Der Stellvertreter - am Münchner Volkstheater auf die Bühne geholt von Christian Stückl
Von Jetzt nach Damals und zurück
von Michael Stadler
München, 25. Januar 2012. Weil der eine konsequent schweigt, kommen die anderen ins Reden. Eine gehörige Masse an Diskurs hat Rolf Hochhuth in sein erstes Theaterstück "Der Stellvertreter" von 1963 gepackt, um im Rückblick unter anderem Papst Pius XII. anzuklagen. Dieser vermied es während der Nazizeit, sich verbal gegen Hitler aus dem Fenster zu lehnen, aus Angst vor einem Sturz in ungewisse Tiefe. War es Vorsicht, war es Feigheit, war es Berechnung, weil der Vatikan eine größere Gefahr im vorwärts schreitenden Bolschewismus zu ahnen meinte? Hochhuth fand genug Anhaltspunkte für seine Kirchenkritik und schickte den fiktiven Jesuitenpater Riccardo Fontana auf einen Überredungsfeldzug zwischen Berlin und dem Vatikan: Der Papst soll das Konkordat mit Hitler mittels klarer Worte durchschneiden, so die hoffnungslose Forderung.
Geschichtslektionen
Als das Stück 1963 an der Freien Volksbühne Berlin unter der Regie von Erwin Piscator uraufgeführt wurde, machte es gehörig Skandal – und muss damals schon die Aufmerksamkeit des Publikums gefordert, wenn nicht die Geduld strapaziert haben. Denn dass der Diskursstrom in Zuschauerohren leichter hineinfließen könnte und mehr Aktion braucht, um einzusickern, darauf hat Hochhuth beim Verfassen offenbar weitgehend herzlich gepfiffen. Christian Stückl jedoch ist ein Mann fürs Volk, auch fürs junge, weshalb seine Inszenierung im Volkstheater mit zwei Jungs beginnt, die sich auf der Bühne mit "Hi" begrüßen. Der eine, gespielt von Pascal Fligg, tippt eine wissenschaftliche Arbeit über den "Stellvertreter" in seinen Laptop, der andere, gespielt von Pascal Riedel, ist neugierig, fragt sich, wo Auschwitz liegt, und überlegt, ob er vielleicht eine Ausgabe des Stücks signiert bekommt (Der 80-jährige Hochhut war Premierengast!). So bewusst unbedarft ist dieser Einstieg, dass er wieder gut ist. Und klug, trägt Stückl doch so ganz offen dem Umstand Rechnung, dass er ein Ensemble voll junger Schauspieler hat. Sie mussten wohl auch ihre Geschichtslektionen lernen, von Hochhuth und dem Passionsspiele-Profi Stückl, bevor sie bereit waren, das Wissen weiterzugeben.
Um Bildung geht es in aller Entschlossenheit an diesem Abend, das lassen schon die Bücher erahnen, die sich auf den Tischreihen des Bühnenbilds von Stefan Hageneier stapeln. Neonröhren spenden nüchternes Licht fürs konzentrierte Ambiente einer Bibliothek. Ein weißer, bei Bedarf sichtdurchlässiger Gaze-Stoff teilt die Reihen in ein Vorne und Hinten, macht Szenenwechsel zwischen Jetzt und Damals, zwischen verschiedenen Schauplätzen möglich. Und auch wenn Hochhuths Text für einen dreistündigen Abend zusammengedampft wurde, hört man es in den Dialogen rascheln, weil Stückl es ernst meint mit seiner Ausgrabung.
Unbewegte Geistlichkeit vs. teuflische Logik
Dokumentarisches Theater mit voller Kraft. Wer sich für diese Geschichte wenig interessiert, dem steht ein oft zähes christliches Trauerspiel bevor. Andere können gespannt lauschen. Einigen Darstellern bleibt nicht viel mehr als das engagierte Vermitteln des Diskurses, besonders Jean-Luc Bubert hat zwei statische Rollen abbekommen: Als Nuntius in Berlin empfängt er den SS-Obersturmführer Kurt Gerstein und wehrt dessen Aufruf zum Protest gegen die Judenvernichtung genauso ab wie später der ebenfalls von ihm gespielte Kardinal in Rom, der "das mit den Juden ekelhaft" findet, sich aber nur um die Kirche und den Papst sorgt.
Den Hygiene-Fachmann Gerstein hat es wirklich gegeben, sein Erlebnisbericht wurde später beim Nürnberger Prozess verwendet. Bei Hochhuth ist er ein Rebell, der mit den Nazis ein mutiges Doppelspiel treibt – Max Wagner versteht es, ein Poker-Face aufzusetzen und die innere Unruhe darunter spürbar zu machen. Am meisten Spielraum hat jedoch Oliver Möller in einer ironisch besetzten Doppelrolle, und er weiß diesen Raum hervorragend zu nutzen: Als Papst Pius XII. gibt er ein Bild unbewegter Geistlichkeit ab; als Doktor von Auschwitz ist er ein bewegter Damön mit scharf geschnittener Bubikopf-Frisur, ein teuflischer Logiker, der seine barbarischen Untaten auf den Versuch zurückführt, die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen.
Nüchternes Ende
Die Auseinandersetzung zwischen Fontana und dem Doktor entwickelt die meiste Spannung, aber da hat sich das Stück auch schon zum KZ-Drama über einen Mann gewandelt, der die Schuld der Kirche als Märtyrer sühnen will und selbst zum Objekt eines Überredungsversuchs wird. Da Fontana den Papst nicht überzeugen konnte, lässt er sich nach Auschwitz deportieren und wird vom Doktor boshaft umgarnt: Er solle doch in dessen Dienste treten. Der Davidstern, den er sich vor den Augen des Papstes pechschwarz auf die Brust malte, verwischt im melancholischen Dauer-Regen der Auschwitz-Szenen und bleibt doch zeichenhaft bestehen.
Auch der Glaube droht sich aufzulösen, aber der Pater kämpft dagegen an. Der beherzt spielende Pascal Riedel ist als Fontana die großartige Antriebsfeder des Abends, in seiner Energie ein Stellvertreter des Regisseurs, möchte man sagen, denn dass Stückl viel an diesem Stück liegt, verströmt diese Inszenierung aus allen christlichen Poren. Man glaubt kaum, wie trocken er den dritten Akt vor der Pause enden lässt. Der letzte Satz wird gesprochen, dann wird einfach schwarz ausgeblendet. Katholischer Inszenierungs-Barock sieht anders aus. Die Ermordung Fontanas am Ende von Hochhuths Stück fällt aus. Es bleibt ein junger Mann, der sich Bachs "Komm, Jesu, komm" anhört und beim "die Kraft verschwindt" ausschaltet. Genug gesungen und gesprochen. Herzlicher Beifall.
Der Stellvertreter
von Rolf Hochhuth
Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Licht: Günther E. Weiss, Dramaturgie: Katja Friedrich.
Mit: Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Justin Mühlenhardt, Oliver Möller, Kristina Pauls, Pascal Riedel, Stefan Ruppe, Max Wagner.
www.muenchner-volkstheater.de
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=XBdL8tJO6D4}
"Wer von Stückl ein radikales Dekonstruktionstheater oder gar ein hämisch-häretisches Papst-Bashing erwartet haben sollte, dürfte einerseits enttäuscht sein ob der um hohe Gefühlsintensität und Diskursgerechtigkeit bemühten Ernsthaftigkeit der Inszenierung", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (27.1.2012). Nicht zu leugnen aber sei die kritische Unbedingtheit, mit der Stückl und seine Schauspieler sich ins (un)heilige Zeug legen und das Stück durchleuchten - und durchleiden. "Da ist eine Dringlichkeit, die sich vermittelt. Hier geht es um was. Denen geht es um was." Das habe man nicht alle Tage im Theater. Stückls Konzentrationstheaterabend laufe mehr auf Fragen der Theodizee als auf die bloße Papstschelte hinaus. Fazit: "Wie ehrlich Stückl hier mal wieder mit Kirche und Glauben ringt, verdient Respekt."
Natürlich könne auch Christian Stückl nicht wirklich ein gutes Stück machen aus Hochhuths wüstem Konglomerat aus Recherchematerial und flammenden Leitartikeln, heißt es von Sven Ricklefs auf Deutschlandfunk Kultur vom Tage (26.1.2012). "Doch lässt man sich hier im Münchner Volkstheater den szenischen Geschichtsunterricht zumindest über einige Strecken gern gefallen." Stückl konzentriere sich vor allem auf die Figur des jungen Jesuitenpaters und finde hier eine Figur, die "mit ihrer unbeirrbaren Konsequenz auch heute noch beispielhaft sein kann für Zivilcourage". Und so könne Christian Stückl mit seinem durchweg beeindruckenden jungen Ensemble wenn auch nicht die dramatische Qualität so doch die noch immer vorhandene Brisanz des "Stellvertreters" unter Beweis stellen.
Auch Radio Vatikan (27.1.2012) berichtete von der Premiere. Für genauere inhaltliche Auseinandersetzung werden Kirchenvertreter zitiert, etwa Münchens Künstlerseelsorger Pfarrer Rainer Hepler, der findet, dass Hochhuths Pius mit dem historischen Pius XII. genauso viel zu tun hat wie der Richard III. von Shakespeare mit dem historischen Richard III. "Das wird am Theater immer so sein. Allerdings ist das Stück voller Klischees, und ich hatte gehofft, dass Christian Stückl dem Stück diese Klischees teilweise austreiben wird. Das hat sich mehr als erfüllt und zeigt, dass es letzten Endes auch nicht um die Frage geht, was Pius XII. getan hat, sondern wo Gott gewesen ist. Das ist natürlich auch theologisch eine sehr ernste und zentrale Frage."
"Warum dieser ganze saure Moralinquark?" fragt hingegen Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.1.2012), wo er das Stück gemeinsam mit Stephan Suschkes Ulmer Geschichtsbefragung Rommel - ein deutscher General bespricht. "Zwei Gespenster, jetzt in staubgepuderten porösen Prunkgewändern spukend zu Theatergeisterstunden." In München habe der geübte Oberammergauer "Passionsspielschnitzer" Christian Stückl habe Hochhuths "weltberühmtes Machwerk" und "unsägliches superkatholisches Papierdrama" "nah an Horroreffekte (samt geilem Jüdinnenquälen) rangehende supermalade Schreckensshow mit kurialen Knattermimen" in Szene gehauen.
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