Tristan und Isolde - Sophiensaele Berlin
Weltatem im Walfischbauch
von Janis El-Bira
Berlin, 26. April 2019. Der traurigste Held Richard Wagners stirbt an diesem Abend nicht. Das hat er auch schon in vielen konventionellen Inszenierungen nicht getan. Denn Opernregisseure lieben es, den an einer Stichwunde und unheilbarer Mutterschoßsehnsucht zu Grunde gehenden Tristan just im Moment seines Todes in einen Darsteller zurück zu verwandeln, der unverdrossen von der Bühne gehen darf. Die herbeigeeilte Isolde singt dann ihren Liebestod ins Leere. Statt in "des Weltatems wehendem Schall" versinkt und ertrinkt sie in Einsamkeit. Jeder stirbt für sich allein, könnte das Prinzip dieses Interpretationsansatzes lauten. Oder: Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein.
Ein unausdenkbar schräger Abend
Auch zum Finale dieser unendlich langen, unausdenkbar schrägen Theaterveranstaltung steht Tristan in Gestalt der großartigen Julia Häusermann vom inklusiven Schweizer Theater Hora beim Eintreffen Isoldes auf, wedelt den umherwabernden Bühnennebel beiseite und verzieht sich ins Innere eines raumgreifenden Plastikwals, der kurz zuvor noch elegant über dem Bühnenboden geschwebt hatte (Total-Auslastung der Sophiensaele durch Bühnenbildnerin Yassu Yabara). Das Ensemble singt den Liebestod, als sei's ein Weihnachtslied mit fünfzehn Strophen, dann geht’s für alle Tristan nach in den Walfischbauch.
Es ist wohlmöglich der schönste Einfall der vom Berliner Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen und dem Theater Hora gemeinsam gestemmten Tristan-Paraphrase, dass sie ihre Hauptfiguren nicht sich selbst überlässt. Schon zum Ende des zweiten Aktes, als Tristan sich ins Schwert seines Gegenspielers Melot stürzte, war das Ensemble für ihn eingetreten, hatte sich Spielerin um Spieler ebenfalls den tödlichen Stich aus der Attrappenklinge in Brust und Rücken versetzen lassen. Gegen die notorische Inszenierungsresistenz der Wagner'schen "Handlung in drei Aufzügen" strampelt hier ein Kollektiv, das keine Einzelkämpfer duldet, keine Leiche im Feld zurücklässt. Alle sind sie Tristan, alle auch Isolde, Marke, Brangäne, Kurwenal, Steuermann und Hirte.
"Rollendeckend" wird es – wie man im Opernjargon sagen würde – nur, wenn sich mit Vera Maria Kremers und Armands Siliņš zwei gestandene Profisänger bewundernswert intonationssicher durch die herniedersinkende Nacht der Liebe und andere Glanzpassagen schlagen, während Pianist Roman Lemberg stoisch eine Klavierauszugseite nach der anderen abspult.
Hirnschmelzendes aus der ganz großen Kanne
Bewundernswert ist auch, wie gleichmütig gerade diese drei den hirnschmelzenden Schnickschnack mittragen, den Regisseurin Julia Lwowski an diesem Abend sonst noch so mit der ganz großen Kanne ausgießt. Mit einer nahezu faszinierenden Komplettabsage an Nebensächlichkeiten wie Dramaturgie oder Erzählökonomie wuchtet sie ihren "Tristan" in der Version Salat-alles-und-extrascharf auf die Bühne. Ein Schlachthaus im Betriebsmodus Meta-Meta, das sich für keinen noch so abseitigen Kalauer zu fein ist. "Notre-Dame brennt", brüllt es da, während im Hintergrund die Waschmaschine raucht, in der Isoldes Mutter die Liebestränke zu – klar! – brauner Wäsche verkocht. Zwischenzeitlich wird die auch mal zum Liebestod direkt vor den Köpfen der ersten Zuschauerreihe auf die Leine gehängt: Seht ihr's, Freunde, seht ihr's nicht? Das Publikum darf vom Liebestrank ("Blue Curacao") nippen und Isolde sägt Marke ab, als sei er das lahmste Tinder-Date von Cornwall.
Irgendwann steigt Gina-Lisa Maiwald als Cosima Wagner aus der Waschmaschine und trinkt einen Becher Pisse. Die Performer wuseln, wälzen und verknoten sich und singen hingebungsvoll aufeinander ein. Für Fans gibt es, mild und leise, Anklänge an die Wagner-Aufführungsgeschichte: Isoldes berühmtes Riesenbrautkleid aus Jean-Pierre Ponnelles Bayreuther Inszenierung von 1981 kehrt als meterlanger Plastikschleier zurück, Waschmaschine und Wäscheleine hatte auch Claus Guth schon 2009 bei seinem Hamburger "Siegfried" im Einsatz.
Zur Massenkarambolage wird all das, weil zwischen den Einfällen, zwischen Liebestod und Rammstein-Choreographie, Trash und Hochkultur-Frömmelei, keine Gewichtung entsteht, kein Kitt gefunden wird. Stumpfes will stumpf bleiben, Heiliges heilig, aber alles hat irgendwie mit allem zu tun. Auch ein ausführlicher Dostojewski-Riff in der zweiten Hälfte, dessen "nadryw" als Ausdruck höchster Spannungszustände auf Wagners Musikdrama gemünzt werden soll, volksbühnelt noch selbstberauscht glucksend vor sich her. Es ist – und da kommt der Abend seinem eigenen "nadryw" dann doch nahe – alles immer am Anschlag mit Wagner obendrauf. Gut möglich also, dass dieser kolossale Belastungsbruch eines Tages, wenn die Luft aus dem Wal längst abgelassen ist, in der Erinnerung zu dem wird, was Erlebnisse dieser Art bestenfalls werden: Kult.
Tristan und Isolde Oder Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!
von Hauen und Stechen und Theater Hora
Regie: Julia Lwowski, Bühne, Kostüme: Yassu Yabara, Musikalische Leitung: Roman Lemberg, Dramaturgie und Text: Maria Buzhor, Sounddesign: Carola Caggiano, Video: Martin Mallon, Licht: Konrad Dietze, Produktionsleitung: Laura Hörold, Adrian T. Mai, Kostümassistenz: Jorinde Sturm, Regieassistenz Yanna Rüger, Ausstattungsassistenz: Charlotta Hench, Begleitung Theater Hora: Leonie Graf, Lea Lia von Blarar, Begleitung und Coaching Theater Hora: Nele Jahnke, Amadea Schütz.
Gesang: Gesang Vera Maria Kremers, Armands Siliņš, Schauspiel: Remo Beuggert, Gianni Blumer, Caitlin Friedly, Matthias Grandjean, Julia Häusermann, Gina-Lisa Maiwald, Tiziana Pagliaro, Fredi Senn, Simon Stuber, Klavier: Roman Lemberg, Synthesizer: Edgar Wiersocki, E-Cello: Carola Caggiano.
Premiere: 26. April 2019
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.sophiensaele.com
"Die Sänger singen, die Horas krächzen, und genau daraus entsteht ein dichter, froher Abend, in dem Leben und Kunst sich gegenseitig vergrößern", berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (29.4.2019). Der Abend thematisiere vieles: "Männermacht und Frauenwut, Wagners Antisemitismus und die rechtsnationale 'wutbürgerliche' Gefühlsspolitik heute" und zerlege die Oper entsprechend. "Dennoch bleiben Handlung und die Schlüsselmomente der Wagner'schen Musik wundersam intakt (...)."
"Die lustvolle Operndekonstruktion gebiert viele komische Momente, die beabsichtigte Gesellschaftskritik aber bleibt sehr undeutlich", schreibt Sebastian Blottner in der Morgenpost (27.4.2019). Die Geschichte erschließe sich dem "weniger gut Vorbereiteten" schwerlich; und doch werde man vom Ausschank des Todestranks/Liebestranks am Beginn hineingezogen "in den folgenden Reigen, der vielleicht am ehesten an Wagner erinnert, weil er wie dessen unendliche Melodie kaum abreißt, weil eins ins andere fließt und es selten langweilig wird".
Katrin Bettina Müller schreibt in der taz (29.4.2019): Die Handlung sei vielleicht "nicht immer ganz klar", aber der "emotionale Kern der Konflikte" sei "sehr wohl erkenntlich". Äußerst deutlich entfalte sich "das Ekstatische und Orgastische der Komposition" und mit "Lust am Expliziten" im körperbetonten Spiel der Horas. Vielleicht nur hätten die Regisseurin Julia Lwowski und die Dramaturgin Maria Buzhor etwas zu viel gewollt, "wenn sie auch noch Rezeptionsgeschichte von Wagner, seine Beliebtheit bei den Nazis sowie viel Dostojewski in die Inszenierung packen". Was die beiden Ensembles aus "Tristan und Isolde" gemacht hätten, sei "oft auch komisch". Es sei ihr Agieren als Kollektiv, "das energiegeladene Wuseln der Darsteller, ihre offenbare Lust am Gesehenwerden und Sichentäußern", die dem Abend seine Stärke gebe. "Da darf es ruhig auch Wagner sein".
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