Rettendes Theatrum mundi?

20. Juni 2022. Verloren! Gerettet? Ein düsteres Mysterienspiel der Untergänge von Welt und Hoffnungen inszeniert Noam Brusilovsky. Wen und wovor die „neue Arche“ des Autors und (Hörspiel-)Regisseurs schützt, weiß man vielleicht nach dem Besuch des Münchner Volkstheaters. Dort erfährt man, neben vielem anderem, auch, warum Pfeifen auf der Bühne Unglück bringen soll.

Von Sabine Leucht

"Arche Nova" © Gabriela Neeb

20. Juni 2022. "Willkommen an Bord" steht auf der Rückwand der Bühne. Aber nicht in leuchtenden und also ernstzunehmenden Farben, sondern in trübem Grau auf Schwarz. Am Eingang zur Bühne 2 des Münchner Volkstheaters haben zuvor schon Fragen die Menschenspreu vom Weizen getrennt: "Habt ihr einen Ersten-Hilfe-Kurs besucht?" Oder: "Glauben Sie an Gott?" Wer ja sagt, darf rein und drinnen frei herumgehen. Wer nein sagt, wird ebenfalls durchgewunken. Da stößt das Konzept zum ersten Mal an seine selbst gesteckten Grenzen.

Eine Arche namens Theater?

Denn Noam Brusilovsky und seine Crew haben auf ihre Arche geladen. An einen Ort der In- wie der Exklusion. Ist jeder zugelassen, verliert das Bild seine Logik. Aber wer wird denn gleich so streng sein? Das Publikum kann ja nicht wieder gehen. Schon draußen vor dem Theater – verteilt in dessen kongenial Neu und Alt kombinierender Architektur – haben sie uns abgeholt. Mit streng choreografierten Lotsen-Bewegungen und die Gruppe immer neu zerschneidendem Absperrband. Am Ende werden wir wieder nach draußen entlassen. Mit so buntem wie beißendem Leuchtraketenqualm, augenscheinlich also nicht gerettet nach einem Wechselbad aus Balsam und Säure.

Eben noch hat jemand die Geschichte von Picassos Taube erzählt, die Bert Brecht in den 50er Jahren auf dem Vorhang des Berliner Ensembles verewigen ließ (der dort als Zeichen gegen den Krieg aktuell wieder hängt) – und vom Theater als Ort, an dem man sich dazu verabredet, einer anderen Realität eine Chance zu geben, da wird gleich das russische Bombardement des Drama-Theaters in Mariupol vom 16. März dieses Jahres hinterhergeschoben, in dem Hunderte Menschen Schutz gesucht hatten. Viele von ihnen Kinder. Wie in einer Arche.

Safer Space, um den herum gestorben wird

Die Festung hält nicht mehr, der Rettungsort erweist sich als nicht verlässlich, die Verabredung ist gebrochen. Oder gilt sie immer nur für die mit den Privilegien?

ArcheNova4UA DorAlonicGabrielaNeebSelten wie das letzte Einhorn? Dor Alonic © Gabriela Neeb

Vieles in Brusilovskys "Mysterienspiel"-Collage deutet darauf hin. Sechs Kapitel hat sie und enthält noch eine knappe Handvoll Albträume, die eine Schauspielerin in eine Schreibmaschine tippt. Die Schrift erscheint an der Wand und die letzten Worte bleiben dort lange stehen: "Wir sind ein Safer Space. Die Musik ist so laut, dass man das Geschrei von draußen nicht hört", ist da zu lesen. Oder: "Durchs Fenster schaut man zu, wie Menschen sterben." Bei Noah war es die von einem wütenden Gott verhängte Sintflut, vor der sich von ihm ausgewählte Kreaturen in Sicherheit brachten. Wovor Noams (Brusilovskys) "neue Arche" in den verschiedenen Stadien dieses kurzen Abends jeweils abkapselt (Ertrinkende (Flüchtlinge), Klimawandel, Krieg), erfährt man aus diversen Wissensinfusionen aus dem Off und den spärlich gestreuten Spielszenen.

Warum Pfeifen auf der Bühne Unglück bringen soll

Wenn nicht gerade Dor Aloni singt oder das Publikum zum Mitskandieren der Namen von Noahs Söhnen anheizt, bleibt das Ganze nah am Hörspiel. Zu dem sich die sechs Akteure auf den Behelfs-Archen Baumstamm, PKW und Holzschnitt einer chinesischen Dschunke zu lebendigen Bildern gruppieren, die wiederum die Oberammergauer Passionsspiele zitieren, einst ersonnen zur Rettung der Dörfler vor der Pest. Dieses Katastrophenvermeidungstheater hält der Regisseur ebenso für ein rettungswürdiges Kulturgut wie die Kunstwerke, deren Titel minutenlang aufgezählt werden. Für die Menschen scheint es ohnehin eng zu werden auf Noams Arche – Skulpturen wie Niki de Saint Phalles Nanas sollen auch mit rein.

Dafür erfährt man viel. Zum Beispiel woher das kommt, dass Pfeifen auf der Bühne Unglück bringen soll. Da die ersten Bühnenarbeiter im Barocktheater vom Schiffbau kamen (stressresistent, keine Höhenangst), brachten sie diese Weisheit mit: "Auf See pfeift nur der Wind. Wer an Deck pfeift, beschwört einen Sturm herauf.“ Und da wippt also das sportive junge Ensemble auf und mit der Halfpipe vor einem Transparent, auf dem in Rot "Gnade" steht – und pfeift in seinem Übermut gerade erst recht. Und die Wasser steigen.

Ja, die Menschheit hat gepfiffen, jahrzehnte-, ach was: jahrtausendelang, und vielleicht die Gnade verspielt.

Bildungsbeflissenheit übertrumpft Fabulierlust

In "Arche Nova" ist es nie weit vom Bild zum Merksatz, auch wenn der Abend das bisweilen hinter einer Unmenge von verlesenen Lexikoneinträgen versteckt, die sich um die Engführung von Schiff und Theater als Heterotopien (Gegenorte zur Wirklichkeit) bemühen. Zitiert wird auch ein mystischer Philosoph, der die Arche als Ort verstand "um innerlich zu lernen, was äußerlich zu tun ist“.

ArcheNova3UA LukasDarnstädtHenrietteNagelcGabrielaNeebMit dem Auto in den Untergang: Lukas Darnstädt, Henriette Nagelc © Gabriela Neeb

Noam Brusilovsky, der sich seit seiner hinreißend ehrlichen Soloperformance "Orchiektomie rechts" immer wieder mit seinem speziellen Blick auf das Theater und ungewöhnliche Themen-Kombinationen in Erinnerung ruft, gelingt ein besonderer, aber kein besonders guter Abend. Dazu nimmt die Bildungsbeflissenheit zu sehr überhand über die Fabulierlust, mit der er etwa den Wasserschaden im frisch eröffneten Volkstheaters als Folge einer heimlichen Sintflut-Probe "enttarnt". Spielerisch entwickelt sich Vieles mit einer gewissen Umständlichkeit, inhaltlich kommt gegen Ende immer noch mal etwas Aktuelles hinterhergeklappert: Corona, der Krieg in der Ukraine. So dass sich der Abend trotz seiner nur 75-minütigen Dauer zieht. Schade für ein Theatrum mundi, in dem gerettet werden soll, was erinnerungswert ist. Möglichst für alle Zeiten.

 

Arche Nova
Ein Mysterienspiel von Noam Brusilovsky
Regie: Noam Brusilovsky, Bühne: Magdalena Emmerig, Kostüme: Paula de la Haye, Komposition & Live-Musik: Tobias Purfürst, Licht: David Jäkel, Dramaturgie: Lotta Bäckers.
Mit: Dor Aloni, Ruth Bohsung, Lukas Darnstädt, Steffen Link, Henriette Nagel, Pola Jane O´Mara, Vincent Sauer.
Uraufführung am 19. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde und 15 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

Kritikenrundschau

Der Abend sei "quasi eine gemeinsame Expedition, die man mit sechs Schauspielern unternimmt", findet Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (20.6.2022). In Teilen gleiche er "einer theaterwissenschaftlichen Stoffsammlung", die aber mit frischer Hingabe zusammengestellt worden sei. "Theater für Entdecker" sei dies. Die Inszenierung lebe "vom Charme der Hingabe und auch vom Stolz auf diese faszinierende Schiffsreise namens Theater", berichtet die Kritikerin erfreut.

Kommentare  
Arche Nova, München: Unbequeme Sitze
Danke für die Beschreibung dieses Abends.
Ich war dabei! Leider kommt die Situation des Zuschauers (der Zuschauerin) zu kurz. Wer einen Sitzplatz ergattert hatte sah nichts bzw. saß unbequem. So war eine Konzentration auf die Ereignisse sehr gestört.
Ein Lichtbildervortrag wäre angebrachter gewesen!
Arche Nova, München: Frei Assoziiert
Der Abend besteht textlich vor allem aus sehr sehr frei assoziierten Wikipedia Einträgen. Alles wirkt so lose aneinander gereiht, nichts wird vertieft - es gibt einige schöne Bilder, aber der Abend fügt sich zu nichts zusammen, das es lohnen würde, 75 vor Ort zu verweilen. Die Schauspieler sind unglaublich sympathisch aber wirken sehr unterbeschäftigt. Ich wollte das so gerne gut finden, es gelang mir aber nicht.
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