Presseschau vom 28. Dezember 2011 – In der taz schreibt Esther Slevogt anhand von "John Gabriel Borkman" und "Eugen Onegin" über die Geschäfte des Als-ob

Künstlich bis zur Wahrhaftigkeit

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Künstlich bis zur Wahrhaftigkeit

28. Dezember 2011. In der taz beschreibt Esther Slevogt anhand von Müllers/Vinges John Gabriel Borkman und Alvis Hermanis' Eugen Onegin, wie das Theater sich aus seinem Glaubwürdigkeitsproblem zu retten versucht – und das auch schafft.

Spätestens wenn Regisseur Vinge, am Geruch deutlich identifizierbar, während der Vorstellung einen veritablen Haufen auf das geblümte Sitzkissen neben einem mache, und man sich durch diese kalkulierte Schockaktion zwar von seinem Platz, nicht aber aus seiner Zuschauerrolle vertreiben lasse, würden, so die Kritikerin, die Fragen akut, die dieser provozierende Abend über den Zusammenbruch bürgerlich-kapitalistischer Werte und Ordnungen stelle: "Das sind auch Fragen über das Theater, das ja wie der Kapitalismus auf der Figur des Tauschs von einem realen Wert in einen symbolischen gründet. Womit nun die Frage, was echt ist und was nicht, ins Zentrum rückt. Wie und ob Dinge überhaupt noch darstellbar sind. Ob am Ende nicht auch der Haufen von Herrn Vinge ebenso im Als-ob eine Verwandlung erfährt wie die berühmten Tränen von Ulrich Matthes (Bitte verzeihen Sie, Herr Matthes! Aber diese Frage muss hier jetzt leider gestellt werden …) in Jürgen Goschs Inszenierung von Anton Tschechows Onkel Wanja 2008 am Berliner Deutschen Theater." Denn die Zuschauervertreibung findet in Müller/Vinges Inszenierung von "John Gabriel Borkman" erst statt, nachdem zunächst über viele Stunden lang eine ästhetisch sehr zugespitzte Version des Ibsen-Stücks gespielt worden ist.

Der schrille Schrei "Ich will leeeeeben!" von Borkmans wohlstandsverwahrlostem und emotional bedrängtem Sohn Erhart gehe einem speziell in (und auf Grund) der furchterregenden Künstlichkeit durch Mark und Bein. "Denn diese Kunstfiguren scheinen in der radikalen Ästhetik der Inszenierung ebenso eingesperrt wie der Mensch an sich in dieser Gesellschaft. Deshalb wirkt die Zerstörung des Repräsentationsraums Theater im Verlauf dieses Abends nur wie die Markierung der Notwendigkeit weitreichenderer Zerstörungen." Weil sich das, was früher Wirklichkeit hieß, aus Slevogts Sicht längst nur noch als medial inszenierte Benutzeroberfläche darstellt, betrachten es viele Theatermacher inzwischen als ihre Aufgabe, diese Benutzeroberflächen zu dekonstruieren oder als solche zumindest kenntlich werden zu lassen. Was aber eben nicht selten auch eine Entzauberung des Mediums Theater selbst zur Folge habe.

Alvis Hermanis' "Eugen Onegin" sei da in seinem Anspruch auf Annäherung dem von Vinge/Müller gar nicht so unähnlich: "Zwei in ihrer Form ebenso gegensätzliche wie radikale Versuche, das Theater als Kunstform zu retten, dessen grundsätzliche Gestalt längst ebenso porös und unwahr wirkt wie die vorgetäuschten Werte, mit denen der Kapitalismus seine ruinösen Luftgeschäfte macht."

Man erfahre bei Hermanis nicht nur, dass die Menschen sich aus Misstrauen dem Wasser gegenüber selten wuschen und daher schlecht rochen. "Und wie überhaupt das damalige Lebensgefühl zustande kam und auch seinen Ausdruck in der Kunst sich suchte." Deren unterschiedlichste Produktionen aus der Entstehungszeit des Stoffs werden immer wieder auf die Fläche oberhalb der Bühne projiziert. "Man meint als Zuschauer in dieser fast archäologisch vorgehenden Methode der Anverwandlung langsam selbst diese Zeit zu spüren und zu schmecken." Nie behauptet das Theater einen Gedanken, ein Gefühl. "Jedes Detail wird als Ergebnis einer komplizierten Annäherung präsentiert. Und doch stellen sich Momente großer Wahrhaftigkeit her."

(sik)

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