Mythos P.A.N. - Staatstheater Nürnberg
Lad' mich hoch, Neurath!
8. Juli 2023. Da ist sie: die neue Nürnberger Spielstätte für digitales Theater, bundesweit die erste ihrer Art! Im Eröffnungsstück hilft die neue Technologie tatsächlich einem guten alten Bekannten: der analogen Bühnenkunst auf die Sprünge. Aber das ist natürlich längst nicht alles.
Von Andreas Thamm
8. Juli 2023. Ein bisschen versteckt Nürnberg die Bedeutung des ganzen noch hinter der eigenen Lässigkeit. Das Staatstheater schießt eine neue Spielstätte für digitales Theater, bundesweit die erste ihrer Art, aus der Hüfte, so kommt es einem vor. Und liefert die erste Premiere im XRT (Extended Reality Theater) so gerade noch in der laufenden Spielzeit. Als letztes Ding, weil – siehe, wie die Welt von der KI überrollt wurde – gerade in Sachen Digitalität keine Zeit zu verlieren ist.
"Mythos P.A.N." heißt die erste Premiere im XRT, nachdem Roman Senkl und Nils Corte, die Leiter desselben, zuvor augenzwinkernd ein LAN-Kabel durchschneiden durften. Das von Konstantin Küspert, Fabian Schmidtlein und Senkl selbst geschriebene Stück rekurriert direkt auf "Pan's Lab", die erste Arbeit von Senkl und Corte in Nürnberg – exzessives Digitaltheater als Onlineserie bei Twitch. Wieder geht es um die mythische Figur Paul Anton Neurath, der in den 80er Jahren in Nürnberg als Theatermacher gewirkt habe, aber eben auch als Programmierer, Erfinder, Visionär, und auf dem Höhepunkt seiner Arbeit an einer Maschine, die die Verstorbenen zurückholt, spurlos verschwunden sei.
Bitte kein Theater!
Davon erzählen uns Annette Büschelberger, Justus Pfankuch und Llewellyn Reichman, wobei letztere eine dominante Rolle innerhalb der Gruppe einnimmt. Besonders eines ist ihr dabei wichtig: "Bitte kein Theater!" Es soll um Himmels Willen nicht gespielt werden an diesem Abend, und wann immer ihre Kolleg*innen in Versuchung geraten, muss Reichmann einschreiten. Gleichzeitig – und das ist ein bisschen schade, denn das vage Herumzweifeln um die mögliche Echtheit des Neurath fällt weg – ist das alles von Anfang sehr charakteristisch Theater im Sprechen und Agieren. Die spielerische Illusion um eine Stückentwicklung, die ja tatsächlich eine Recherche sein könnte, fällt aus.
Inhaltlich verlässt das Stück aber ohnehin recht flugs den Boden der Plausibilität. Neurath habe an besagter Maschine gearbeitet, das Trio seine Pläne gefunden und die Maschine nachgebaut: Es ist dieser Raum, in den man nun alle Fundstücke, also alle Daten aus dem Leben des PAN "hochladen" kann, um am Ende irgendwo herauszukommen. Im Idealfall bei einer Wiederauferstehung des Helden.
Das ist die Versuchsanordnung, die aber natürlich innerhalb eines Labors stattfindet, das an diesem Abend zum ersten Mal seine Potenz zeigen darf. Das XRT soll ein "Zuhause" der Digitalexpert*innen sein, so Senkl selig im zeremoniellen Teil. Die technische Ausstattung, die bleibt und ein nachhaltiges Arbeiten mit digitalen Instrumenten möglich macht, qualifiziert es dazu. Die Herausforderung der ersten Premiere, und das ist ihr leider anzumerken, besteht darin, eben auch eine Geschichte mitzuliefern, die mehr ist als das Stichwortgeberin für das nächste Gimmick. Und die die Technik an sich gleichzeitig braucht, weil sie sie zum Inhalt macht und nicht bloß als Instrument verwendet. Ein Anspruch zum Verzweifeln eigentlich.
Der erste Anlauf wirkt dadurch teils zusammengestöpselt. Hinter einem YouTube-Link aus einer anonymen E-Mail verbarg sich eine – wunderbar parodistisch collagierte – Neurath-Doku, wie sie nachts bei "ZDF Info" laufen könnte. Auch darin ist vom eigentlichen Kern des Ganzen schon die Rede: einer "Hamlet"-Inszenierung, an der Neurath elf Jahre lang geprobt habe, bevor das Projekt vom Staatstheater abgebrochen wurde.
Schlüsselfigur Hamlet
Eine VHS-Kassette mit Teilen dieser Inszenierung befindet sich, so die Story, im Besitz des Ensemble-Trios. Das weiß nun: Neurath hat da vermeintlich eine tiefere Wahrheit über sein eigenes Leben entdeckt, und um dem auf die Spur zu kommen, müsste man das eins zu eins nachspielen. Auf der Bühne befinden sich zwei Leinwände, linksseitig im Hintergrund, rechts in der Mitte. Justus Pfankuch wird abgefilmt, während er bei einer schwarzweißen "Hamlet"-Inszenierung synchron mitspricht, sodass verschiedene Formen der Überblendung von Livebild und Aufzeichnung entstehen.
Im Sinne des Stückes ist das eine Forschung: Dieser Blick, den Büschelberger als nachspielende Mutter von Hamlet aufsetzt, das ist doch …! Genau: der Blick, mit dem Neuraths Mutter auf dem alten Foto in dieser Kiste Neuraths Onkel anschaut. Darin besteht der Kniff, der eigentliche Turning Point der Erzählung: Der "Hamlet" hat dem Regisseur das eigene Leben aufgeschlüsselt beziehungsweise einen ungeheuerlichen Verdacht in ihn eingepflanzt. Der eigene Vater, der bereits an der Unsterblichkeit forschte, wurde von Mutter und Onkel um die Ecke gebracht!
Das ist, gerade durch die Vielschichtigkeit der Rekonstruktion des Verdachts ziemlich interessant, gerät in der Folge aber leider wieder aus dem Fokus, weil ja bis hierhin die Technik, die Digitalität, noch gar nicht so sehr zu ihrem Recht gekommen war. Die KI darf noch mitspielen und in Zusammenarbeit mit dem Publikum, das Lieblingssport (Schach) oder -essen (Schnitzel) von Neurath einspeist, Bilder entwerfen. Ein Avatar entsteht, ein 3D-Modell, das Reichman mittels Motion Capturing auch mimisch zum Leben erweckt, während sich parallel Pfankuch mit diversen Sensoren ausgestattet hat, um das Ganzkörpermodell auf der zweiten Leinwand auch zum Tanzen zu bringen …
Mensch und Maschine
Siehe da, er spricht, dieser Pixel-Neurath, er verjüngt sich sogar. Ein elfjähriger Junge, der sagt: "Mein Vater hat gesagt, dass niemand sterben muss, das hat er mir versprochen". Ein Moment, in dem die Maschine unter Beweis stellt, wie sie die Menschen zu berühren vermag. Auch ein Dramenmanuskript taucht unvermittelt auf, das dann gespielt werden muss. Es handelt von Neuraths Konfrontation mit seiner Mutter, die ihm erklärt, der Vater sei doch schizophren gewesen und ins Koma gefallen. Eine hoch emotionale Szene, aber eben im Spiel. Das mag Reichman nicht aushalten: "Ich fühle mich der Maschine näher als euch Menschen. Wenn wir alle Maschinen wären, es gäbe eine gerechtere Welt!"
Sie will selber gescannt und hochgeladen werden und taucht wieder auf ins Neuraths animiertem Arbeitszimmer. Neuraths Klavier spielt, als säße da ein Unsichtbarer, die Musik fächert sich euphorisch auf, kommt jauchzend und jaulend von überall, der Avatar tanzt. Es ist nicht ganz klar, zu welchem Ergebnis die Forschung geführt hat oder ob ihr Scheitern erzählt wurde, auch in der Schlusspointe löst sich dieser Knoten nicht. Aber vielleicht ist das Inhaltliche gar nicht entscheidend an einem komplexen und detailverliebten Abend, an dem vor allem eines deutlich wird: was hier in Zukunft möglich sein wird.
Mythos P.A.N.
von Konstantin Küspert, Fabian Schmidtlein und Roman Senkl
Konzept und Idee: Roman Senkl, Realisation: minus.eins und Team, Creative Coding, Technische Leitung: Nils Corte, Bühne: Silvija Ostir, Kostüme: Ji Hyung Nam, Musik und Video: Kostia Rapoport, Dramaturgie: Fabian Schmidtlein, Licht: Nils Reifstahl, Norbert Böhringer, Regieassistenz und Abendspielleitung: Karim Gamil.
Mit: Annette Büschelberger, Justus Pfankuch, Llewellyn Reichman.
Uraufführung am 7. Juli 2023
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Kritikenrundschau
"Mythos P.A.N." wirke "wie ein Kalauer aus dem Papierkorb von Hausautor Philipp Löhle - und bleibt auch, was die performativen Aspekte betrifft, ebenso reizlos wie irrelevant", schreibt Wolf Ebersperger in den Nürnberger Nachrichten und der Nürnberger Zeitung (10.7.2023). "Irgendwas stimmt ja nicht, wenn selbst erstklassige Schauspieler wie Annette Büschelberger, Llewellyn Reichman und Justus Pfankuch agieren, als sei man die Laienspielgruppe des Chaos Computer Clubs." "Künstliche Intelligenz wird da nicht helfen, eher schon: künstlerische", so Ebersperger. "Mythos P.A.N." zeige von der erweiterten Realität, in der wir leben, nichts Sehenswertes. "Es zeigt, in eineinhalb kaltgestellten Stunden, nicht mal erweitertes Theater."
"Weil die technischen Mittel etwas veraltet sind, hat deren Anwendung etwas Argloses und wirken die Potenziale der jungen Techniken harmlos", bemerkt der Donaukurier (14.7.2023). Projektionen, die Kommunikation der Darstellenden mit Avataren und die aus Zuschauerzurufen montierten Videorequisiten gerieten in Museen und in Animationen der Unterhaltungsindustrie weitaus illusionärer als in diesem Theatersetting. "Schnell wurde also deutlich, dass Theater im Präsentieren, Erörtern und Analysieren stärker ist als in der experimentellen Anwendung technischer Mittel."
"'Mythos P.A.N.' erscheint zwar auf den ersten Blick als Spielwiese für die Technologien, die nun Theaterluft schnuppern dürfen, doch auf den zweiten Blick – den man auf jeden Fall wagen sollte – erweist sich die Produktion als Auseinandersetzung mit dem Thema „Unsterblichkeit durch Digitalisierung und Digitalität“, aber auch dem Thema 'Was ist eigentlich Fakt und was Fiktion'", heißt es bei KulturAspekte (11.7.2023). Die Produktion rufe dazu auf, die Themen rund um digitale Möglichkeiten genauer zu betrachten und kritisch zu hinterfragen. "Damit hat das Staatstheater Nürnberg bewiesen, daß es sich nicht scheut, die digitale Welt als Raum für Theater zu erschließen. Ohne Berührungsängste, dafür mit viel Neugier und Kreativität wagt es sich an die Themen, die die Technologien mit sich bringen."
"Das ist teils imposant, bleibt aber stets künstlich, ein großer Trost bei all dem Bemühen. Der Abend wirkt, als sollte das XRT erst einmal mit all seinen Möglichkeiten vorgestellt werden und die Herstellung künstlicher Welten thematisiert werden", schreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (10.7.2023). "In der kommenden Saison sind vier 'Inszenierungen' geplant. Dann wird man sehen, wie viel die Technik künstlerisch wirklich bringt."
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