde werden, von "Konservativen Ansätzen oder Konzepten", ja, zu handeln..
vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort, die mir vieles wirklich vieles erklärt, und überhaupt dafür, dass Sie diese Debatte ausgelöst haben (und auch am Laufen halten), die ich wichtig und für mich persönlich natürlich total interessant finde.
Erst einmal zu «The show must go on»: Ich liebe diese Arbeit auch sehr, und das mit der höheren Idiotie und dem doofstmöglich habe ich wertneutral bis positiv verstanden, genau wie Sie im Sinn von Beckett (oder auch irendwelcher Zen-Meister oder so). Das Problem sah ich halt nur darin, dass es eben grundsätzlich andere Sichtweisen/Projektionen auf Leute mit einer «geistigen Behinderung» gibt als auf sozusagen nichtbehinderte Schauspieler/innen/Tänzer/innen. Und das führt dann dazu, dass ein und derselbe Theatervorgang je nachdem komplett anders gelesen wird. Also wenn zum Beispiel bei einer Nichtbehinderten-Theaterproduktion vorher erzählt wird, worum es in der folgenden Szene gehen wird, dann hat man eher so Referenzen wie Brecht, episches Theater und so, während bei «Disabled Theater» das Pina Bausch-Zitat (u.a. verewigt in dem Titel der Dokumentation von Chantal Akerman «Un jour Pina m’a demandé» (1983) – in der französischsprachigen Version von DT heißt es deswegen wortwörtlich «Jérôme a demandé») ganz schnell gedeutet wird im Sinne von: Na klar, der/die muss es denen ja sagen, weil sie könnten es sich ja nicht merken. (Was natürlich kompletter Quatsch ist.) Und bei «The show must go on» hatte ich einfach auch die Angst, dass das, was bei nichtbehinderten Performer/innen ganz klar als Ironie gedeutet wird, als Auseinandersetzung mit dem, was Theater ist oder sein könnte und als bewusste Reduktion auf das Allereinfachste, Allergrundsätzlichste, bei behinderten Performer/innen im Gegenteil gedeutet werden würde als: sie für blöder verkaufen als sie sind.
Was das Plane der Erzählung betrifft, das, wie Sie schreiben, «tapfere Ausstellen» von Menschen mit einer Behinderung in «Disabled Theater» und die weiteren Argumente in diesem Zusammenhang, fällt es mir schwer, zu antworten, ohne da Erfahrungen aus der Probenzeit, eigene Hoffnungen an das Projekt und ursprüngliche Absichten von Jérôme Bel mit hineinzumischen, die selbstverständlich jetzt keine Rolle mehr spielen. Jetzt geht es nur noch um das Stück, wie es jetzt ist, und von dem sind Sie vielleicht der viel schlauere, sehendere Zuschauer als ich. Nur so viel: In dem Projekt, wie es ursprünglich gedacht war, war das, was inzwischen zu sehen ist, lediglich der erste Teil. Dass der dann letztendlich das Ganze wurde, hat vor allem mit zwei Dingen zu tun:
Zum einen mit den Publikumsreaktionen, die bereits in den ersten Try Outs in mehrererlei Hinsicht heftig waren und Jérôme Bel noch klarer machten, dass das, was die HORA-Schauspieler/innen bei der ersten Begegnung in ihm ausgelöst hatten, ein sozusagen universelleres, nicht bloß ein individuelles Phänomen waren, und gewissermaßen bereits das Thema des Stücks.
Zum anderen die Tatsache, dass er in seiner Wahrnehmung mit den nun im Zentrum stehenden Tänzen der HORA-Leute gewissermaßen etwas gefunden hatte, wonach er immer schon eigentlich gesucht hatte: eine ihm entsprechende Form von Tanz.
Dass dies von kaum jemandem so wahrgenommen wird, dass sich eben die Wahrnehmung bei den Allermeisten bei der Erkenntnis stehen bleibt, dass, wie Sie schreiben, «Menschen mit Trisomie 21 tanzen können», und nicht zu Fragen führt wie: Was ist das, was hier passiert, ALS TANZ? Warum können Tanzformen wie diese meine Aufmerksamkeit 11 mal 3-5 Minuten lang halten? Welche Rolle spielt Virtuosität oder Nichtvirtuosität in diesen Tänzen? Welche Form von Können oder auch Nichtkönnen ist hier am Werk? Geht es hier, wie bei «The show must go on» noch um ein demokratisches Verständnis von Tanz («Jeder Mensch ist ein Tänzer»), oder sind hier im Gegenteil besondere Begabungen am Werk, die sich bloß leider den herkömmlichen Maßstäben entziehen? usw., dass Fragen wie diese nur ganz selten zu ihrem Recht kommen, das hat dann vermutlich wieder, s.o., etwas mit der Sicht des Publikums auf Leute mit einer Behinderung zu tun, mit einer Sicht, die alles Weitere verdeckt.
Die Zuschauerreaktionen und dass man, wie Sie schreiben, «2013 mit solchen Selbstverständlichkeiten beeindrucken kann», finde ich wie gesagt auch nicht toll. Aber das kann man, finde ich, gar nicht der Arbeit anlasten, sondern muss es irgendwie erstmal als den Stand der Dinge hinnehmen und feststellen: Alles, was in den letzten 20, 30 Jahren an Aufklärungsarbeit, Umbenennung von Aktion Sorgenkind in Aktion Mensch, Theater RambaZamba & Co, Inklusionsdebatte usw. geschehen ist, hat den tendenziell eher nichtbetroffenen, einfach nur an Theater interessierten, tendenziell eher überdurchschnittlich gebildeten Theaterzuschauer in seinem Verhältnis zu behinderten Performer/innen auf genau diesen Stand gebracht. Hm. Und davon ausgehend stellt sich mir dann die Frage: Woran liegt das? Und könnte irgendetwas anders laufen (in der Gesellschaft, im integrativen Theater), damit das in nochmal 20, 30 Jahren dann vielleicht einmal anders ist und so ein Stück eben nicht mehr so funktionieren würde?
Was die Markierung der HORA-Leute als „Andere“ betrifft: Heikler Punkt, sehe ich auch so. Aber ich frage mich, ob gerade das Benennen der Markierung, die ja vor diesem Theaterabend und eh schon stattgefunden hat, nicht auch so etwas wie einen kathartischen Effekt produzieren kann. Klar, die übliche Strategie ist natürlich: Ich behaupte eine Selbstverständlichkeit, eine Problemlosigkeit, wo es eigentlich nicht selbstverständlich ist, und beweise damit, dass es eigentlich selbstverständlich sein könnte und sollte. Aber ich mache immer wieder die Erfahrung, dass diese Strategie eben nicht zwangsläufig zu einer Auflösung der Vorurteile führt, sondern mitunter auch einfach nur zu einer Verdrängung. Die Leute heute wissen dann alle, dass man «Behinderte» ja nicht mehr sagen darf, denken das, was mit diesem Begriff verbunden ist, aber heimlich trotzdem noch genauso. Und ich frage mich, ob es deswegen nicht auch eine Strategie sein kann, einfach mal ganz naiv das zu benennen, was da sonst unausgesprochen den Blick auf Wichtigeres versperrt, und dann ist es abgehakt und wir können uns anderen Dingen zuwenden. (Keine Ahnung, ich stelle das als Frage.)
Und die Markierung als „Andere“ durch den Umstand, dass das Verbindende dieser Zusammenstellung von Leuten allein der Umstand ist, dass sie alle – aus welchem Grund auch immer - einen Behindertenausweis haben: Die Problematik davon sehe ich auch, aber das ist eine Markierung, die ja an ganz anderer Stelle vollzogen wird: Von einer Gesellschaft und einer Theaterlandschaft und Theatern, die – zu Recht oder nicht zu Recht - davon überzeugt sind, dass man Leute mit einer geistigen Behinderung am Besten unter sich und in darauf spezialisierten Theatern spielen lässt. Jérôme Bel bildet die «zwanghafte Trennung von «Behinderten» und «Normalen»», von der Sie schreiben, also letztendlich nur ab – klar, er reproduziert sie damit auch, aber indem er sie so überdeutlich in Szene setzt, stellt sie immerhin zur Disposition.
Ausserdem denke ich, dass es gerade diese Markierungs- und Distanzierungsverfahren sind, die die Heftigkeit der Publikumsreaktionen bewirken – weil eben kein linksliberal aufgeklärter Zuschauer unserer Tage diese Trennung aushält, und das Spiel der Reaktionen dann darin besteht, irgendwie trotzdem ein Zusammenkommen und symbolisches Verschmelzen zwischen „uns“ und „denen“ herzustellen. Dass die also letztendlich nicht das reaktionäre, rückständige Element des Stücks sind, sondern – gewollt oder ungewollt – vom letztendlichen Effekt das gutmenschlerischste. Womit ich persönlich dann irgendwie mehr Probleme habe als mit der Markierung einer aktuell gesellschaftlich nun einmal bestehenden Differenz. Weil ich mir wünschen würde, dass man die als Bild einfach mal etwas länger aushält (tut man im Leben draussen ja auch ohne Probleme) und lieber mal etwas nachdenkt darüber, als das gleich in Applaus wieder zu entladen – auch, weil ich denke, dass das reale Zueinanderkommen der Auflösung einer solchen Trennung irgendwie irgendwo irgendwann vielleicht dann doch ein sehr viel komplexerer und widersprüchlicherer Vorgang ist.
Zu Ihrem Punkt 4.): Da kann ich nicht viel zu sagen, denn ich nehme das anders wahr, für mich persönlich ist die 1-Minuten-Szene fast die schönste, spannendste und vielschichtigste – auch die, die bei mir die meisten Assoziationen auslöst, die meisten Fragen zu Theater und unseren Konzepten von «Behinderung».
Hiermit breche ich erstmal ab,
liebe Grüße und vielleicht wirklich mal auf einen Kaffee,
Marcel Bugiel
P.S.: Ein anderes Mal möchte ich mich gerne auch noch zu den Kommentaren der Mitdiskutierenden äussern (Inga, Mario Kläve, ...), aber das überfordert mich zeitlich gerade.
Liebe Inga, Sorge (der Mutter/Eltern) , die selbstverantwortete Lebensführung und die mögliche Fallibiltät eigener Entscheidungen bzw. Handlungen schließen einander nicht aus und können sehr komplex nebeneinander bestehen und ineinander greifen.
Weil ich den HORA-Darstellern erwachsenes und selbstverantwortetes Handeln ebenso zutraue wie Ihnen, Herrn Dell oder mir, darum war es mir darum zu schaffen, ein Kontinuum aufzumachen bezüglich dessen, was Sorge und Vertrautheit mit Markierungen so alles heißen kann. Ich ärgerte mich auch ein wenig, wie "Zahlenmensch"
aus vermutlich berechtigter Kritik an den Zuschauerreaktionen in Avignon eine Volte gegen die Einwände von "Sascha Krieger" und "124" destillierte und dabei großzügig die Generalkritik durch Herrn Dell bezüglich der politischen Blindheit des Theaters nur so nebenbei als etwas zu weit gehend links liegen läßt und empfand das "intimistische Argument" (tut mir leid, ich sehe dann sogleich das Kind und die Mutterbrust und daß ich da nicht viel verloren habe und so) daraus als Totschlagargument, erst recht, weil Herr Dell diesen Teil seiner (taktischen !) Argumentation einverleibte, ohne bei aller sonstigen (scheinbaren) Genauigkeit bei seinen Antworten
die Nachfrage zu tätigen, was genau "Zahlenmensch" hierbei so überzogen fand an den Schlußfolgerungen seines Artikels (tatsächlich ist dieser ja der Gegenstand dieses Threads). Ich persönlich unterscheide (ein wenig in einer "Schachanalogie") zwischen taktischen und positionellen Argumentationen und neige stark zur positionellen, währenddessen das Klima auf nachtkritik de. allgemein und Poster wie Herr Dell und "Zahlenmensch" jetzt speziell und konkret eher zur taktischen tendiert/tendieren (was es mir zuweilen nicht leicht macht). Aber das nur nebenbei. Daß Herr Dell hier die Gelegenheit eröffnet hat, über mehr als nur diese Inszenierung zu sprechen, sondern ebenso über den Prozeß, der dazu geführt hat/haben mag, wie diese jetzt zu den bemerkenswertesten 10 zum TT 2013 geladenen gehören konnte, (das Stichwort "Ironie" fiel hier verschiedentlich), ist erfreulich, währenddessen ich das Verdikt über die politische Blindheit des Theaters daraus für fahrlässig und gefährlich halte (wie schnell ist man da im Fahrwasser so manches SPIEGEL- oder BILDARTIKELS über das ach so pervertierte Theater aus dem Elfenbeinturm) und so bin ich freilich weiterhin bereit, das ausführlicher zu diskutieren. Es ist ja richtig, daß nicht alles, was eine Inszenierung auslöst auch durch sie intendiert war, intendiert werden konnte überhaupt, und die Tendenz, jede erfreuliche Note aus einer Inszenierung auf das Konto der Inszenierungskunst des Regisseurs zu buchen, ist auch ziemlich üblich, kein Skandalon unbedingt, aber oftmals ärgerlich; und es ist ebenso richtig, daß die durchschnittliche Zuschauerin/der durchschnittliche Zuschauer, aber auch in der Regel Kritikerin und Kritiker, mit den Markierungen einer Person weniger vertraut sind als eine (im Normalfall) Mutter dieser Person, nur geht daraus doch wohl kaum hervor, daß die KritikerInnen hier das Kritisieren und die KommentatorInnen das kommentieren lassen sollten (so will ich "Zahlenmensch", der selbst kommentiert !, letztlich auch nicht verstehen, er will meineserachtens zu Bedenken geben; aber Inga, weil ich den HORA-Darstellern die Einnahme einer "Rollenposition" natürlich zutraue (sie sind SchauspielerInnen !), wehre ich mich gegen die Tendenz zum Totschlagargument aus dem Zitat eines Halbsatzes aus einer Inszenierung !). Zum Prozeß, der die Einladung von "Diabled Theatre" forcierte, zählt ebenso der seinerzeitige Nachtkritikthread als auch die Berichterstattung des Blätterwaldes zB. von der "Documenta 13" oder direkt aus Avignon !
Wo waren die SchreiberInnen des FREITAG denn zu diesen Gelegenheiten ? Beziehungsweise, das ist eine ernsthafte Nachfrage, wer berichtete und wie für diesen von jenen Gelegenheiten. Die Inszenierung sei schwach, aber problematisch seien doch die Kritiken daraufhin, der Prozeß hin zum TT, Dell wendet die Sache dann aber abermals wieder gen "politische Blindheit des Theaters".
Mich wundert tatsächlich, wie ruhig das hier einige Personen hinnehmen: "nur" das Theater scheint es ja nicht zu betreffen..
vielen Dank für Ihre Sicht der Dinge, das ist sehr aufschlussreich.
Will nur kurz auf das noch mal eingehen, was mir wichtig scheint, den Rest dann, wie gesagt, besser im direkten Gespräch. Ich denke schon, dass die Inszenierung was für die Zuschauerreaktionen kann, obwohl ich Ihnen beipflichten würde, dass gerade das Klatschen eine Brücke bauen will, dass da was nicht ausgehalten werden kann, etwas zugeklatscht werden muss: Stockholm-Syndrom mit der eigenen Verunsicherung. Aber da kommt man nicht ran (oder raus), wenn die Hora-Performer ihre „Behinderung“ sagen, das, was sie unterscheidet aus Sicht der anderen. Eigentlich müsste doch Bel sagen, was ihm unwohl ist, ganz individuell (dass er dann aufs „Universelle“ erkennt, ist natürlich ein toller Trick). Stattdessen müssen die Menschen mit Behinderung sich mit ihrer „Behinderung“ vorstellen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass ein Mensch, der Trisomie 21 hat, sich den ganzen Tag erzählt: Ich bin ein Mensch mit Trisomie 21. Der ist doch zuerst einmal sein eigenes Ich, aber an das muss er dann die Erklärung hängen, weil wir „nicht-behinderten“ da irgendwas sehen, was nicht aussieht wie wir, und das überfordert uns ja total, wenn wir das nicht sofort markiert kriegen.
Deshalb ist Reproduktion so doof und nie kritisch. Und deshalb hängt das Theater da mit drin in dieser Realität und ist nicht automatisch eine Alternative dazu, weil es angeblich Tote wieder zum Leben erwecken kann. Die vermeintliche Differenz zum richtigen Leben aus den Festreden auf die kritische Kunst Theater oder so, die muss sich das Theater erarbeiten, jedesmal neu.
Was helfen könnte, einen Begriff von Selbstverständlichkeit, einem Normalisieren zweiter Ordnung zu erreichen, wäre eben bewusst und gegen die Momente blöder Reproduktion zu inszenieren (auch auf die Gefahr hin, dass man dann viele von den völlig verzauberten Klatschern gegen sich hat). Und das hätte nichts mit Beschönigen zu tun, sondern mit Reflektion. Von allein kommt man aus diesen alten Geschichten von Abwertung nicht raus, wird man die alten Bilder von „Behinderten“ nicht los.
Beste Grüße
"Christoph Schlingensief war in seiner Arbeit mit Performern wie Achim von Paczensky oder Werner Brecht vor 15 Jahren Bel um Lichtjahre voraus, und dass das kaum jemand sehen will oder kann, spricht, wie schon bei der Blackfacing-Diskussion, für die Blindheit des Theaters samt Apparat gegenüber politischen Fragen, die über eine 'Aktualisierung' von Hamlet hinausgehen."
Schwierig an dieser Passage empfinde ich, dass hier drei Themen in einem Satz vermischt werden: Das Schlingensief-Theater, die Blackfacing Diskussion und die sogenannte Werktreue-Debatte bzw. die Frage, wer "Hamlet" spielt.
Auch ein zweiter Satz Dells irritiert mich, und zwar der folgende:
"Die Konkretion der Körper auf der Bühne muss anders als der Leitartikel deren Differenz nicht auf einen Begriff bringen – man kann sie sehen. Und dadurch erkennen, welch prekäre Kategorie 'Normalität' eigentlich ist." Das auf-den-Begriff-bringen der jeweiligen Behinderung empfinde ich auch als redundant. Aber warum muss man eine Differenz eigentlich immer gleich sehen können? Die Frage geht auch an Dell. Geht es hier denn jetzt nur um äußerliche und eben nur vermeintlich die ganze Person kennzeichnende Merkmale? Oder geht es nicht vielmehr darum, dass allein seine je nach Situation unterschiedlichen Handlungen einen Menschen definieren?
Warum die Mutter- bzw. Elternposition der Performer im Rahmen dieser Inszenierung bzw. Diskussion überhaupt so breit ausgewalzt wird, das verstehe ich allerdings nach wie vor nicht. Ich gehe davon aus, dass Lernprozesse, auch wenn sie durch Eltern oder andere Personen angeleitet sind, letztlich immer von den Lernenden ausgehen und somit auch von diesen subvertiert werden können. Insofern erscheinen mir die Anweisungen durch Bel bzw. den Übersetzer auch eher als Teil eines Spiels zwischen Regelsetzung von aussen und autonomer Gestaltung durch die Tänzer/Performer selbst.
Vor allem geht es hier - wie ich bereits erwähnte - um die Wahrnehmungsgewohnheiten der Zuschauer/Kritiker/tt-Jury usw. und das heisst: Wer andere nur in Schablonen und Klischees wahrnehmen kann, der lernt eher wenig. Wer aber die Vielfalt in einem und zwischen Menschen erkennen kann, der lernt wahrscheinlich schon viel mehr. Ob Bels Inszenierung eine solche Sicht eher befördert oder verhindert, das steht als Frage im Raum.
wenn die frage auch an mich geht: bei dem ersten satz verstehen sie mich falsch (oder ich habe unklar formuliert). ich denke sehr wohl, dass blackfacing-diskussion und schlingensief-theater was verbindet, und sei es erstmal nur, den umgang mit allem, was nicht so aussieht wie ich, wir-die-problems, mehrheit-minderheit-issues, und dass "die" theaterkritik da, ganz grob gesagt, schwierigkeiten hat, etwas zu erkennen (weil es sie nicht betrifft, nicht zu betreffen scheint, wäre meine annahme). da sind für mich zwei eminent gesellschaftliche fragen, die man mit dem hinweis auf die toten, die im theater wieder lebendig werden können, nicht entkommt. und da geht es eben um einen anderen begriff von "politischem theater" als dem, der gemeinhin verwendet wird in theater und kritik und den ich mit "hamlet-aktualisierung" polemisch meine. mir gehts da nicht um werktreue, sondern eben um die vorstellung, dass hamlet heute sohn eines toten investmentbankers ist und sich nicht entscheiden kann, ob ein praktikum in einer ngo machen soll oder mit seinen freunden von attac dem onkel zu leibe rücken soll, der als chef von goldman sucks amtiert. und dass das dann ganz viel über die welt, in der wir leben, erzählt. auch kritisch und so. ein spaßvogel würde sagen, ich übertreibe. was ich aber sagen will: das sind für mich zwei verschiedene politische ebenen, die eine (bf, schlinge, DT) ist strukturell, die andere thematisch. die strukturelle tut mitunter weh, die thematische macht gute gefühle.
beim zweiten satz habe ich - in der enge des platzes - auch etwas unklar formuliert offenbar. was ich meine - und hier auch schon dreimal gesagt habe, es gern aber auch ein viertes mal tue – das tolle am theater ist, dass es konkret ist. die information, dass remo beuggert eine lernbehinderung habe, sagt mir viel weniger über ihn als ich sehe, wenn ich ihn auf der bühne sehe. mit meinem "man kann sie sehen" meine ich also die konkreten körper und nicht so sehr die differenz zwischen "denen" und "uns", die mir eine abstraktum wie "lernbehinderung" erzählt. alle körper sind verschieden, und das kann ich im theater sehen, das ist ja das schöne. fabian hinrichs hat eine andere körperlichkeit als christian brey als remo beuggert and so on. got it? wir sind uns da doch, würde ich sagen, nicht so fern. ob wir es schaffen, uns zu verstehen?
stets guter hoffnung
Lieber Matthias Dell,
zunächst einmal finde ich es großartig, dass Sie sich der Diskussion hier stellen, dafür gebührt Ihnen Respekt. Ihre Ausführung als Antwort auf meine letzten Bemerkungen kann ich trotzdem nicht unwidersprochen lassen, auch wenn ich denke, dass wir uns darauf einigen müssen, den Abend völlig anders gesehen zu haben (ich habe übr. die Aufführung am 12.5. gesehen, daher kann man das viell. nicht 1:1 übertragen.
Das Thema mit dem Unwohlsein und Bewertungen wie "zum Heulen schön" widersprechen sich gar nicht. ich habe den Abend durchaus als vielschichtig erlebt. Als einen, bei dem die Darsteller selbst theamtisiert werden, in ihrer Individualität, ihrer Persönlichkeit. Da ist die Ansprache direkt, die Reaktion der Zuschauer aufdie akteure gerichtet. es gibt aber eben auch diese 2. Ebene, bei der der Blick zurück auf den Zuschauer fällt, ganz besonders bei der Begaff-Szene am Anfang. Da war sehr viel Unwohlsein zu spüren, viel Unsicherheit wie damit umzugehen sei. Auch später war das Publikum nicht so einheitlich, wie Sie es darstellen. Den unreflektierten Claqueuren standen jene gegenüber, die sichtlich unsicher blieben, ob und wann wie zu klatschen wäre und jene, die zuweilen das Publikum beobachteten, was nicht weniger spannend war als das Geschehen auf der Bühne. Diese meta-Ebene, wie sie es nennen, ist m. E. deutlich vorhanden (in den Anweisungen, im anfänglichen Vorgeführt werden etc.) Da wird das Publikum thematisiert mit seinen Einstellungen, Vorurteilen usw.
Was meinen Hauptvorwurf, mit zweierlei Maß zu messen, also diesen Schauspielern (wegen Ihrer Behinderung?) zu unterstellen, sie könnten sich nicht wehren, das wäre alles gegen Ihren wWillen etc., sie wären also letztlich willenlose Handlanger Bels (ich überspitze hier natürlich), den sehe ich leider auch weiterhin bei Ihnen bestätigt.
Ich verstehe nicht, in wiefern solche Vergleiche sinnvoll sind. Schlingensiefs Konzept war ein anderes, beide gingen/gehen m.E. auf. Man sollte auch nicht vergessen, dass Bel hier mit einem bestehenden Ensemble geharbeitet hat, dass nun mal aus Menschen mit Behinderung besteht - wenn Sie etwas kritisieren möchten, dann doch das Theater Hora.
Inklusion ist wichtig und ich denke, dass auch das was Theater Hora macht richtig und wichtig ist. Wann sollte man nicht das eine tun können und das andere nicht lassen? Je vielfältiger die Angebote und Formen der Einbeziehung sind, desto besser. Da von Fort- oder Rückschritt zu sprechen, halte ich für nicht angebracht.
ihren respekt in ehren, mir wäre es natürlich lieber, wir verstünden uns. nicht, dass wir einer meinung sein müssten, aber wenn ich das gefühl habe, ich habe ihnen schon zweimal erklärt, warum ihr "hauptvorwurf" mir nicht relevant zu sein scheint, und sie sehen ihnen immer noch bestehen, dann werde ich ganz traurig und erschöpft und pessimistisch über das gelingen von kommunikation im ganzen all the time forever.
ich versuch's aber gern noch ein drittes mal: ich bevormunde niemanden. bel zu kritisieren, heißt nicht zu sagen, die schauspieler sind doofies, und dass sind sie natürlich, weil sie schauspieler mit behinderung sind. ich finde die frage, die Sie nicht müde werden zu stellen, für das, was ich meine, irrelevant, so hart wie das klingt (aber ich glaube ja auch, dass man schlingensief und bel vergleichen kann bei aller verschiedenheit von konzepten in hinblick auf die eine frage, die der grund all meiner bemühungen hier ist: das verhältnis zwischen dem "normal"-wir und dem "anderen"-die).
ich habe weiter oben darauf hingewiesen, dass ich nicht so ein optimistisches bild vom freien willen habe wie sie. es gibt abhängigkeiten, schüchternheiten, es gibt macht und routine, drücke und zwänge. so ein theaterstück ist das ergebnis eines prozesses, in dem es in meinen augen unmöglich wäre, ihn sich als den sieg jedes einzelnen daran beteiligten freien willen vorzustellen. mit anderen worten: es geht da auch um konsens und kompromisse. und wenn ich bel adressiere, dann adressiere ich ihn als credit für so was wie gesamtverantwortung, wo es dann für die diskussion egal ist, ob er in der vierten szene beim dritten move auf den rat des dramaturgen oder des beleuchters gehört hat.
das ganze leben ist ein einziger sachzwang, wieso sollte es im theater anders sein? wenn ich über die letzte pollesch-premiere "der general" schriebe, pollesch weiß nichts mit den drei p14-darstellern anzufangen, weil du mittendrin mal was sagen dürfen und sonst im panzer sitzen - würden sie dann auch sagen, ich bevormundete die schauspieler, weil die das natürlich nur mitmachen können, weil sie davon hundertprozentig überzeugt sind?
ich glaube ja eher, und jetzt wird es vermutlich etwas zugig und es tönt etwas kindergartenhaft, dass es auch so einen paternalismus geben kann, der sagt, man kann gegen die inszenierung schon deshalb nichts sagen, weil man damit was sagen würde gegen menschen mit behinderung und das wäre nicht gut. das glaube ich nicht, dass eine kritik an bel die darsteller disst.
jedenfalls finde ich interessant, dass die erfolge, die der freie wille in den lobenden kritiken auf "disabled theater" feiert, so groß sonst nur in hollywoods heldenepen sind. dazu müsste eigentlich mal ein sfb forschen.
beste grüße
ich nehme meinen respekt sicher nicht zurück, tut mir Leid. :-)
Ich finde allerdings schon, dass eine Kritik, die darauf hinausläuft, dass Bel seine Darsteller hier ausstellt, sich letztlich auch gegen diese richtet, weil diese es sich ja mit sich machen lassen und dass man auf die Frage nach dem Warum keine Antwort finden wird, die nicht in eine von Ihnen wie mir nicht gewollte Richtung geht. Und deshalb hinkt der Vergleich glaube ich schon, den Sie da zu den P4-Darstellern bei Pollesch ziehen. Natürlich gibt es Sachzwänge hier und dort, es gibt aber bei diesen eher nicht den Vorwurf, man würde sich ausstellen lassen. Das scheint offenbar nur bei bestimmten "Gruppen" der Fall zu sein und immer schwingt dann eben dieses Sich-Benutzen-Lassen mit, was eben auf die Darsteller zurückfällt. Ich kann Bel in diesem Punkt nicht kritisieren, ohne die Darsteller einzubeziehen. Mich erinnert die Diskussion stark an die Brett-Bailey-Debatte im vergangenen Jahr.
Man kann ja auch Menschen einschließen (Stichwort "Inklusion"), um sie in derselben Bewegung wieder auszuschließen. Was bei Bel eben die Frage ist. Mir fiel das vor allem beim Publikumsgespräch im HAU auf, wo vor allem "über" die Performer gesprochen wurde. Spielte Bel da auch ein Spiel mit den Zuschauern? Für mich klangen seine Antworten jedenfalls eher wie diese typischen Floskeln "über Behinderte" oder was das bildungsbürgerliche "Gutmenschentum" immer wieder "über Behinderte" hören will: Sie seien nicht leistungskonform, sie könnten nicht frei entscheiden, sondern bräuchten in jedem Fall Hilfe und Unterstützung usw. Warum dreht man solche Formulierungen nicht einfach mal um und befragt den Arbeitsbegriff bzw. das unsolidarische Prinzip der ökonomistisch orientierten Leistungsgesellschaft? Vor allem das tt-Gespräch dazu mit dem Titel "Behinderte auf der Bühne – Künstler oder Exponate?" markierte für mich bereits von vornherein diese Differenz "wir - die". Warum kann man nicht Künstler und Exponat zugleich sein? Setzt man sich als Künstler nicht immer auch den Blicken anderer aus? Ist man da nicht immer auch zugleich Exponat? Warum wird diese Frage also nur bei behinderten Darstellern auf der Bühne gestellt? Wegen der erkennungsdienstlichen Merkmale, stimmt's? Also, ich spiel dann demnächst einen Vogel, weil ich einen Vogel hab. Ein Scherz.
lieber sascha krieger,
weil das jetzt mit dem verstehen und inga doch noch geklappt hat, kriegen wir das vielleicht auch noch hin, ich sehe nach ihrem post zumindest licht am ende des tunnels.
man könnte jetzt eine diskussion über das ausstellen führen als etwas dem theater wesentlichen, die schausituation im theater der guckkastenbühne ist ja auf nichts anderes angelegt (wobei es dann eben wichtig ist, diese blickregimes zu reflektieren). das würde wohl aber sehr weit führen.
was ich verstanden habe durch ihren post, ist ihr problem mit dem "ausstellen", und vielleicht ist das tatsächlich die unschärfere bezeichnung. besser trifft, was ich kritisiere, wohl der begriff "othering", den man ins deutsche mit mit "veranderung", jemanden, zum anderen machen, übertragen müsste. den wollte ich rauslassen, weil ich sorge hatte, dass der in seiner kosmopolitischen technologizität eher so offended. das hat man nun von. das wäre also das problem, das ich mit bels arbeit habe, dass sie grundsätzlich und zumeist "othert", die hora-darstellern zu den "anderen" macht. und das ist reproduktion nach meiner ansicht, auch wenn es in den erklärversuchen der verteidiger sofort als total kritische absicht ausgelegt wird. was ich für eine projektion halte, die, inga hat das in ihrem ersten post beschrieben, den abgrund überdecken muss, in den man sonst schauen müsste
Richtig, die Geschichte, die uns Herr Dell hier erzählt, wird für meine Begriffe immer dann merkwürdig polemisch vorgetragen, wenn sie sich auffallend zu verdunkeln und ins Beliebige zu verflüchtigen anschickt, ggfls. wird aus "Ausstellen" "Othering", aus einem Generalverdikt gegen das Theater und seinen Apparat (einem geharnischten
Artikel, so nk) vielleicht ein verständnissinniges Gespräch zwischen Herrn Dell und Herrn Bugiel (nichts gegen ein solches ! - muß man das dazu sagen, schon wieder so eine Unsicherheit ?!!?), währenddessen für den Rest vom "Schützenfest" des Threads vielleicht doch noch Licht am Ende des Tunnels ist: reizend. Nein, liebe Inga, ich möchte das hier, ohne weitere Rückmeldungen, auch nicht mehr viel länger ausführen, Maillard deutet an, daß es dazu berufenere Stimmen geben mag (ich bin ein wenig enttäuscht, daß nicht einige Stimmen mehr aus dem "Apparat" -was immer Dell genau damit meint: meint er denn nun auch seine eigene Redaktion und zB. sich speziell als Kulturredakteur: von "Disabled Theatre" weiß er doch nicht erst seit dem TT !, oder doch ??), Herr Dell gibt sich schon zu Beginn seines Artikels alle Mühe, "Disabled Theatre" sozusagen zum Zentralereignis des TT einerseits zu stilisieren
(dabei geben das die allermeisten der renommierten TT-Zusammenfassungen garnicht her), andererseits "Disabled Theatre" und seine Ladung zum TT als einen Vorgang zu kritisieren, der ganz in die Nähe rückt zB. der Hallervorden-Inszenierung im Schloßparktheater (samt anschließender "Blackfacingdebatte"). Nun also ist so ein
eigentlich rückschrittlicher Abend sogar zum TT eingeladen worden, obschon lange genug Zeit gewesen wäre, seine Rückschrittlichkeit klar zu erkennen und zu benennen. Wenn ein Vollblutspieler wie Meyerhoff gleichsam das Zaumzeug im Maul spürt angesichts der Wucht von "Disabled Theatre", sich selbst als unfrei dagegen empfindet, sollte uns das hier an dieser Stelle vielleicht noch einmal neu über diesen Gegenstand nachdenken lassen. Nun, warum ist er denn eigentlich zum TT geladen worden, dieser Abend ? Wer sprach von der "besten" Arbeit Bels in diesem Zusammenhang, wo es doch um das "Kriterium: bemerkenswert" hier geht ? Waren nicht die Ambivalenz, die knisternde Spannung, mitunter das Ärgernis, wie ein Nachbar reagiert, letztlich die tänzerische Wucht dieses Abends in ihrem Zusammenwirken der Grund für die Ladung zum TT ?? Und wären sie es nicht auch trotzdem noch, wenn wir die Wirkungen garnicht als intendiert durch das Regiekonzept charakterisierten, ja, wenn wir sogar konzidierten, daß der Abend mit den meisten anderen Regisseuren vermutlich garnicht allzusehr anders geworden wäre, mit Bel aber eine Aufmerksamkeit gewinnt, die ein Nonameregisseur leider garnicht bekommen hätte ?? Vielleicht verdient dieser Abend ja in unseren Augen die TT-Ladung, obschon er vielleicht nur geladen wurde weil "Behindert und Bell" draufstand sozusagen (wie der Poster "Kalle Wirsch" es im Freitag kommentiert hat). Wir könnten auch unsere Einschätzungen darüber mitteilen und gegebenenfalls zur Diskussion heranziehen,
ob der Abend auch ohne seine "Othering"-Elemente funktionieren würde, wenn wir diese zunächst als solche konzipieren (für die Diskussion). Ich hatte den seinerzeitigen Nachtkritiker , Andreas Klaeui, mit seiner von Dell befragten Passage tatsächlich auch so verstanden, daß die "neue Ebene" garnicht betrifft, daß es nicht auch vorher (siehe Maillard) gutes Theater von Trisomie-21-Ensembles gegeben hätte oder zB. Schlingensief ; hier aber kommen so ein Ensemble und qua Bel
eine breitere Öffentlichkeit und Öffentlichkeitswirkung zusammen, und es gelingt ein zweifellos wuchtiger, hier und da gewiß auch kritisch zu befragender Theaterabend.
Offen gestanden, gerade die Nähe zur Blackfacing-Debatte sehe ich nicht: Hätte Herr Dell zum geeigneten Zeitpunkt gesagt: "Ich kann mir schwer vorstellen, daß ein Mensch, der zum Personenkreis der PoC gehört, sich jeden Tag sagt "Ich bin ein PoC" ..." (siehe § 31), dann hätte es vermutlich einen harschen Widerspruch zB.
der Bühnenwatchler gegeben. Gut, vielleicht schätze ich das auch falsch ein, aber das Zitat, das Maillard nennt, könnte immerhin wie eine Antwort auf diesen § 31 aufgefaßt werden (jedenfalls aber in Betracht gezogen). Auch hat die Blackfacing-Debatte niemals Halt gemacht bei jenen Sachzwängen, die Herr Dell hier -zynisch anmutend für mich- entgrenzt.
Und letztlich ging es halt schon auch immer um die SchauspielerInnen, die DA MITMACHEN. Wenn mein Gesicht (geblackfaced) die Runde macht, und all-überall beginnt darüber zu prangen "Das ist Rassismus", so bedarf es wohl auch kaum noch weiterer Worte, um mich dann als SchauspielerIn zu betreffen (wer fragt dann schon nach den besagten SACHZWÄNGEN ???). Bestimmten Dingen muß man sich möglicherweise sogar verweigern, wenn es auch den Arbeitsplatz kostet ! Das ist natürlich hier aus der Kommentatoren-Lehnstuhlperspektive leicht gesagt: aber um dergleichen Konsequenzen dreht es sich doch oft im POLITISCHEN. Was nun "Disabled Theatre" betrifft, so verhält es sich mit den SchauspielerInnen Lichtjahre davon entfernt: zumal hier nicht ein Vertreter der "Mehrheitsgesellschaft" Schuhcreme auspackt und den "N" markiert, sondern nun einmal das Ensemble des Theater Hora wohl kaum so auftritt, daß andere Personen mit "Trisomie 21" sich dadurch im entferntesten qua Theater Hora diskriminiert sieht: Was also soll dieses Zusammenwerfen zweier Diskurse ? Das "Projekt" von Grete Walfisch finde ich garnicht so übel. Vielleicht sollten SpielerInnen, die angesichts "Disabled Theatre" das "Lipizzanergefühl" entwickelten, herangezogen werden und dann einem ganz ähnlichen Konzept "ausgesetzt" werden. Also, ich würde auch so einen Abend besuchen, wenngleich es dann leicht wieder heißt: "Das Publikum will die da so unter sich haben, daß Ihre Lieblinge jetzt Kunststückchen für sie servieren, um sich bequem an ihnen über sie hinwegzusetzen." Eigentlich erstaunen mich Herrn Dells Befunde immernoch, weil der Abend gerade durch die viel stärkere Wirkung der Darsteller qua Auftritt, jener Wirkung, die viel stärker ist als jene aus der kritisierten "vorstellungshaften" Szene , doch auch über die "Otherings"-Feststellungen hinauswachsen dürfte, noch leichter sogar als ginge es um "Ausstellungs"-Tatbestände (äquivalent etwa zum Rassismus der Blackfacing-Debatte)..
das echo dieser „erkenntnis“ im (disabled) darsteller ist unverzichtbar und vielleicht das, was uns am meisten berührt…
Auch Ihr Argument, dass die Blackfacing-Debatte mit diesem Thema eher wenig zu tun hat, empfinde ich als schlüssig. Die HORA-Darsteller werden hier ja tatsächlich nicht von jemand anderem als "behindert" markiert. Und es geht auch nicht darum, dass der Begriff des "Minderheitenschutzes" eine Kontrolle der Mehrheit erfordert, ebenso wenig, wie im Fall eines Schwarzen. Ganz im Gegenteil, sie sind bzw. spielen bzw. inszenieren einfach sich selbst.
1) etwas Einblick in den Entstehungsprozess des Stücks, von den Proben mit Jérôme Bel: http://www.hora-okkupation.ch/blog/okku13/wie-affen-im-zoo-414/
2) eine Porträt-Serie, die zur Abwechslung die Darsteller/innen aus dem Sammelbegriff "Theater Hora" herausstellt und selbst zu Wort kommen lässt: http://www.hora-okkupation.ch/blog/tag/ensemble/
Präventive Entschuldigung für die unverschämte Cross-Promotion, da ich an dem Blog-Projekt nicht ganz unbeteiligt bin. Ich hoffe, der informationelle Zugewinn überwiegt...
Vielen Dank für diese Verlinkung, Herr Rudolph!
Die SchauspielerInnenportraits geben in der Tat noch einen weiteren Einblick in den
Entstehungsprozeß des Stückes und dem durchaus verschiedenen, je individuellen Umgang der Beteilgten damit. Zudem las ich das Interview mit Michael Elber und die Einschätzung, daß die Bel-Inszenierung, als Ausnahme unter den HORA-Inszenierungen, eher den Blick auf ein "Möngi-Theater" zu zementieren droht.
Schon, um sich zu dieser Einschätzung seine Gedanken zu machen, lohnt sich der von Dell eingeleitete Diskussionsprozeß, denke ich (nach wie vor). Mir ist in § 45 der Fehler unterlaufen, den falschen der zwei Kommentatoren des FREITAG als Urheber des Klammersatzzitates anzugeben, es handelt sich nicht um den Poster "Kalle Wirsch",
sondern um "TAN DR" und bitte das zu entschuldigen. Da vom Theater HORA gewiß noch ganz andere Produktionen zu erwarten sind, wäre es natürlich schön, zB. auf diesem neuen BLOG von diesen in Kritiken, Pressespiegeln etcpp. zu hören und/oder hier auf nk LeserInnenkritiken dazu: Kritiken, die dann wahrscheinlich meilenweit von einer Zementierung des "Möngi-Themas" entfernt wären. Jenes "Ich hätte lieber zu X getanzt als zu Y, und Jerome wollte nicht, daß ich bestimmte Tanzschritte etcpp. ausführe" verweist natürlich schon auf das "Gemachte" der Inszenierung von "Disabled Theatre", was, ganz anders, auch von der vielfachen und immer wieder neu zu erkämpfenden gespielten Wiederholung eines anfänglich spontanen Zuges gilt. Allerdings fasse ich die "Aufgaben" durch Bel immernoch einigermaßen analog zu dem auf, was zB. bei anderen Schauspielervorstellungen, dem berühmt-berüchtigten "INTENDANTENVORSPRECHEN", auch geschieht (daher kam ich auch auf die "SPIELWÜTIGEN", weil ich den Kommentar Constanze Beckers
"Es ist einfach erbärmlich, die sitzen da ..., Fleischbeschauung."), freilich leben die SpielerInnen dort auch lange in-durch-mit ihren Rollen, die sie sich nicht vollends aussuchen konnten und von denen eine Auswahl von anderen Personen abgefragt werden kann. Ich finde immer noch, daß die Inszenierung, ganz so wie Herr Bugiel es weiter oben schrieb, eher vorstellt als ausstellt und auch "Assoziationen" zB. zum Vorstellungsgespräch oder Intendantenvorsprechen nutzt. Wie gesagt, wenn Herr Meyerhoff sich gegen einen solchen Ansatz und seiner wuchtigen Umsetzung geradezu vom "Lipizzanergefühl" angeschlichen fühlt, und auch er spricht von "FREIHEIT", so gibt das weiterhin zu denken, oder? Davon abgesehen, daß die Koinzidenz des Threadverlaufes (Dells "RUNNINGGAG" über die Toten des Impulsreferates Herrn Wihstutzens) mit dem Titel der Meyerhoffschen Bücher in meinen Augen herrlich schräge ist: "Alle Toten fliegen hoch"..