The Sound of Silence - Alvis Hermanis beschwört die Kraft der 60er und der Musik
Wer mit wem?
von Simone Kaempf
Berlin, 9. November 2007. Die Wohnung ist rappelvoll mit lesenden Menschen. Nicht nur auf dem Fußboden hocken sie, auch auf dem alten Radioapparat, und einer liest hochkonzentriert in der Badewanne. So kommunardisch das wirkt, muss die Lektüre schon "Das Kapital" sein, oder zumindest das "Kommunistische Manifest". Nichts scheint sie ablenken zu können von den Büchern. Nichts? Doch, eines schon: Pop. Musik. Das, was den amerikanischen Puritanern in den 60ern als Werkzeug des Teufels galt und den Kommunisten als Lockmittel des Kapitalismus.
Ein paar Gitarrenakkorde reichen und die Bücher werden achtlos weggelegt. Die Musik hören sie aus alten Einweckgläsern, die sie wie Meermuscheln ans Ohr halten, bevor sie wie Opfer des Rattenfängers von Hameln im Entengang abziehen. Die Einweckgläser wird man später noch als Halterung für 60er-Jahre-Haardutts oder als Kerzenständer erleben – beste Recyclingdisziplin, sozialistischer Mangelwirtschaft zuzuordnen.
Schöner Untertitel
Die Musik aber machte nicht an Grenzen halt – das ist die Botschaft des neuen Abends von Alvis Hermanis. Und nach drei Stunden und zwei Dutzend Simon & Garfunkel-Songs ist man nicht viel schlauer, als dass in dieser altsozialistischen Wohngemeinschaft die Musik die gelebte Revolte war. Wie schreibt der Regisseur ins Programmheft über den "spirit of the sixties" Ende der 60er in Riga? "Eine kleine Gruppe von Leuten in Riga hatte absolut die gleichen Werte und denselben Stil, sie lasen die gleichen Bücher, trugen die gleiche Kleidung, hörten dieselbe Musik und dachten genauso wie hinter dem Eisernen Vorhang." Alvis Hermanis hat den Abend nicht nur nach dem Musikstück "The Sound of Silence" benannt, sondern komplett mit Simon & Garfunkel beschallt. Auch einen schönen Untertitel hat die Inszenierung: "Ein Konzert von Simon & Garfunkel in Riga, das nie stattgefunden hat." Das Konzert wird jedoch nicht nachgeholt.
Bastelnde Männer, schwangere Frauen
Man muss sich den Abend vielmehr wie aneinandergereihte Clips vorstellen, in denen zu Musik die Szenen aus dem sozialistischen Alltag nachgespielt werden. Da basteln die Männer abenteuerliche Antennen an ihre Radios und kriegen immer wieder Rauschen rein, Drogen werden aus Milchflaschen geschnüffelt, die Frauen plätten sich die Haare mit Bügeleisen glatt, zu "Sound of Silence" reißt eine Verliebte das Telefonkabel kreuz und quer aus der Wand, bis sie den Mann am Ende der Leitung persönlich dran hat. Überhaupt werden Liebesszenen aller Kennenlern-Stadien nachgespielt: vom pubertär-schüchternen Flaschendrehen über die Matratzenfummelparty bis zur Hochzeit und kollektiven Entbindung, an deren Ende vier Väter die fünf Babies aufteilen müssen. Das wirkt in der quietschbunten Retro-Ausstattung comic-komisch. So gesehen hat man gut lachen.
Nett, sehr nett, zu nett
Anstrengend wird der Abend dennoch, weil die obernette Love-peace-and-happiness-Stimmung alles überpinselt und man jenseits politischer Problemstellung wieder nur bei der Frage landet: Wer fickt wen? Politische Ambitionen hatten die lettischen Blumenkinder diesem Abend zufolge nicht – kaum vorstellbar. Hermanis aber will das während der Recherche herausgefunden haben. Umso ausgiebiger phantasiert er, wie die Musik den Alltag auf Touren brachte und einen beim anderen Geschlecht punkten ließ.
Wie so viele seiner Abende, ist auch "The Sound of Silence" ein Versuch, über Geschichte mittels Geschichten Herr zu werden und ein Spiel mit der Fiktion einzugehen. Für "Lettische Geschichten" begleiteten die Schauspieler zum Beispiel jeweils einen Monat lang Kindergärtnerinnen, Soldaten, Computerfachleute und studierten deren Leben. In "Väter" erinnern sich drei Schauspieler an ihre Väter und werden ihnen dabei immer ähnlicher.
Eifersüchtige Ulknudeln
Hermanis' Theater funktioniert dort, wo sich aus dem Abtasten einer Person die Schwebe zwischen Bericht und Verkörperung seiner Existenz bilden kann. Die lettischen 68er bleiben jedoch Ulknudeln in Retro-Klamotten, die man streckenweise lieb hat, aber nicht ernst nehmen kann. "Natürlich, wir gehören einer anderen Generation an", sagt Hermanis, "wir haben nicht einmal Erinnerungen an diese Zeit. Nur unsere Imagination, wie es gewesen sein kann und möglicherweise ein leichtes Gefühl von Eifersucht."
Letzteres ist die Schwäche des Stücks, weil Eifersucht nicht vor Ehrfurcht schützt und der Abend bis in die letzte Szene wie durch die rosarote Brille inszeniert wirkt. Im Waschzuber ertrinkt am Ende einer der Männer, die darin illegal Westmusik hören wollen. Gut, dass man nicht erfährt, ob es einfach nur Wasser war – oder einer da sogar an einer Überdosis der Droge Musik gestorben ist. Ein Toter, aber für eine Revolte hat die Musik nicht gereicht.
The Sound of Silence
Ein Konzert von Simon & Garfunkel 1968 in Riga, das nie stattgefunden hat
Regie: Alvis Hermanis, Bühne und Kostüme: Monika Pormale, Fotos: Mara Brašmane, Sound: Gatis Builis, Lichtdesign: Krisjanis Strazdits.
Mit: Guna Zarina, Sandra Zvigule, Inga Alsina, Liena Šmukste, Iveta Pole, Regina Razuma, Kristine Kruze, Gatis Gaga, Kaspars Znotinš, Edgars Samitis, Ivars Krasts, Varis Pinkis, Girts Kruminš, Andris Keišs.
www.spielzeiteuropa.de
Kritikenrundschau
Dieser Abend ziele "gekonnt" auf die "Kitsch- und Kicheranfälligkeit seines Publikums", schreibt Dirk Pilz (NZZ, 14.11.2007). Hermanis veranstalte "zuckriges, schmerzfreies Mitsummtheater", weil er eine Studie über die "Möglichkeit des ungetrübten Theaterwohlfühlglücks" betreibe. Und "wenn Theaterglück bedeuten soll, kollektives Seligkeitsdösen herbeizuführen, darf das Experiment als gelungen gelten. Aber als Beitrag zum Hippie-Dasein hinterm Eisernen Vorhang? Im verordneten Sozialismus träumte es sich von Love and Peace anders als in Woodstock oder Westberlin." Letztlich versuche sich der Abend an "einem unmöglichen Experiment: dem wolkenlosen Erinnern, das keinen historischen Kontext kennt".
Auch Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (13.11.2007) sieht nicht nur sinnlose Süße in der Sache. Er zitiert, was Hermanis im Programmheft äußert: "Ich bin dagegen, das Kunst aktiv politisch auftritt. (...) Kunst soll so nutzlos sein wie der Gesang der Vögel." Und kommentiert: "Wohlan, der ist ein Narr, der ihm das glaubt." Die scheinbare Harmlosigkeit des Abends solle vielmehr "das Weiterdenken der Wünsche mit den Mitteln der Phantasie" anregen. "Warum sonst lässt er die Schauspieler schweigen und nur die Musik erzählen? Die Darsteller könnten ihre politischen Absichten verraten. Täten sie es, verlören sie ihre Unschuld. Und dann wäre ihnen die Chance geraubt, ohne die Unschuld gar nicht existieren kann - die Chance, das Wort Utopie auszusprechen, mit Ernst in der Stimme."
Irene Bazinger will da nicht widersprechen. In der Frankfurter Allgemeinen Alltagszeitung (12.11.2007) schreibt sie von "niedlichen Bildsequenzen", die "rührend einfältig sind und hochgradig menscheln". Zuweilen fände Hermanis zwar "zu einer situativen Poesie der Überraschung", doch "zu selten kann er sich von der Überkonstruktion seines bauchnabelkonzentrierten Geschichtsrückblicks befreien. Pittoresk ja, politisch nein: (...)" Insgesamt: "sentimentales Ersatztheater aus dick aufgetragenem Süßstoff."
In der Berliner Zeitung (12.11.2007) äußert sich Ulrich Seidler milde und eher nachdenklich. Ja, Hermanis verkläre die Jugend der Elterngeneration. Er pflege den naiven Blick. Aber: "Indem die Schauspieler ihre eigenen Eltern spielen, finden sie sich selbst in den ausgestopften Bäuchen wieder. Das ist ein kleines freundliches Wunder an generationsübergreifender Identität, wie man es nur auf dem Theater durchspielen kann. Hier, wo der Tod nichts gilt und die Poesie alles. Daran hat sich in den letzten vierzig, in den letzten zehntausend Jahren nichts geändert, und insofern sind wir keine Sekunde gealtert und kein Quäntchen weiser geworden."
Ganz anders Matthias Heine in der Welt (12.11.2007): "Um es klar zu sagen: In der Aufführung steckt soviel szenische Fantasie, dass ein Dutzend minderbegabte Regisseure damit ihre ganzen zukünftigen Karrieren bestreiten könnten." Auch Heine findet, dass der Abend zu lang sei und "zu lieb und zu konfliktfrei für diese Länge. Aber der 42-jährige Alvis Hermanis gehört nun mal zu den vielen jüngeren europäischen Regisseuren, die die Wahrheit nicht mehr in jenem finsteren Reich der völligen Verzweiflung suchen, an dessen äußerste Grenze Sarah Kane gereist ist, um dort zu sterben." Er erzähle vielmehr von der Utopie der Sechziger, die "die letzte war, die den Menschen so etwas Großes wie Glück versprach."
Nachher ist es wie Gehirnwäsche", beginnt Rüdiger Schaper seine schwer verstimmte Kritik im Berliner Tagesspiegel (11.11.2007). "Unschuldig und brav" ginge es zu in Hermanis´ "szenischen Spielchen", in denen Sehnsucht nach einer "ganzheitlichen Epoche" wohne, in der die Dinge noch eine Bedeutung hatten. Schaper reklamiert das Fehlen der zu 68 gehörenden Musik der Stones, Doors, Dylans. "Im Baltikum haben die Hippies ... immer nur Simon & Garfunkel gehört. Offenbar haben sie auch nichts vom Prager Frühling und vom Einmarsch des Warschauer Pakts mitbekommen, jedenfalls ist Politik kein Thema für Hermanis." In sahnesüßem Pop versinkend und mit dem Nachstellen von Filmikonen wie "Blow up" beschäftigt, werde der Abend "langsam ärgerlich und schließlich kaum mehr erträglich".
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (11.11.2007) beschäftigt sich Max Glauner ausführlich mit Hermanis' wichtigstem Bühnenrequisit: den Einweckgläsern. Dass aus ihnen Musik ertöne, möge man "poetisch, schön, zauberhaft finden", nur hinge einem die ausschließliche Musik von Simon & Garfunkel – "selbst in Zeiten des größten Liebeskummers war es kaum möglich, dieses Schmalz mehr als zwei Schallplattenseiten lang zu ertragen" –, spätestens nach der Pause aus den Ohren. Trotz der vierzehn großartigen Darsteller und ihrer "zurückhaltend treffenden Menschendarstellung". Hermanis nähere sich der 68er-Zeit "bloß sentimentalisch". Sein Retroblick sei "reaktionär", weil er 68 ein Theater-Monument erbaue, "dem jede Rebellion dieser Zeit und damit auch jeder Auftrag an die Jetztzeit fehlen".
Auf Spiegel online schreibt Christine Wahl am 10.11.2007: Anders als in seinen vorhergegangenen Produktionen wie etwa den "Lettischen Geschichten", "in denen die Schauspieler nach ausgiebigen Basis-Recherchen das Leben realer Rigaer Kindergärtnerinnen, Berufssoldaten oder Bartänzerinnen auf der Bühne porträtierten", fühle sich "The Sound of Silence" nur wie "gut kalkuliertes Kuscheltheater" an; "international festivalkompatibel" weil ja kein Wort gesprochen wird, aber "auch wegen seiner absoluten Schmerzfreiheit". Kein "politisches oder anderweitiges" Problem störe hier "den Regressionsfrieden". Die "Generation fünfzig plus wippt selig im Mrs.-Robinson-Takt mit und schaut auf die Bühne ein bisschen wie in eine Kinderwundertüte".
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