Und Ihr?

24. September 2022. Draußen ist Klimastreik, und auch drinnen tönen die politischen Botschaften: Zur Saisoneröffnung an der Komischen Oper unter neuer Intendanz hat Marco Štorman Luigi Nonos "Intolleranza 1960" inszeniert, in einer eindrucksvollen Raumbühne, die den Saal zur Eiswüste macht.

Von Georg Kasch

"Intolleranza 1960" an der Komischen Oper © Barbara Braun

24. September 2022. "Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht", singt der Chor im Epilog, vorsichtig, zärtlich, als taste er sich an den Sinn der Worte heran. Sie stammen aus Bertolt Brechts Gedicht "An die Nachgeborenen". Kurz zuvor hat eine Flut den "Emigrante" und seine Gefährtin verschlungen, mit der er eine bessere Welt aufbauen wollte.

Klassisch tragischer Opernschluss, könnte man meinen. Nur ist Luigi Nonos Bühnenerstling "Intolleranza 1960" so gar kein dramatisches Werk im herkömmlichen Sinne. Sondern ein "Ideentheater" und damit sowohl auf der Erzähl- als auch auf der musikalischen Ebene eine ziemlich abstrakte Herausforderung – serielle Musik in der Schönberg-Nachfolge (mit dessen Tochter Nono verheiratet war), mit Texten voll Agitprop, einem Brecht’schen Romantikglotzverbot und einem an den Avantgardisten Wladimir Majakowski und Erwin Piscator geschulten Theaterverständnis.

Eisige Raumbühne

Mit letzterem hat sich Regisseur Marco Štorman in seiner Inszenierung an der Komischen Oper Berlin nicht lange aufgehalten. Statt Projektionen und Dokutheater setzt er auf eine eindrückliche Landschaft: Márton Ágh hat den Neo-Rokoko-Saal von Fellner und Helmer in eine Eishöhle verwandelt. Dort, wo sich sonst die Parkettstühle reihen, stehen nun riesige Eisschollen; weiße Stoffbahnen überziehen auch die Ränge, die Decke und das, was normalerweise die Bühne ist. Dort sitzt nun das Publikum, aber auch direkt um die Spielfläche herum und im ersten Rang, während im zweiten das Orchester loslegt.

Diese Raumbühne ist schon ein ziemliches Spektakel, wenn auch als Idee nicht ganz neu (man denke an Bert Neumanns Volksbühnen-Umbauten, man denke ans Musiktheaterexperiment in Halle). Nur ist die Frage, ob man damit Nonos Werk in den Griff kriegt, noch nicht beantwortet. Im Programmheft spricht Štorman von einer Welt wie eingefroren, und man kann sich schon vorstellen, wie das gedacht ist: Dass der Gastarbeiter (der "Emigrante"), der heim will, durch diese unwirtliche Welt muss. Erst will ihn seine Freundin nicht gehen lassen. Dann begegnet er Demonstrationen, Polizeigewalt, Hass. Als er endlich eine Gefährtin findet und mit ihr seine Heimat erreicht, sterben beide.

Intolleranza 05 805 Barbara Braun uIlse Ritter, Sean Panikkar © Barbara Braun

Was hier konkret klingt, ahnt man auf der Bühne eher, als dass man es spürt oder begreift. Erfrischend, dass mit Ilse Ritters "Engel der Geschichte" eine Figur hinzuerfunden wurde, die die Sprechpartien übernimmt und einen Text von Carolin Emcke, ein engagiertes, haltungsstarkes, zutiefst humanistisches Kurz-Essay. Wenn Ritter tänzelnd über die Bühne schwankt und Emckes Worte mit ihrer unnachahmlichen Grandezza aus rollendem R und Wiener Singsang vorträgt, dann entsteht ein ähnlicher Effekt wie der von Nonos Musik und Libretto: eine eigentümliche Reibung zwischen brutaler Wahrheit und höchster Künstlichkeit.

Seid ihr taub?

Über die weltweiten Krisen und Konflikte heißt es bei Emcke einmal: "Wir tun so, als wären wir nur Publikum, aber das heißt in Wahrheit, dass wir uns entschieden haben, nichts zu tun." Da ist sie nah an Brecht und Nono, der den Chor an anderer Stelle singen lässt: "Und ihr? Seid ihr taub? … Rüttelt Euch die Klage unserer Brüder nicht auf?"

Überhaupt ist der Chor neben Emcke und Ritter das größte Pfund des Abends. Wie die Chorsolist:innen insbesondere in den A-cappella-Momenten die Klänge auffächern und in den Raum stellen, Töne wie Geister einfangen und wieder fliegen lassen, wie sie als weiße Lemuren über die Bühne gleiten oder die Arme zum Emigrante recken, als wär's eine Szene aus Fritz Langs "Metropolis" – das ist schon toll!

Intolleranza 02 805 Barbara Braun uSean Panikkar, Deniz Uzun und der tolle Chor © Barbara Braun

Nur wirkt die kalte Höhle, halb Katastrophen-Szenerie, halb Seelenlandschaft, über die Dauer des Abends nicht mehr ganz so schlagend. Sean Panikkar, vor drei Jahren hier am Haus ein hinreißender Henze-Dionysos, entlockt seinem flexiblen Tenor auch jetzt wieder herrliche Töne. Ob er allerdings im detailfreudig gestalteten Wasserloch das Eis zertrümmert oder herumsteht, ist ein wenig gleich. Gloria Rehm lässt als Gefährtin kühl ihre Stimme funkeln, Deniz Uzun singt ebenfalls verschwenderisch gut. Warum die beiden aber als weiße und schwarze Eiskönigin herumlaufen, wissen Štorman und Kostümbildnerin Sara Schwartz allein (sieht allerdings gut aus!).

Politische Botschaft mit Kunstdeckel

"Intolleranza 1960" ist die erste Premiere der neuen Intendanz von Susanne Moser und Philip Bröking an der Komischen Oper. Beide waren schon unter ihren Vorgängern Andreas Homoki und Barrie Kosky am Haus und sollen es nun durch die anstehende Sanierungsphase steuern. Homoki hatte die Komische Oper zu einem Tempel des Regietheaters gemacht (mit großartigen Abenden etwa von Sebastian Baumgarten und Hans Neuenfels, aber auch vielen Flops und mittelprächtiger Auslastung), Kosky sie mit legendären eigenen Inszenierungen und Wiederentdeckungen der jüdischen Operettentradition der 1920er Jahre populär und zugleich zu einem der spannendsten Häuser der Republik gemacht.

Mit "Intolleranza 1960" stellen sich Moser und Bröking in die Tradition des Hauses, ein zentrales Werk des 20. Jahrhunderts pro Spielzeit auf die Bühne zu bringen. Allerdings gibt es gute Gründe, warum sich Kosky einst für "Moses und Aaron", "Die Nase" und "The Bassarids" entschieden hat mit ihren viel konkreteren, griffigeren Stoffen und ihrer sinnlicheren Musik.

Sinnlichkeit begegnet man zuweilen auch in Nonos Partitur, vor allem in den Chorpassagen. Aber sein Grundgestus ist ein anderer: Er will zeigen, Botschaften loswerden, die Leute aufrütteln. Nur: Während am Premierentag in Berlin beim Klimastreik und den Iran-Protesten die Emotionen hochkochen, bleibt hier der Kunstdeckel drauf. Auch wenn Dirigent Gabriel Feltz vom Rang aus die Klangmassen entfesselt, dass es gellt und faucht, auch wenn Ághs Eis geheimnisvoll leuchtet und der Emigrante aus Trümmern ein Boot ohne Boden zusammensetzt (was ja durchaus ein treffendes Bild ist für unsere Krisenballungen gerade), bleibt man doch ein wenig distanziert. Und glotzt halt nicht romantisch, sondern informiert.

Intolleranza 1960
von Luigi Nono
Szenische Handlung in zwei Teilen [1960/61] nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino; deutsche Übertragung von Alfred Andersch
Mit einem Text von Carolin Emcke
Inszenierung: Marco Štorman, Musikalische Leitung: Gabriel Feltz, Bühnenbild: Márton Ágh, Kostüme: Sara Schwartz, Dramaturgie: Johanna Wall, Chöre: David Cavelius, Licht: Olaf Freese.
Mit: Sean Panikkar, Gloria Rehm, Deniz Uzun, Tom Erik Lie, Tijl Faveyts, Josefine Mindus, Ilse Ritter, den Chorsolisten der Komischen Oper Berlin, dem Vocalconsort Berlin und dem Orchester der Komischen Oper Berlin.
Premiere am 23. September 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.komische-oper-berlin.de


Kritikenrundschau

"Viel weniger provokant als erwartet" klinge Nonos zwölftönige Avantgardepartitur in dieser inszenatorischen und musikalischen Interpretation, schreibt Frederik Hanssen im Tagesspiegel (25.9.2022). In den Werken des Italieners seien es stets die leisen, intimen Momente, die die stärkste Kraft entfalteten, "doch bei der 'Intolleranza'-Premiere am Samstag wirken selbst die dissonanten Ausbrüche, die extremen Lautstärkeeruptionen ästhetisch schlüssig, ja geradezu schön. So wie auch die ganze Optik der Inszenierung in ihrer weißen Wattigkeit", so Hanssen. "Das sind nicht die Assoziationen, die der kommunistische Komponist einst beabsichtigt hatte."

Mit ihrer Raumbühne verschöben Regisseur Marco Štorman und Bühnenbildner Márton Ágh "ganz in Nonos Sinne nicht nur die Hör- und Sehperspektiven innerhalb des Opernhauses; sie sorgen auch dafür, dass man immer wieder desorientiert ist, wenn man das Geschehen an den normalen Opernerfahrungen zu messen versucht", schreibt Stefan Drees in der neuen musik zeitung (24.9.2022). Allerdings erstarre das szenische Geschehen oft in fast unbeweglichen Bildern und raube der ohnehin tableauartig entworfenen Musik dadurch jegliche Kraft zum Vorwärtsschreiten. Zwar drängen hier und dort die Orchester- und Chorklänge "mit geradezu skulpturhafter Prägnanz in den Raum", so Drees, doch blieben die deutlich artikulierten politischen Worte vom szenischen Geschehen isoliert und würden so ihrer Dringlichkeit beraubt. "Sieht man einmal hiervon ab, hat sich das Wagnis 'Intolleranza' für die Komische Oper jedoch gelohnt", findet der Rezensent trotzdem. "Die aufwändige Produktion ist (…) ein echter Hingucker im Einerlei des eher langweiligen Berliner Opernbetriebs: ein Ereignis, das trotz einiger Schwächen in der Umsetzung reichlich Stoff zum Nachdenken bietet und das Gefühl vermittelt, dass die Institution Oper eben doch auch Relevantes zu sagen hat."

Mit seiner Form der "inneren Verpuppung" sei der Abend schon halb gewonnen, erzählt Kritiker Kai Luehrs-Kaiser auf rbb Kultur (27.9.2022). Schon allein deswegen lohne es sich hineinzugehen. Was uns das Werk heutzutage zu sagen habe, bleibe allerdings offen. Musikalisch kommt dem Kritiker hier einiges etwas zu "progagdandistisch" vor. "Am besten ist die Aufführung im Irrwitz der Transformation und politischen Theatralik", resümiert er.

"Was der Re­gis­seur Mar­co Štor­man und sein Büh­nen­bild­ner Már­ton Ágh in Sze­ne set­zen, ist nicht we­ni­ger als die Läh­mung des Men­schen vor der men­schen­ge­mach­ten Zer­stö­rung – des Men­schen als ewi­ger, hilf­lo­ser Zu­schau­er sei­ner selbst", schreibt Christine Lemke-Matwey in der Zeit (29.9.2022). Die Kritikerin argwöhnt jedoch ein gewaltiges Missverständnis, denn: "No­nos Mu­sik agi­tiert nicht, sie ver­folgt kei­nen po­li­ti­schen Zweck, sie will we­der das Kli­ma ret­ten noch Eu­ro­pas Mi­gra­ti­ons­pro­ble­me lö­sen.“ Sie folgert: "Der Ak­ti­vis­mus ex ne­ga­ti­vo (…), den die In­sze­nie­rung aus­ruft, in­dem sie das Pu­bli­kum für ih­re star­re, klaus­tro­pho­bi­sche In­stal­la­ti­on gleich­sam in Haft nimmt, um ihm ge­nau dies vor­zu­wer­fen, näm­lich er­starrt zu sein, un­be­weg­lich, un­tä­tig – die­ser Ak­ti­vis­mus geht ins Lee­re."

 

Kommentare  
Intolleranza 1960, Berlin: Alles anders als sonst
Zwei Herzstücke prägen diesen Eröffnungsabend der Intendanz von Susanne Moser/Philipp Bröcking, die an der Komischen Oper Berlin das Erbe von Barrie Kosky antreten:

Schon beim Betreten des Saals ist alles anders als sonst: die Stühle sind herausgerissen, im Zuschauerraum hat Márton Ágh eine Eiswüste geschaffen, durch ein heimatloser „Emigrante“ (Sean Panikkar) streift. Das Publikum wurde auf harten Schalensitzen an den Rändern oder in steil ansteigenden Reihen auf der Bühne platziert.

Das zweite Kraftzentrum der knapp 80 Minuten kurzen szenischen Opern-Installation ist der Gastauftritt von Ilse Ritter. Diese prägende Schauspielerin der vergangenen Jahrzehnte ist nur noch selten zu erleben. Carolin Emcke, politisch engagierte Essayistin und Friedenspreisträgerin, hat ihr einen Text geschrieben, der von Schmerz und Leid in Zeiten von Flucht und Krieg erzählt. Zwischen all dem Wimmern, Jammern und Zirpen von Luigi Nonos atonaler Komposition sind ihre kurzen Auftritte ein ruhender Pol. Jede Silbe ist glasklar artikuliert und bedeutungsvoll-empathisch vorgetragen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/09/27/intolleranza-1960-komische-oper-berlin-kritik/
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