Einstein on the Beach – Die Berliner Festspiele zeigen eine restaurierte Version des Gründungsstücks von Robert Wilsons Theater
Lost in Expectation
von Wolfgang Behrens
Berlin, 3. März 2014. Das war's nun also. Vorbei, vorbei. Am Ende erhebt sich der Saal nahezu geschlossen, um zu feiern, was man gemeinsam erlebt hat. Und was man zu erleben hatte, das war einem schon vorher und auch nachher wieder, bei der sich anschließenden Foyer-Festivität, zur Genüge eingetrichtert worden – vom Intendanten der Berliner Festspiele Thomas Oberender bis hin zum Regierenden Bürgermeister: einen historischen Moment. Wobei es ja eigentlich kein historischer Moment war, sondern nur die Beschwörung eines solchen. Ein bisschen wie Weihnachten also, nur dass der historische Moment in unserem Falle nicht über 2000 Jahre, sondern erst knapp 40 Jahre zurückliegt.
Was wir sahen und hörten
Und ja, es ist tatsächlich so, dass es Leute gibt, die sehr lange auf diesen Moment bzw. auf die Beschwörung dieses Moments, auf diese Aufführung jedenfalls, gewartet haben. Ich kann das sagen, denn ich gehöre zu diesen Leuten. Ich warte seit 25 Jahren. Ende der 1980er Jahre nämlich sind wir – ein paar Freunde und ich – nach Stuttgart gepilgert, ein Zelt im Gepäck, um die bildgewaltige Achim-Freyer-Inszenierung von Philip Glass' Oper "Einstein on the Beach", einem Meilenstein der minimal music, zu bestaunen.
Theatergeschichte revisited in Berlin © Lucie JanschWas wir sahen und hörten, hat uns damals ziemlich umgehauen (wobei einige das forcierten, indem sie ein wenig mit Gras nachhalfen), und in der Folge hat das eine veritable Phil-Glass-Manie unter uns ausgelöst. Auch wenn diese Phase längst abgeklungen ist, ein Bedürfnis blieb: Man müsste doch einmal die legendäre, eine ganze Theater- und Kunstästhetik begründende Originalproduktion von "Einstein" sehen, die 1976 in Avignon als Zusammenarbeit der New Yorker Avantgardisten Robert Wilson und Philipp Glass herauskam und in den Jahren und Jahrzehnten danach in immer neuen Wiederaufnahmen um die Welt tourte.
Das Bedürfnis verstärkte sich noch dadurch, dass Robert Wilsons Inszenierungen seitdem gleichsam in Serie gegangen sind, oft genug aber wie Abziehbilder voneinander wirken. Was fast jeden zu Anfang begeistert – eine alte Theaterweisheit: "Der erste Wilson ist immer der beste" –, ermüdet bald, und bei der dritten, fünften, zehnten Wilson-Inszenierung sieht man unweigerlich das Kunstgewerbe am Werk. Und man sehnt sich dann nach dem ersten Mal zurück, man giert nach der reinen Lehre, man will das Gewerbe streichen und die Wilson-Kunst in den Stand der Avantgarde wiedereingesetzt sehen.
Aufgehobenes Zeitgefühl
Nun also ist das "Mutterschiff der Arbeit Robert Wilsons" (Thomas Oberender), jene gloriose "Einstein on the Beach"-Aufführung, in der x-ten Reprise doch noch in Berlin gelandet – und dem Vernehmen nach soll hier endgültig Schluss sein. Letzte Wiederaufnahme, letzte Aufführungsserie, aus und vorbei: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Dem historischen Moment steht nichts mehr im Wege. Oder doch: Im Wege steht längst der enorme Erwartungs- und Rezeptionsdruck, der auf der Aufführung lastet.
Eines wird jedenfalls schnell klar: Die Hoffnung, die New Yorker Avantgarde von damals ins Heute zu retten, ist vergeblich. Zwar wirkt die Aufführung erstaunlich frisch – nicht zuletzt Meister Wilson selbst hat sie derart auf Vordermann gebracht, dass man ohne weiteres glauben könnte, einer echten Premiere beizuwohnen –, und ihrem ästhetischen Kosmos haftet auch gar nichts Museales an (zumal sie natürlich, wie Wilson bei der Pressekonferenz einräumte, nicht nur personell verändert, sondern auch im technischen Bereich – Licht! – auf einen aktuellen Stand gebracht wurde). Und auch die flirrend repetitive Struktur der Musik – heute wie schon 1976 mit äußerster Präzision von Michael Riesman und seinem Philip Glass Ensemble einstudiert – verfehlt ihre soghafte, das Zeitgefühl aufhebende Wirkung nicht.
Als Robert Wilsons Theater noch jung war und wir uns vor ihm verneigten © Lucie Jansch
Vor der Weichzeichner-Routine
Die Irritation aber, die vor 40 Jahren von "Einstein" ausging, das Revolutionäre daran, lässt sich nicht mehr erfahren. Zu vertraut ist das ästhetische Vokabular geworden, mehr noch im Szenischen als im Musikalischen. Wobei es – die weitgehende Identität der Inszenierung mit der von 1976 vorausgesetzt – schon frappierend ist, dass alles, wirklich alles, was das Wilson-Theater seitdem ausgemacht hat, bereits in "Einstein" angelegt ist: das beginnt bei den maskenhaft weiß geschminkten Figuren, die ihre gespreizten Gesten repetitiv in die Luft stochern oder zu Posen erstarren lassen und Gänge präsentieren, wie sie John Cleese für sein Ministry of Silly Walks nicht seltsamer hätte erfinden können; das geht von Lichtbalken, Leuchtringen und anderen geometrischen Figuren, die sich in Zeitlupe durch den Bühnenraum schieben, über die typischen Metallrohrmöbel im Wilson-Design bis hin zu den mit raffinierten Übergängen kalt ausgeleuchteten Farbflächen.
Nichts von der gewohnten Wilson-Palette fehlt hier, im Gegenteil: Sie scheint 1976 eher noch reicher gewesen zu sein. Einblendungen von fotografischem und dokumentarischem Material oder auch eine mitunter sehr konkrete Gegenständlichkeit mancher Bühnenobjekte (Burger-Tüten, Reagenzgläser, Skateboards etc.) sind Elemente, die Wilson später abgelegt hat. Und immerhin: In der unverbundenen Fülle der Bilder wirken die einzelnen Mittel womöglich doch noch etwas unverbrauchter, abstrakter, härter vielleicht. Man sieht das Wilson-Theater vor der Wilson-Weichzeichner-Routine.
Es ist offensichtlich: Nach 25 Jahren des Wartens waren meine Erwartungen derart hochgeschraubt, dass sie im Grunde gar nicht erfüllt werden konnten. Eine leichte Enttäuschung, nicht das ganz Große erlebt zu haben, kann ich daher nicht verhehlen. Doch es bleibt eine Erkenntnis: Hätte man "Einstein on the Beach" zur rechten Zeit gesehen, man hätte sich vieles vom Theater des Robert Wilson sparen können. Es war damals alles da. Und besser ist er nicht mehr geworden.
Einstein on the Beach
An Opera in Four Acts
von Philip Glass und Robert Wilson
Inszenierung, Bühne, Licht-Design: Robert Wilson, Musik, Liedtexte: Philip Glass, Choreografie: Lucinda Childs, Gesprochene Texte: Lucinda Childs, Samuel M. Johnson, Christopher Knowles, Musikalische Leitung: Michael Riesman, Co-Regie: Ann-Christin Rommen, Regieassistenz: Charles Otte, Licht: Urs Schönebaum, Ton: Kurt Munkacsi, Kostümbild: Carlos Soto, Maske Luc Verschueren/Campbell Young Associates.
Mit: Helga Davis, Kate Moran, Jennifer Koh, Jasper Newell, Charles Williams, The Lucinda Childs Dance Company, The Philip Glass Ensemble, Einstein on the Beach Chor.
Dauer: 4 Stunden 15 Minuten, keine Pause
Eine Produktion von Pomegranate Arts, Inc., Executive Producer: Linda Brumbach. Ursprünglich produziert 1976 von der Byrd Hoffman Foundation.
www.berlinerfestspiele.de
Etwas erschöpft berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (5.3.2014): "Aus dem Laienwerk von 1976 ist heute ein perfektioniertes, teures, zähes Spektakel geworden, das einen heute nicht weniger in die Kissen drückt, als es damals viele sicher befreite. Interessant aber ist, wenn man irgendwann in den unendlich sich wiederholenden, weißgesichtigen Bürgerkarikaturen in bunter Pappkulisse plötzlich die freundlichen Väter der heutigen, rotzfrecheren Bühnenstars erkennt, die Regisseure wie Vegard Vinge oder Herbert Fritsch in ihren Zombie-Opern radikalisieren. Diese sind wie jene Geistaustreiber, Wortverweigerer, Zeitkiller, die ihre Zuschauer lieber an eigener Sinnüberproduktion knabbern lassen, als Explizites zu liefern. Wiedergängertheater kann auch schön sein."
Für den Tagesspiegel hatte Ressortleiter Rüdiger Schaper bereits vorab (23.2.2014) in höchsten Tönen im Anschluss an die Pariser Aufführung berichtet: "Euphorie und Demut liegen dicht beieinander, wenn eine Musik den Zuhörer, eine Inszenierung den Zuschauer packt. Wenn man plötzlich konfrontiert wird mit einem Werk und seinen vollen Kreis durchmisst. Oft geschieht das nicht, es hat etwas zu tun mit ersten und letzten Blicken, mit Liebe, Abschied, Wiedersehen. Wenn es geschieht, ist es möglich, sich an Dinge zu erinnern, die man in der linearen Biografie noch nicht erlebt hat."
"Ein Relativitätsgefühl mag sich zwar nicht durchgehend einstellen, die eine oder andere Stelle hat Längen", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz (5.3.2014). Doch: "Am Ende überwiegen die starken Momente, wie der A-cappella-Chor, bei dem die mitunter schematische Tonsprache von Philip Glass fast choralartige Qualitäten bekommt – oder die kreisenden Choreografien von Lucinda Childs, in denen sich Bewegung, Bild und Musik perfekt ineinanderfügen."
"Man kann heute kaum mehr nachvollziehen, warum das Stück bei seiner Uraufführung 1976 in Avignon so erfrischend, befreiend und umstürzlerisch gewirkt haben soll", schreibt Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.3.2014). Und ärgert sich über den Intendanten der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, der vorab behauptet habe, "Einstein on the Beach" sei 1976 durch die Arbeit mit Laien beispielgebend für eine Demokratisierung der schönen Künste gewesen, also keine "Profi-, Hochkultur- und Elitenkunst" mehr, für die das Publikum Vorwissen und Bildung mitbringen müsse. "Das ist entweder reichlich naiv gedacht oder arg ideologisch", schreibt Brachmann. Wilson und Childs, aber auch Glass erwiesen sich in "Einstein on the Beach" als lupenreine Kunstaristokraten. "Das ist ja überhaupt nicht schlimm. Nur soll man uns nicht das Gegenteil weismachen."
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Einstein" war schon der Versuch, aus sich wiederholenden Patterns ein Zeitgeist-kompatibles Mode-Label zu kreieren,
das Marihuana-Wirkungen mit den Mitteln der Musik und US-Feeling für den französischen Markt schaffen wollte.
Ein Rausch, der mit dem Mythos der Sperrigkeit nur kokettierte, statt sperrig zu sein.
Aber zweifellos genial in seiner eleganten Vereinfachung.
Der gelungene Versuch, Avantgarde-Ästhetik in den Mainstream einzuspeisen.
Ich sah die Wiederaufnahme 1984 in Frankfurt.
Ich gebe Ihnen übrigens recht, dass dies keine Kritik im üblichen Sinne sein will. Ich war und bin auch immer noch der Ansicht, dass man bei einer Inszenierung, deren Bilder seit 38 Jahren auf unterschiedlichste Weise beschrieben worden sind, dies nicht unbedingt noch einmal tun muss. Der Text handelt eher von der Art und Weise, wie man (also ich) einer Inszenierung begegnet, über die das Urteil der Geschichte im Grunde schon gesprochen ist. Es mag vielleicht selbstbezüglich erscheinen – mir erschien es aber in diesem Fall ehrlicher, so zu verfahren, als so zu tun, als begegne man dieser Aufführung wie einer beliebigen anderen Premiere.
Und glaubt mir, Robert Wilson ist ein so wunderbarer Mensch. Man spricht ihn einfach an, und es gibt keine Schranken.
Ich will und mag nichts zerreden. Es war ein Glückszustand, das erlebt zu haben. Der Rest ist Schweigen.
ich glaube Ihnen, aber manchmal verzweifelt man dann an der Zeit und dem Ort in der oder wo man war. Ich entdeckte Robert Wilson erst viel später. Mein Einstieg war ein anderer. Und gerade darum war dieser Abend mir sehr wichtig.
Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2014/03/08/jenseits-der-schwerkraft/