Immer auf die Starken

6. März 2024. Nora Abdel-Maksoud hat für die Kammerspiele eine neue Komödie geschrieben. Diesmal gönnt sie uns nicht nur das Lachen über wohlstandsverwahrloste Leistungsträger, sondern auch eine Sozialutopie. Und spiegelt mit dem famosen Ensemble bissig unsere Marktgläubigkeit.

Von Silvia Stammen

"Doping" von Nora Abdel-Maksoud an den Münchner Kammerspielen © Judith Buss

6. März 2024. Als hätte er geahnt, dass er sich bald in einem anderen Kreuzfeuer als gewohnt wiederfinden könnte, hat FDP-Chef Christian Lindner in den Osterferien noch einmal kaltschnäuzig losgeholzt: allgemeines Moratorium für Sozialausgaben, die Kindergrundsicherung am besten gar nicht erst einführen und das Tempolimit mit ihm sowieso niemals! Trotzdem läuft es irgendwie nicht rund für den dauerbremsenden Steuermann und seine Partei. Die Umfragewerte festgefahren unter der Fünf-Prozent-Hürde, die persönliche Beliebtheit kontinuierlich im Minusbereich.

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich?

Und nun auch noch eine Anti-FDP-Kampfkomödie an den Münchner Kammerspielen! Nach ihrer 2021 uraufgeführten Erbenlotterie-Satire Jeeps, ein Renner im Repertoire an der Maximilianstraße, hat mit "Doping" das neue Auftragswerk von Nora Abdel-Maksoud Premiere, wieder in der Regie der Autorin, die als Queen of Social Comedy Maßstäbe setzt, und mit einer Hauptfigur, die aus den strebsamsten JuLi-Delegierten der Republik geklont sein könnte.

Neoliberale unter sich: Şafak Şengül, Vincent Redetzki, Stefan Merki ©Judith Buss

Diesmal spielt "Doping" weit entfernt im hohen Norden auf der Hochzeits-Insel Sylt, Lieblingsziel so vieler Wohlstandsverwahrer. Wie Vincent Redetzki da zu Beginn vor dem Eisernen Vorhang als Provinzkandidat mit offenem Hemdkragen und gerecktem Zeigefinger auf Stimmenfang geht und von seinem Marathon-Moment – endliche ein Ziel im Leben! – auf der Strandpromenade zwischen pensionierten Bankdirektoren und Lions-Club-Präsidenten erzählt, meint man diesen Glanz in den Augen und das selbstverliebte Siegerlächeln zu kennen. Einen peinlichen Schwachpunkt hat Abel-Maksoud ihrem leistungswilligen Hoffnungsträger Lütje Wesel, Spitzenkandidat des FDP-Ortsverbands Wenningstedt Braderup, allerdings mit auf dem Weg gegeben: Der Mann hat ein Problem, genauer gesagt ein Pipiproblem. Wo er gerade noch "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich" verkündet hat, versagt ausgerechnet ihm der eigene Körper den Gehorsam.

Krankheitsgeber, Krankheitsnehmerin

Doch Wahlkampf kennt kein Erbarmen. Hier ist jedes Dopingmittel erlaubt. Eilig aus dem Blickfeld der Kameras geräumt, wird Lütje von seinem Mentor und Förderer, Parteikämmerer Ole Hagenfels-Jefsen-Bohn (herrlich hemdsärmlig-jovial: Stefan Merki) und dessen schwangerer Tochter und besten Mitarbeiterin Jagoda (unermüdlich agil: Şafak Şengül) in die technologieoffene Privatklinik "Balance" eingeliefert, wo ihn Dr. Bob – Wiebke Puls in wild enthemmter Spiellaune als ärztlicher Freibeuter mit friesischem Akzent – rechtzeitig zur Pressekonferenz wieder fitmachen soll.

Moïra Gilliéron hat dazu einen gediegen-samtroten Rundhorizont mit Neonleuchtstäben und edlem Design-Lüster entworfen, der im Laufe des Abends noch eine überraschende Transformation in ein marodes Care-Boot durchlaufen wird. Gebrechen können hier angeblich ihren Besitzer wechseln. Analog zum Fetisch Arbeit gibt es einen Krankheitsgeber und einen Krankheitsnehmerin in Gestalt der trotz chronischer Überlastung stets einsatzbereiten Entbindungspflegerin Gesine alias Schuppi, die überdies als einzige über eine solide feministische Grundausbildung verfügt und von Eva Bay als erschöpfte Überzeugungstäterin mit unüberwindlichem Hang zur Selbstausbeutung verkörpert wird.

Mitreißendes Plädoyer für die Aufwertung unbezahlter Care-Arbeit

Gibt es ein Recht auf Schwäche? Diese Frage, die Lütje Wesel als leidenschaftlicher Verfechter eines radikalen Leistungsprinzips eben noch rigoros verneint hätte, fällt jetzt als mit aller Härte auf ihn zurück und lässt ihn hin- und hergerissen zwischen dem Mantra von der Eigenverantwortung der auserkorenen Chancen-Verwirklicher-Entrepreneure und seiner neuen Rolle als Verlustposten mit unklaren Diagnose oder besser Ikone der Versehrten, die Dr. Bob ihm mit Verweis auf Susan Sontags "Krankheit als Metapher" väterlich nahezubringen versucht, beinahe verzweifeln.

Doping3 1200 Judith BussUnterm Leuchter: Şafak Şengül, Stefan Merki, Vincent Redetzki, Wiebke Puls © Judith Buss

Aber nur beinahe, denn Abdel-Maksoud gelingt noch rechtzeitig der Übersprung von der etwas erwartbaren Anprangerung neoliberaler Marktmythen zu einem mitreißenden Plädoyer für die Aufwertung unbezahlter Care-Arbeit. Dr. Bob und Gesine sind nämlich in Wirklichkeit gar nicht Repräsentanten einer gewinnorientierten Privatklinik, sondern eingefleischte Sozialromantiker und dabei, ein ausrangiertes U-Boot in ein schwimmendes Armenkrankenhaus für die gesetzlich Versicherten von Sylt umzubauen, die sonst zur Entbindung mit dem Fährschiff aufs Festland pendeln müssten.

Deus ex machina: Geldberg gerammt!

So liefern sich in der zweiten Hälfte des Abends Şafak Şengül als bedenkenlose Befürworterin des "Mohnzutzlers", eines in mit Opioid präparierten Schnullers für die Babys arbeitende Karrieremütter, und Eva Bay als resolute Vorkämpferin für die Schließung des Gender-Pay-Gap und eine ausgeglichene Work-Life-Balance einen hyperventilierenden Schlagabtausch, bis schließlich Jagodas Fruchtblase platzt und sie mit "King" von Florence and the Machine auf den Lippen – "I am no mother, I am no bride, I am king" – die Geburt einleitet.

Inzwischen hat das lecke U-Boot vor der Steilküste der Insel einen Geldberg gerammt, den Ole einst als jugendlicher Yuppie durch den Verkauf seines Crazy-Frog-Klingelton-Start-ups aufgehäuft hatte und der jetzt für alle utopische Freiheit und Erlösung aus einem Leben als ökonomische Funktion verspricht.

Das alles ist ebenso vergnüglich, wie manchmal vielleicht ein wenig wohlfeil, da die Quote der FDP-Wähler*innen die Fünf-Prozent-Hürde selbst im Parkett der Kammerspiele kaum überspringen dürfte. Und weil man sich so diesmal weniger auf der Anklagebank fühlen muss als bei "Jeeps", überwiegt zunächst der reine Spaß an der Schadenfreude, in den sich im Nachgang dann aber doch der Beigeschmack bitterer Erkenntnis über die ungebrochene Wirkmacht neoliberaler Marktgläubigkeit mischt.

 

Doping
von Nora Abdel-Maksoud
Uraufführung
Regie: Nora Abdel-Maksoud, Bühne: Moïra Gilliéron, Kostüme: Cleo Niemeyer-Nasser, Musik: Tobias Schwencke, Licht: Maximilian Kraußmüller, Dramaturgie: Olivia Ebert, Dramaturgische Beratung: Nora Haakh, Künstlerische Mitarbeit: Eva Bay.
Mit: Eva Bay, Stefan Merki, Wiebke Puls, Vincent Redetzki, Şafak Şengül.
Premiere am 5. April 2024
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Doping" ist "eine Laborsituation, auf dem OP-Tisch liegt der Neoliberalismus", schreibt Michael Schleicher im Merkur (7.4.2024). Nora Abdel-Maksoud "unterhält mal derb, mal feinsinnig, tariert dabei den Text aber so aus, dass er immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel – sprich: Tiefgang – hat", schreibt er. Das fünfköpfige Ensemble liefere ein "rasantes Schauspielfest", es "spielt mit Tempo, Genauigkeit und achtet stets darauf, nie in die Karikatur abzurutschen, zumindest nicht allzu sehr".

Eine "schrille Farce", "im Grunde Boulevard pur" hat Michael Laages vom Deutschlandfunk (6.4.2024) an den Kammerspielen erlebt. "Aber, und das ist das Kunststück der Autorin, die wüste Klamotte dockt immer wieder an am Diskurs" an: etwa an Fragen der Selbstoptimierung des Menschen und der Rolle von Defiziten wie auch an Fragen von Geschichte und Bewusstsein der Frauen. "Diese Mischung ist ziemlich einzigartig und ungemein publikumswirksam", schreibt der Kritiker und würdigt: "Ein krachender Komödienknüller ist 'Doping'."

Anne Fritsch bilanziert für die Deutsche Bühne online (6.4.2024) Dieser Abend ist "voll mit den Problemen, die uns umgeben. Er packt die banalen Realitäten in das beinahe surreales Setting eines Unterwasser-'Careboots', in dem die Schwächen der Starken ganz unsichtbar behoben werden sollen. Dass die Pointen und Thesen hie und da so schnell aufeinander prasseln, dass kaum Zeit bleibt, ihnen zu folgen, mag sich noch einspielen. Alles in allem ist das ein kluger, bitterböser und trotzdem (oder gerade deshalb) extrem lustiger Abend."

"'Doping' mag nicht Nora Abdel-Maksouds am besten ausgearbeitetes Stück sein, dafür ist der Spagat von der FDP einerseits zum Mega-Thema Fürsorgearbeit dann doch etwas zu konstruiert, aber wiederum: ein Care-U-Boot und Mohnzutzler? Der gepflegte Wahnsinn ist bei ihr immer auch Strategie, und nicht die schlechteste", so Christiane Lutz von der Süddeutschen Zeitung (8.4.2024). "Auch 'Doping' strotzt vor klugem Witz, immenser Fakten- und Gedanken- dichte und hat immer eine intellektuelle Flughöhe, die es über alle Slapstick-Fallen hinwegsausen lässt."

"Im Grunde ist es klassisches, engagiertes politisches Kabarett, wie es früher in München etwa auf der Bühne der legendären Lach- und Schießgesellschaft gezeigt wurde, was die Autorin und Regisseurin Abdel-Maksoud da zeigt. Nur ist es virtuos beschleunigt und wird von einem Ensemble teils wirklich grandios lustiger, professioneller Schauspielerinnen und Schauspieler dargeboten, unter denen Wiebke Puls der Star ist", schreibt Wolfgang Höbel vom Spiegel (6.4.2024).

"Je wütender die 41-jährige Theatermacherin über das wird, was sie schreibt, desto lustiger werden ihre Texte und desto aufgedrehter, lauter und schneller geraten ihre Inszenierungen“, schreibt Mathias Hejny von der Abendzeitung (7.4.2024) über Abdel-Maksoud. "Was dann oft aussieht wie tumultuöse Klamotte, ist hochpräzise Komödiantik mit viel virtuosem Slapstick." Stefan Merki sei "umwerfend witzig", Wiebke Puls entfalte "eine Komik der Premiumklasse".

"Die Grundkonstellation ist großartig, die Einfälle sind es teilweise auch", so Sabine Leucht in der taz (8.4.2024).  "Allein, die Gags sind so zahlreich und schießen wie Querschläger umher, die man rasch aus den Augen verliert." Auch schauspielerisch wirke „Doping“ fahrig, oft unnötig laut und im Vergleich zu "Jeeps" verloren im größeren Raum.

Kommentare  
Doping, München: Zappeliger Slapstick
Mit zappeligem Slapstick kämpft sich das Ensemble durch die beiden äußerst plakativen Handlungsstränge über die Privatisierung des Gesundheitswesens und den Gender Pay-Gap/die ungleiche Verteilung der Care-Arbeit.

Nach ihrem Erfolg mit „Jeeps“, der es immerhin auf die Theatertreffen-Shortlist 2022 schaffte, ist Abdel-Maksouds neue Farce über Klassismus, Neoliberalismus und Geschlechtergerechtigkeit ein schablonenhafter Abend, der auf Abziehbilder eindrischt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/06/doping-muenchner-kammerspiele-kritik/
Doping, München: Quasihandlung
Yael Ronen und Nora Abdel-Maksoud ähneln dich in ihren Schreibweisen: ein oder zwei Themen, eine Quasihandlung und (na ja) Witz und recht kurz … Abdel-Maksoud hat eine derbere Version im Angebot. Es fehlt trotz „überraschender Wendungen“ (U-Boot) und der vielen (meistens nicht blöden) Einfälle ein neuer Denkanstoß: wenn die FDP zur Zeit unter 5% rutscht, fragt sich: warum darüber noch eine Komödie schreiben? … Wiebke Puls kann Kabarett, bei RTL wäre es ein Auftritt von 6-8 Minuten (hier jedoch …), immerhin schaut man ihrem Spiel (und auch dem von Eva Bay) gerne zu … Die Anfänge von drei musikalischen Stellen („ommm“ oder sowas) erinnert an den „Musikeinsatz“ in Hausners Film „Club Zero“, schein aber Zufall zu sein … einiges war akustisch nicht zu verstehen, auch bedingt durch die Schnelle …
Doping, München: Unsichtbares zeigen
Überspitzungen, die allenfalls zum Lachen anregen, wie bei Doping, mag ich nicht so sehr. Ich liebe Theater, wenn man es schafft (schwer genug) Unsichtbares auf die Bühne zu bringen, eine Entwicklung, eine Gefühlslage, eine Einstellung, einen besonderen Blickwinkel … wenn man im Theater eben Dinge erkennt, die man eigentlich nicht sehen kann, die man vielleicht ständig übersieht oder nicht kennt, die aber auf der Bühne ihren Ausdruck finden, über die man nachdenken kann. Oder so ähnlich … Das ist viel verlangt, bei „Doping“ ist es jedenfalls sicher recht platt geworden. Ja, Slapstick. Mein Gegenbeispiel: Derzeit „Kill Your Darlings“ von René Pollesch, bis Ende Mai in der Mediathek der Berliner Festspiele, ebenfalls systemkritisch.

Meine vollständige Kritik: https://qooz.de/2024/04/09/theater-nora-abdel-maksoud-doping/
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