Alles Blocksberg oder was?!

von Sabine Leucht

München, 2. Oktober 2008. Wenn dieser Abend ein Thema hat, dann ist es das Verschwinden von Sinn durch Tempo, Eile, ungestümes Weiterhecheln, einstmals auch "Fortschritt" genannt. "Der Sinn ist zu", räsonniert Faust, nachdem er seine Forscherkollegen verlassen hat, um statt eines Gummiballs an die Wand des Labors doch endlich ein paar Goethe-Zitate ins Publikum zu werfen. Er wird speziell diesen Satz noch so manches Mal sagen. Zusammen mit "Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan", hüllt er den Abend in die Zwangsjacke verzweifelter Geschäftigkeit.

Und Faust wäre nicht er selbst, ginge es dabei nicht um die Suche nach dem, "was die Welt im Innersten zusammenhält." Sogar hier, sogar bei Simon Solberg, der seinen auf eineinhalb Stunden Spieldauer verschlankten "Faust" (nach Goethe) zum Saisonauftakt am Münchner Volkstheater mit Globalisierungskritik und multimedialen Querverweisen angereichert hat. Nur so zum Beispiel. Mal sieht das aus wie Kasperltheater – und mal wie "Raumschiff Enterprise", bloß hektischer.

Theaterbeschleuniger schießt auf Lieblingsdenker
Wir schreiben das Jahr 2008. Tatort ist das Kernforschungszentrum CERN in der Schweiz, wo derzeit eine Reihe von Physikern mit einem Teilchenbeschleuniger zugange ist. Mit diesem 7000 Tonnen schweren Gerät schießen sie Materieteilchen aufeinander und hoffen, den Urknall simulieren zu können. Seitdem grassiert unter Skeptikern die Angst vor alles verschlingenden schwarzen Löchern. Und das nur, weil längst durchgesetzte Gedanken endlich zu Taten werden sollen.

In München schießt der Theaterbeschleuniger Solberg mit vielen kleinen und größeren Bühnentaten auf den Lieblingsdenker der Deutschen und hofft, Aktualität simulieren zu können. Klappt aber nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Denn dafür schließt er sein Starkstromtheater an zu viele wechselnde Akkus an, dazu fehlt seinem furios-verspielten Ansatz die innere Stringenz. Die Teilchenphysik ist gut für den Anfang, der 11. September und andere Katastrophenszenarien sind es für die Mitte – und ein paar Hitlerbärtchen, die irgendwie zur RAF mutieren ("Halt's Maul, Ulrike!"), kommen auch mal vor.

Gebt uns einen Gedanken!
Aber hallo! Der alles umfassende, alles verschlingende große Gedanke müsste es gar nicht sein, aber etwas weiter als bis zum nächsten Gag sollte er schon reichen. Denn wenn der 29-jährige Senkrechtstarter im Theaterregiebetrieb erst einmal loslegt, folgen lustige Einfälle dichter aufeinander als Hagelkörner.

Auf Sebastian Hannaks schräg in den Zuschauerraum hineinragender Bürobühne steckt sich (in der Blocksbergszene?) ein wundersam verfünffachter Mephisto papierne Vampirzähne an und dem wissensdurstigen Opfer Faust wird die ganze verführerische Welt im Schnelldurchgang vor Augen geführt: Exotische Tänze, wilde Tiere, entfesseltes Showbiz und traumtänzerische Unterwasserwesen entstehen mit einfachsten Mitteln und vergehen im Sekundentakt.

Der Einsatz der Requisiten ist atemberaubend, die Musik stimmig bis süß ("Richtig Antwort, gute Mann, musst du pfeife in de Wind"), und die Schauspieler sind mit viel Elan bei der Sache. Barbara Romaner als Gretchen klammert an ihrem Verführungsgeschenk geifernd wie Gollum ("Mein Schatz!"), und Jean-Luc Bubert hakt als hauptamtlicher Mephisto seine geflügelten Eingangs-Sätze ("Ich bin der Geist, der stets verneint...") so lässig ab wie ein vielbeschäftigter Arzt einen lästigen Kassenpatienten, um sich hernach in Osama bin Laden, John McEnroe, Obi Van Kenobi oder Jesus zu verwandeln. Nur so zum Beispiel.

Totale Überforderung
Es gibt auch eine live abgefilmte Puppenspielszene, die so ziemlich alles zitiert, was sich jemals an und um eine Hochhausfront abgespielt hat. Der Zuschauer in seiner Rolle als Dechiffrierer ist hier strukturell wie generell total überfordert. Denn zwischen den vielen für sich amüsanten Zeichen macht sich der Sinn in ein schwarzes Loch davon. Das mag Kalkül sein, denn schließlich geht es ja darum im "Faust": Das Verschwinden des Augenblicks im ständigen Voranpreschen auf ein Ziel hin. Und heißt das Ziel im Solberg-Theater gerade mal Gretchen, muss Faust halt mehrmals die Rewind-Taste der Fernbedienung drücken, bis er sie überhaupt ansprechen kann.

Dabei steht Jan Viethens Titelfigur als Spaßbremse mit Laptop und zerknirschtem Gesicht eigenartig quer zum emsigen Gagbetrieb, bis er sich am Ende in Gretchens Gummizelle die imaginäre Kugel gibt. Hat ihn die Regie vergessen? Oder sollte er als einziger begriffen haben, dass hier irgendwie alles Blocksberg ist – ein ganz wilder Spuk und so sehr Junk wie das Futter aus Pappe, das am Ende als Sinnbild der Globalisierung hochgehalten wird?

 

Faust
nach Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Simon Solberg, Bühne und Kostüme: Sebastian Hannak, Musik: Janko Hanushevsky. Mit: Jean-Luc Bubert, Justin Mühlenhardt, Barbara Romaner, Stephanie Schadeweg, Andreas Tobias, Jan Viethen.

www.muenchner-volkstheater.de


Mehr über den Regisseur Simon Solberg in den Kritiken zu seinem Don Quijote im Dezember 2007 in Frankfurt am Main und zu seiner Uraufführungs-Inszenierung von Marcus Brauns Bilder von Männern und Frauen im November 2007 in Mannheim.

 

Kritikenrundschau

"Faust ist ein Forscher am Genfer Cern-Institut", und das "frei improvisierte Vorspiel macht von Beginn an klar", dass es zum Saisonauftakt am Münchner Volkstheater "nicht um literarische Exegese geht", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (4.10.2008). Erwartet habe dies auch kaum jemand, denn Solberg, mit "Hang zum projekthaften Arbeiten", habe jüngst etwa einen "Don Quichotte" als selbstgebastelten Erfahrungstrip herausgebracht. Die Faust-Inszenierung "ist eine Rumpelkammer", so Tholl, anscheinend habe "Solberg jede, aber wirklich jede Idee, die einer der sechs Akteure während der Proben hatte, in seine Aufführung integriert." Mit Deutungen sollte man sich bei diesem Abend zurückhalten, denn "alles wird munter behauptet und im nächsten Moment zur Disposition gestellt ... Und doch knallen alle fröhlich ins Heute weitergedachten und mit theatral aufbereiteten Kino-Mythen ausgemalten 'Faust'-Motive immer wieder an die ehern stehengebliebenen Goethe-Sätze."

"Eine verhackstückte Pop-Version" sah Gabriella Lorenz (Abendzeitung, 4.10.2008), von einem Regisseur, der eine "überbordende Fantasie" habe und "für seinen Global Player Faust eine Welt der schnellen Bilder" erfinde, der "parodistisch Fernsehserien und die Pop-Charts" zitiere und seinen "Assoziationen freien Lauf" lässt. Die "wild wuchernden Assoziationen führen jedoch nirgendwo hin". Fazit: "Im Grunde wird hier alles zum Kalauer, auch wenn Mephisto als gekreuzigter Jesus im Schrank hängt. Trotz des einsatzfreudigen Ensembles kommt die verspielte Inszenierung über beliebiges Entertainment nicht hinaus."

 

 

 

 

Kommentare  
Faust in München: gründliche Entstaubung
Ich habe da schon einen weiterführenden Gedanken entdeckt: Der Nationalfaust deutschen Wesens wird in dieser Inszenierung von Simon Solberg gründlich rausgestaubt. Und es wird Platz gemacht für einen neuen Faust, der die ganze Welt betrifft. Der Kosmopolit Goethe kann sich da nur freuen. Der wußte ohnehin, dass sein Faust so schnell nicht auszuschöpfen ist.
Solbergs Faust: erfrischende Sicht
In der ersten Hälfte ist es kein Problem, in den überbordenden unterhaltsamen Einfällen eine schlüssige Erzählung der Faust-Geschichte zu erkennen. Die Schwierigkeit beginnt mit der Notwendigkeit zu motivieren, warum auch ein modernes Gretchen, die ihr Kind seinem Vater und ihrem Bruder zeigen kann, wahnsinnig wird. Statt einer Antwort darauf gibt es eine verwirrende Szenenfolge. Dann aber wird die Walpurgisnacht überzeugend mit Fausts Ende und damit der Kritik am blinden Fortschritts- und Wachstumsglauben zusammengefaßt. Insgesamt eine erfrischende Sicht auf den deutschen Klassiker schlechthin, der die selbstgefälligen Wortspielereien der vorliegenden Kritiken nicht gerecht werden.
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