Eine Unbekannte aus der Seine - Anna Bergmann führt Ödön von Horváth in absurde Gewässer
Rosa Desperate Housewives-Welt
von Steffen Becker
München, 18. März 2011. "Führen Sie ein glückliches Leben? Ja? Sehr gut. Immer weitermachen." Felix Kramer kann im Münchner Volkstheater als Albert nicht einfach fortfahren wie bisher. Nach der Plauderei mit dem Publikum muss er auf die Bühne der Inszenierung von Ödön von Horváths "Eine Unbekannte aus der Seine" steigen. Ben Baur hat einen unwirtlichen Ort aus grau-braunen Holzfassaden gestaltet – inklusive Schild mit dem Schriftzug "Glückselig", dessen grelles Motelwerbung-Pink die Aussage ins Gegenteil verbrutzelt. Darunter klagt Albert die Grausamkeit der Welt an, die ihn nach einer Unterschlagung verstoßen hat – auch seine Verlobte Irene. Die Menschen bewegen sich unterdessen wie auf Schienen um ihn herum und gehen ihrem Leben nach. Grelle Neonröhren töten ihre Farben, freudlos sagen sie ihre Dialoge auf. Nur das lächelnde Mädchen, das später als Unbekannte aus der Seine enden wird, macht Albert zum Mittelpunkt ihres Geschehens.
Warum wird dem Zuschauer allerdings nicht so recht klar. Was findet dieses naive junge Ding (Xenia Tiling) an diesem selbstmitleidigem Jammerlappen und seiner Klage, dass Leben Essen, Trinken, Schlafen, Sterben bedeutet? Denkbar schlechte Voraussetzungen für ein Beziehungsdrama um ein Fräulein, das am utopischen Streben nach Liebe scheitert. Regisseurin Anna Bergmann setzt aber bewusst andere Akzente als Ödön von Horváth. Sie lässt den Glückselig-Schriftzug ausknipsen und legt damit einen Schalter um – vom Drama zur Freakshow.
Im Schutz der Faschingsparty
Ihre Inszenierung führt ein Panoptikum von heimlichen Außenseitern vor. Der Elektrowaren-Händler (Robin Sondermann) lebt sein Transvestitentum getarnt als Junggesellenabschied aus. Der neue Geliebte von Alberts Ex-Freundin (Jean-Luc Bubert) tötet ihren Vogel mit Haarspray, um seine Aggressionen abzubauen. Die Nachbarin (Kristina Pauls) springt als eine Art Lady Gaga mit Schnurrbart und Bad Hair Day aus einer Hochzeitstorte. Das absurde Theater steigert Bergmann zu einer mit Synthiepop unterlegten Faschingsparty, in deren Schutz die kleinbürgerliche Gesellschaft den Ausbruch im Sex sucht. Der Elektro-Händler knutscht den Polizisten und beschimpft ihn als schwule Sau. "Lady Gaga" züngelt mit der Unbekannten, ihre Mutter rutscht lustvoll über den von Albert zur Geldbeschaffung ermordeten Uhrmacher. Die Bühnenarbeiter fegen derweil schon mal den Boden und bauen die Kulissen ab.
Im schrillen und unterhaltsamen Höhepunkt der Inszenierung gibt auch Xenia Tiling die beste Figur ab. Sie lässt sich in den Schritt fassen – und strahlt dabei eine irritierende Unschuld und Reinheit aus. So als sei es eine Selbstverständlichkeit im Tausch gegen eine Limonade die Brüste herzuzeigen. Das verleiht ihrer Figur das Jenseitig-Überirdische des historischen Vorbildes – einer glückselig lächelnden Wasserleiche, deren Totenmaske nach 1900 zum Kult wurde. Die anderen Figuren faszinieren im Vergleich weniger – was auch an der holzschnittartigen Darstellung liegt. Emotionale Erregung übersetzen die Schauspieler in Geschrei, die Dialoge sind oft mehr gegenseitiges Deklamieren als echte Interaktion.
Konvention mordet Außenseitertum
Das fällt allerdings umso weniger auf, je konsequenter Bergmann die Absurdität ihrer Inszenierung auf die Spitze treibt. Im zweiten Teil geben sich der verfolgte Albert (nackt) und die Unbekannte (fast nackt) vor einer Gehölztapete ihren animalischen Trieben hin. Die Unbekannte erklimmt mit diesem sexuellen Höhenflug die Horváth'sche Fallhöhe. Von der holt Bergmann sie symbolisch stark gelöst wieder herunter. Alberts Ex Irene taucht auf, er will zu ihr zurück in ein geordnetes Leben.
In diesem Moment lässt die Regisseurin die Figuren der konventionellen Geschäftsfrau und der in der Gesellschaft nicht einzuordnenden Unbekannten verschmelzen. Sie sprechen den gleichen Text, der in eine Art Schlammcatchen im Wasserbassin übergeht. Wo Horváth den Freitod einer Verzweifelten vorsah, ermordet bei Bergmann die Konvention (Irene) das Außenseitertum (die Unbekannte). Der Vorhang hebt sich und zum Vorschein kommt eine rosa Desperate Housewives-Welt mit einem süßen Kinderchor der "Mad World" singt: "the dreams in which I'm dying are the best I've ever had." Was man sich unter einem glücklichen Leben so vorstellt. Für Albert heißt das: Einfach weitermachen.
Eine Unbekannte aus der Seine
von Ödön von Horváth
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Ben Baur, Kostüm: Claudia González Espindola, Sounddesign: Heiko Schnurpel.
Mit: Felix Kramer, Max Wagner, Sina Kießling, Robin Sondermann, Jean-Luc Bubert, Justin Mühlenhardt, Xenia Tiling, Michael Tschernow, Ursula Burkhart, Kristina Pauls, Pascal Fligg.
www.muenchner-volkstheater.de
Die Regisseurin Anna Bergmann, 1978 geboren und in Sachsen-Anhalt aufgewachsen, hat u.a. auch am Berliner Maxim Gorki Theater die Uraufführung von Juliane Kanns Stück Fieber inszeniert.
Anna Bergmanns Interpretation, "die fast eine ganze Theaterhalbzeit lang FKK-Theater ist, interessiert vor allem aufgrund ihrer Textauslegung", so Astrid Kaminski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.3.2011). Die spießbürgerliche Unbedarftheit, mit der Horváths Hauptfiguren ihrer selbstgerechten Glückseligkeit entgegenstreben, werde durch die szenischen Trick um einiges hintergründiger. Doch "leider wuchern um den gelungenen Kern der Inszenierung jede Menge Halbideen und Stilschablonen" und auch "die Figuren werden in diesem sprunghaften Stil-Eklektizismus kaum entwickelt".
"Ein Lustspiel, aber kein fröhliches" habe Horváth mit "Die Unbekannte aus der Seine" geschaffen, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (21.3.2011). Es sei ein Werk, das mit einem "feinen, milden" Ton und "lichter Neugier" Menschen beim "Abstrampeln" betrachte. In Anna Bergmanns Inszenierung werde in einer für den Kritiker zentralen Szene nach der ersten Pause die Sehnsucht eher "handfest verhandelt". Felix Kramer (völlig nackt) und Xenia Tiling wühlten sich hier durch "den Bodensatz schmerzlicher Liebe, Lust und Gier". Regisseurin Anna Bergman – das "in alle Richtungen explodierende Fräuleinwunder des deutschen Theaterbetriebs" – stecke voller Ideen, was dazu führt, "dass der Zuschauer hin- und hergeworfen wird zwischen Einfällen und Stilen". Der Kritiker beschreibt die Inszenierung als "wild schlingernd", ohne ihr dies dezidiert negativ auszulegen.
"Was für ein Einstand!", jubelt dagegen deutlich vernehmbar Michael Schleicher im Münchner Merkur (21.3.2011). Dieser Horváth werde "hammerzart, poetisch und schmerzhaft, intelligent und unterhaltsam auf die Bühne gebracht. Ein verstörend schöner Abend." Bergmann erzähle "in starken Bildern" vom "Trachten der Horváth'schen Figuren nach Glück". Besondere Anerkennung erhält die Regisseurin für ihre Schauspielerführung und Besetzungscoups (Felix Kramer).
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Nein, werte Damen, der Horváth revoltierte auch in seiner Zeit und würde sich verneigen vor dieser Übertragung seines Aufbegehrens, die nicht breit daherkommt und weiblich ist, in den Nuancen zart und unmerkbar rabiat. Fett gemalt ist nur die Unbekannte (manchmal recht laut als Naive und als Zerrbild der ungwollten Parasitin einer Männergesellschaft überzeugend: Xenia Tiling), die allethalben in dieser Region heimisch ist, doch ihr Heimspiel verlieren wird.
Felix Kramer, sich in seinem durchweg ehrlichen Schweiß und seiner kräftigen Offenheit auch Protesten ausliefernd, gibt sich keine anheimelnde Müh, in ein Phantasieösterreichisch eines "Wienerwald"-Erfinders zu begeben: "Sind Sie glücklich?", becirct er Zuschauer und spielt dann ohne Larve den offensiv unglücklichen Albert, dem er seine Kraft leiht. Felix Kramers Albert reißt in seinem unverlogenen Enthusmiasmus das rosafarbene "Glückselig" schon vor dem Öffnen des Vorhangs in das Höllriegelskreuth, eine Station unweit des Schauplatzes im Volkstheater in seinem Horror-Grau und Alptraum-Rosa. Dieses Höllenriegelkreuz verehren sie gern, auf dass sie nicht hinabgezogen werden und geben sich glückselig, die Bewohner eines Mietshauses: sie taumeln rückwärts und seitwärts, um dieser Höllenpforte zu entkommen. Sie sitzen glückselig steif daher, bevor sie sich brachial in ihren eigenen Chiffren wehren gegen die Augen von Albert, seiner Liebe Irene und deren Trostmann Ernst. Jean Renoir hat solche grauen Kulissen für seine Spielregel genutzt wie später Truffaut für sein Ehedomzil. Diese, Truffauts Hinterhof-Poesie, war dann bunter, weil er einen Schalk namens Doinel Blumen hat färben lassen und ihre ursprüngliche Farbe der Realität entheben konnte. In Anna Bergmanns Fassung behalten die weißen Rosen ihr urprüngliches Weiß und sie macht aus weicher Poesie klare Prosa. Grauweiß wie beim Ingmar, dem Frauenfilmer. Bergmann hat nur einen Helden, Albert, der allerdings zu den Frauen steht, die hier, anders als bei Horváth, den Kampf selbst austragen dürfen. Eine von ihnen wird die andere vernichten und bevor das Blitzlicht zuschlägt in dieser rosa Welt, in der sich Männer vom Machismus befreien und selbst der polizeiliche Ermittler einen Mann heiraten darf, verharrt am Ende nicht die Totenmaske der Unbekannten aus der Seine, deren Konterfei auch gern der Münchner, der was auf sich hält, an der Wand hätte, weil dieses Lächen im Tode - ob nun der Mord durch Irene (Sina Kießling) oder horvátschedler Freitod - verlogen genug ist, um weltlich pariserisch sein zu dürfen: Es bleiben die Augen von Sina Kießling und Felix Kramer, die einem Panoptikum zu entfliehen bereit sein wollen, vom Münchner Volkstheater nicht so weit entfernt von einer Station, die sich Höllriegelskreuth nennt.