Presseschau vom 6.-8. Juli 2011 – Das Hamburger Abendblatt klagt über das Gegenwartstheater

Elitär, arrogant, autistisch?

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Elitär, arrogant, autistisch?

6./7./8 Juli 2011. Im Hamburger Abendblatt hat die Theaterredakteurin Armgard Seegers eine "Streitschrift" veröffentlicht und damit im eigenen Blatt eine kleine Theaterdebatte angezettelt, in der sich auch Thalia-Theater-Intendant Joachim Lux und Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard zu Wort meldeten.

 

Streitschrift von Armgard Seegers

"Man kommt nicht umhin, darüber zu klagen, dass es heute weniger Spaß macht ins Theater zu gehen als, sagen wir, vor zehn oder zwanzig Jahren", klagt Armard Seegers im Hamburger Abendblatt (6.7.2011). Denn das Theater lebe "heutzutage" von Performances und Projekten, von "Aufführungen also, bei denen ein Text nicht mehr nur sinnlich, treffend und genau ergründet und durch die Kunst und Fähigkeiten eines Schauspielers zum Leben erweckt wird. Sondern es geht um Konzepte. Dramen und Stücke werden nicht mehr gradlinig, mit traditionellen Mitteln nacherzählt, man reichert sie an mit Fremdtexten, sucht Schnittmengen zu Musik, Film, bildender Kunst."

Häufig könnten die Zuschauer nicht ähnlich assoziativ nachvollziehen, was die Künstler und zu welchem Zwecke bewege. "Die Folge: Man fühlt sich ausgeschlossen, empfindet die Kunst als elitär, arrogant, autistisch und fragt sich, ob manch ein Konzeptionsregisseur mit seinem Team nicht in einer Parallelwelt lebt, ohne Berührungspunkte zu den Zuschauern."

Ist denn, fragt Seegers, "das Theater nicht gerade dazu da, Stücke, die man beim Lesen allein nicht in ihrer ganzen Vielschichtigkeit durchdringen kann, verständlich zu machen?" Doch fürs Theater gelte dasselbe wie für den Film, die Literatur oder die Malerei: "Künstlerische Arbeit darf sich nicht ausschließlich am Publikum orientieren. Aber eben gewiss auch nicht an ihm vorbei. Nicht allein das Publikum bestimmt, was Qualität ist."

Die ständige Erinnerung daran, "dass unsere Welt widersprüchlich, verstörend und verroht ist", dürfe nicht dazu führen, "dass dies mantraartig auf der Bühne hergebetet und illustriert wird. Und damit zu Ermüdungserscheinungen bei den Zuschauern führt, weil sie nicht mehr im besten Sinne verführt werden, sondern nur noch mit Besserwisserei konfrontiert." Dass man Sinnlichkeit im Theater brauche, daran könne jedenfalls kein Zweifel bestehen.

 

Antwort von Joachim Lux

"Wir sind weder elitär noch autistisch oder arrogant, sondern offen, erlebnishungrig und kommunikativ", antwortet tags darauf der Intendant des Hamburger Thalia Theaters Joachim Lux, ebenfalls im Hamburger Abendblatt (7. Juli 2011). Gelegentliche Probleme gebe es höchstens deshalb, "weil sich die Sprache der Hochkultur, die unserer Autoren Schiller, Goethe oder Büchner, nicht immer auf den ersten Blick erschließt". Der theaterinteressierte Zuschauer könne in den größeren Städten in aller Regel Aufführungen sehen, "die der Sehnsucht, Geschichten mit Menschen sehen zu wollen, entsprechen. Wer das Gegenteil behauptet, liegt falsch."

Dass sich das Theater natürlich dennoch "seit Jahrhunderten" verändere, sei gut so. Dabei dürfe die Kunst sich weder "zu marktgängig dem Publikum vor die Füße" werfen noch "auf das Publikum überhaupt keine Rücksicht mehr" nehmen – "Dazwischen liegt irgendwo die Wahrheit."

Lux ist "in der gesamten Debatte zu viel Politik und Ideologie im Spiel". Das "Kriterium für eine gute Aufführung" sei nicht, ob sie psychologisch, "anstrengend für den Kopf" oder "performativ" ist, "sondern ob es gelingt, ihre Notwendigkeit zu transportieren, sinnlich, verführerisch, für Kopf und Herz". Die besten Autoren hätten "das Theater vor das Unmögliche gestellt. (...) Und das Theater musste erst mal versuchen, überhaupt damit zurechtzukommen", genauso wie das Publikum. "Entscheidend ist, dass Theater sinnlich ist - auf welchem Weg auch immer."

Wirklich gutes Theater brauche außerdem "eine Parallelwelt der Künstler", deren Blick "ein bisschen fremd" bleibt und den Spiegel liefere, "ohne den die Gesellschaft erblindet. Das ist übrigens jenseits von Umwegrentabilität und anderen Schauerlichkeiten der tiefere Sinn der Subvention."

 

Antwort von Amelie Deuflhard

Die Leiterin der Spielstätte Kampnagel Amelie Deuflhard sieht angesichts dieser Diskussion mal wieder "das Gespenst des dramatischen Theaters" umgehen, das "trotz einer fulminanten Geschichte neuer und internationaler Theaterformen" prächtig gedeihe. Während das zurecht hochsubventionierte deutsche Stadttheater alle Produktionsmittel vor Ort habe und vor allem den Bildungsbürger adressiere, "der den Theaterabend als Kunstgenuss, aber auch zur Selbstvergewisserung seines Status genießt", arbeiteten freie internationale Kompanien wirtschaftlich autonom, könnten "Ort und Team für jede Produktion frei wählen" und produzieren stets "für mehrere Theater oder Festivals in unterschiedlichen Städten und Ländern". Ihre Produktionsmittel generierten sie selbst, "üblicherweise im Wettbewerb mit vielen anderen Künstlern". Diese Bedingungen prägten Themen und Ästhetiken maßgeblich.

Es gebe für Theatermacher gute Gründe, sich statt mit klassischen Theatertexten "mit den großen Dramen der Gegenwart zu beschäftigen: Überalterung der Gesellschaft, Klimaverschiebung, Migration, Aufstandsbewegungen, Leben im Prekariat". Neue Formen bräuchten "Experimentierfelder, die keinen ökonomischen Zwängen unterworfen sind. Sie brauchen Raum und Zeit, sich zu entwickeln, und können dann an ihren Spitzen zu Klassikern werden". Vielfach würden dabei Geschichten erzählt, die "nicht auf Theatertexten basieren, sondern auf Geschichten konkreter Menschen, sie bearbeiten unsere Realitäten mit den Mitteln des Theaters".

Seit jeher sei "die Interpretation von Texten nicht die einzige Möglichkeit, gutes, in Glücksfällen auch großartiges Theater zu machen". Theater sei heute allerdings internationaler geworden, wie auch unsere Welt, in der wir permanent mit anderen Kulturen konfrontiert seien. Deshalb sei ein "neuer Dialog zwischen Kulturen" notwendig. "Wir müssen die Theater öffnen für Künstler aus anderen Kulturen und für neue Arbeitsweisen. Theater sind Kunstorte, Orte, die sich immer wieder neu definieren müssen - das unterscheidet sie vom Museum. Und sie sind öffentliche Orte, an denen sich die Bürger unserer Städte begegnen, in einen kritischen Austausch treten und sich immer wieder aufs Neue befragen müssen."

 

(dip/ape)

Kommentare  
Klage übers Gegenwartstheater: Unverstandenes ist nicht rauschhaft schön
Mit der Zusammenfassung haben die Nachtkritik-Redakteure Herrn Lux keinen Gefallen erwiesen. Manche Bemerkungen sind aus dem Zusammenhang gerissen und wirken so wie Plattitüden. Erst beim Lesen des ganzen Interviews wird deutlich, dass Lux eine gewisse Reflexionshöhe erreicht hat. Fragwürdig ist allerdings eine Passage:
"Entscheidend ist, dass Theater sinnlich ist - auf welchem Weg auch immer (...)Und wenn das passiert, springe ich über jede Klippe. Dann sage ich: Ich hab zwar in dieser halben Stunde nichts verstanden, aber es war rauschhaft schön. Hoffen wir, dass Stemann dies mit 'Faust I' und 'Faust II' gelingt."
Wollen wir für Lux hoffen, dass es nicht zu sinnlich wird.
Leider entspricht es nicht meinem Wesen, mit einer solch sinnlichen Sichtweise an das Theater heranzugehen. Wenn ich nichts verstehe, kann ich es nicht "rauschhaft schön" finden.
Hamburger Theaterdebatte: der ewige Jammer
Was nützt mir ein sinnlich glotzendes Käthchen von Heilbronn, wenn das nichts mit der heutigen Zeit zu tun hat, sondern rein dem Kunstgenuss dient. Das ist wie Amelie Deuflhard sagt, nur der ewige Jammer der Stadelmaiers über das postdramatische Regisseurstheater. Siehe dazu auch Stadelmaier in der FAZ vom Montag zum bevorstehenden 60. Geburtstag von Frank Castorf am Sonntag.
Hamburger Debatte übers Gegenwartstheater: Käthchen mit abgekupferter Doktorarbeit
Im Prinzip haben Sie Recht, Stefan, aber wie wollen Sie ausgerechnet das Käthchen in die heutige Zeit übersetzen? Was fällt Ihnen dazu ein? Siegerjustiz oder weiblicher Liebesterror? Eine weitere Möglichkeit wäre das Fremdgehen des Kaisers, der schließlich Käthchen unehelich zeugte. Hier könnte man vielleicht einen Gegenwartsbezug herstellen zum libidinösen Treiben von Machtpolitikern, die für ein flüchtiges Glück auch mal die Frau austauschen (Profumo, Seehofer, Bill Clinton etc.). Oder das Käthchen als Krise des Überwachungsstaats? Ich denke, manchmal sollte man doch beim klassischen Stoff bleiben. Castorf würde das Stück heute womöglich mit abgekupferten Doktorarbeiten verschneiden.
Hamburger Debatte übers Gegenwartstheater: Koexistenz!
was ich mich wirklich frage ist, warum es keine koexistenz geben kann. ich denke für künstler gibt es die: da machen die einen eben performances und die anderen schreiben texte. manchmal kommen auch die beiden gruppen zusammen (da dies wohl freiwillig geschieht kann man auch da nicht von einer unterwanderung der autoren sprechen), also jeder macht die kunst, die er für richtig und auch für sich produzierbar hält. ich zum beispiel schreibe texte, von denen ich mir in uraufführungen einen relativ textnahen zugriff erhoffe, was nicht heißt, was auf papier gebracht wurde ist die bibel. dennoch gehe ich auch sehr gern in andere aufführungen. durchaus mit kritischem blick, vor allem aber dann meine eigene arbeit betrachtend: was machen die, was ich nicht mache? wo hat das sinn? wo nicht? was bedeutet das für die allegemeine rezeption ect. wer nicht in performences/projekte etc. gehen will, für den gibt es genügend anderes. wer nicht ins staatstheater will, muss es auch nicht. und wer nicht im kollektiv arbeiten will, bleibt an seinem schreibtisch. dass nun mal wieder das theater und die hohe kunst gefährdet sind, weil es leute gibt, die mal was anderes (was ja mittlerweile auch schon eine tradition hat, performences, dokutheater etc. gibts ja nicht erst seit riminiprotokoll und sheshepop) machen, ist albern, lächerlich und auf destruktive weise konservativ.
Hamburger Theaterklage: besser in den Urlaub fahren
Oh, es wird mal wieder ein Thema thematisiert. Das Literaturtheaterthema. Endlich mal wieder. Mir war schon so langweilig. Jetzt kann ich wieder kommentieren. Vielleicht finde ich einen schönen Satz aus der Diskussionsthread von letztem Jahr zum selben Thema oder der vom vorletzten Jahr. Ich bin nämlich offen, erlebnishungrig und kommunikativ. Ich glaube, entscheidend ist, daß das Theater sinnlich ist. Klimaverschiebungen brauchen Experimentierfelder. Textinterpretationen sind nicht die einzige Möglichkeit, anstrengend für den Kopf zu sein, in Glücksfällen sogar einen neuen Dialog zwischen den Kulturen notwendig zu machen. Schließlich sind Theater Kunstort! Und jetzt fahren wir besser alle in Urlaub. Herr Lux und Frau Deuflhard und Frau Seegers, es gibt noch ein paar Last-Minute-Angebote.
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