Anthropos, Tyrann (Ödipus) - Volksbühne Berlin
Untergang, live und in Farbe
von Andrea Heinz
Berlin / Online, 19. Februar 2021. Fangen wir gleich damit an: Mit "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" ist der Volksbühne ein richtig großer Wurf gelungen. Gemeinsam mit dem Theater des Anthropozän der Humboldt Universität, mit der Meeresbiologin Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven (AWI) und Mitverfasserin der Stellungnahme "Klimaziele 2030: Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der CO2-Emissionen" der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und dem Dramaturgen Frank Raddatz verkündet Regisseur Alexander Eisenach "die Wiederauferstehung der Tragödie". Wobei die ja streng genommen nie tot war, ist unsere Gegenwart doch eine einzige Tragödie: Wir schauen, "live und in Farbe", wie es im Stück einmal heißt, zu beim Untergang, aber laufen lieber sehenden Auges hinein, als ernsthaft etwas dagegen zu unternehmen. Wie Menschen halt so sind.
Unausweichlich ist nur die Dummheit der Menschen
Was so lange als gesetzt galt – der Mensch als Herr, die Erde ihm untertan (man achte darauf, wie das generische Maskulinum und Femininum verteilt sind) –, hat sich als Fehleinschätzung herausgestellt. Nach wie vor sind wir als Menschen dem Planeten, auf dem wir leben, ausgeliefert, doch anders als unsere Götter-gläubigen Vorfahren haben wir das vergessen. Unser Schicksal ist streng genommen kein Schicksal, die Tragödie keine Tragödie, denn unausweichlich ist – das könnte von Horváth sein, ist aber von mir – nur die Dummheit der Menschen. Hier setzt in etwa die Auseinandersetzung von Alexander Eisenach mit Sophokles an. Ihn interessiert in seiner Fassung vor allem die Parallele zwischen Ödipus und den Menschen des Anthropozän. Genau wie dieser erkennen jene (also: wir) viel zu spät, dass an ihrem Schicksal (Seuche/Corona/Klimakatastrophe) nicht die böse Mutter Natur, sondern einzig und allein sie selbst schuld sind.
Eisenach verlegt die Klimakatastrophe in Sophokles' Theben, und das ist ein genialer Zugriff. Fände die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel in einem zeitgenössischen Setting statt, erzeugte das sofort Abwehrreflexe. Durch ihre Historisierung wird sie greif- und annehmbar. Gleich zu Beginn heißt es: "Die Tragödie, diese Tragödie wird sich nicht von außen betrachtet haben lassen. Diese Tragödie wird bereits gespielt worden sein, wenn die Prozesse des Verstehens beginnen. Diese Tragödie wird keine Hoffnung produziert haben. Sie wird keine Anleitung jedweder Art gegeben haben." Durch diesen Zugriff wird spürbar, was wir im Alltag nicht spüren können, geschweige denn begreifen (wollen): Dass wir uns mitten in einer monströsen Katastrophe befinden, konfrontiert mit einer Bedrohung mythischen Ausmaßes. Nur eben: real.
Faktensatt orakelnde Instanz
Der zweite große Coup ist, wie die Volksbühne dieses Stück präsentiert: In einem kostenlosen Livestream, mit 360°-Ansicht (Video: Oliver Rossol) und sehr barrierefrei. Auch auf einem 13 Jahre alten, langsamen Laptop lässt sich problemlos navigieren, man darf nur nicht vergessen, mithilfe der WASD-Tasten ‚mitzudrehen', wenn die Spieler*innen sich auf der Bühne bewegen – um sich nicht plötzlich dabei zu ertappen, wie man, geistesabwesend zuhörend, auf einen leeren Bühnenausschnitt starrt. Man steht inmitten des Ensembles auf der Bühne, kann sich zwar nicht vorwärts bewegen, aber sich in alle Richtungen drehen sowie nach oben und unten schauen. (Man kann auch den Chat nutzen und Fragen stellen, was ein nettes Feature ist, aber natürlich genauso vom Bühnengeschehen ablenkt, wie wenn man mit der Sitznachbarin ratscht.)
Dreht man sich einmal im Kreis herum, sieht man auf der Bühne von Daniel Wollenzin einen stilisierten antiken Bau und eine Pumpe zur Erdölförderung. Beides ist in fröhlichen Farben bemalt, man weiß schließlich mittlerweile, dass die antiken Tempel nicht in kühlem Weiß, sondern in allen Farben des Regenbogens angemalt waren. Hier spielen Johanna Bantzer, Manolo Bertling, Sarah Franke, Sebastian Grünewald, Vanessa Loibl, Emma Rönnebeck und Sarah Maria Sander allesamt furios – auch wenn man Vanessa Loibl als rotzige Antigone ein wenig hervorheben muss – und gewandet in allerlei antike Versatzstücke (Kostüme: Lena Schmid, Pia Dederichs) die Figuren der Tragödie, die Bürger*innen der Polis und wie unterschiedlich sie mit der drohenden (Klima-)Katastrophe umgehen.
Brutal nahe
Man kennt das ja aus der Gegenwart, die einen setzen auf Aktivismus, die anderen auf Hedonismus. Weil keine*r weiter weiß, die Eingeweide- und auch die Vogelschau nicht wirklich was bringen, versucht man es hier schließlich mit dem Orakel – und es erscheint die großartige Antje Boetius und präsentiert Fakten zum Klimawandel, dass einem schlecht wird davon. Boetius hat einen beeindruckenden Auftritt und nicht zuletzt wegen ihr gelingt der Volksbühne mit dieser Inszenierung, was dem Theater auch schon vor Corona nur noch selten glückte: Dieser Abend kommt brutal nahe. Wenn die These war, dass das Theater kann, was die Wissenschaft nicht vermag, und die Wissenschaft beisteuern kann, was dem Theater fehlt, dann ist diese Inszenierung der Beweis.
Anthropos, Tyrann (Ödipus)
von Alexander Eisenach nach Sophokles
Regie: Alexander Eisenach, Konzeptionelle Mitarbeit: Frank M. Raddatz (Theater des Anthropozän), Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Lena Schmid, Pia Dederichs, Musikalische Leitung: Niklas Kraft, Sven Michelson, Licht: Johannes Zotz, Video: Oliver Rossol, Dramaturgie: Ulf Frötzschner.
Mit: Johanna Bantzer, Manolo Bertling, Sarah Franke, Sebastian Grünewald, Vanessa Loibl, Emma Rönnebeck, Sarah Maria Sander.
Livestream-Premiere am 19. Februar 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten
www.volksbuehne.berlin
Kunst und Klimaforschung – Ein Interview mit Meeresbiologin Antje Boetius über die Rolle der Kunst in der Vermittlung klimawissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem November 2019.
Dokumentation der Fachtagung Klima trifft Theater von der Heinrich Böll Stiftung mit nachtkritik.de als Medienpartner.
Unser Dossier Theater und Klimakrise.
Dem Antiken-Abend live im Volksbühnenrund ist mit seiner formalen Raffinesse und thematischen Dringlichkeit etwas Besonderes gelungen, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (22.2.2021). Alexander Eisenach und seine Crew haben einen Mummenschanz um die Tragödie des Wissens inszeniert, in dem wir Zuschauer das allwissende, passive Zentrum selbst sind. "Eine 360-Grad-Kamera ist dafür in die Mitte der sich drehenden Bühne positioniert, die bunte thebanische Pappsäulen und den auf und ab wippenden Kopf einer Ölförderpumpe um uns herum kreisen lässt", alles eine bunte Märchenkulisse zwischen Gestern und Heute, und wir unter den Schauspielern in mal poppigen, mal antiken Verkleidungen mittendrin. "Erstaunlich, wie genau und umfassend das funktioniert. Unten wühlt Teiresias der Seher in den Eingeweiden eines Tiers und oben im Bühnenraum schweben Videoprojektionen von realen Forschungsreisen ins ewige Eis."
"In 90 Minuten entsteht ein appellatives, soghaftes Manifest mit sphärischen Klängen, das den antiken Stoff mit den globalen Verbrechen an der Umwelt und der auch daraus resultierenden aktuellen Corona-Epidemie verschränkt", lobt Ute Büsing auf rbb 24 (20.2.2021). "Dieses digitale Theaterexperiment an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft ist gelungen."
"Schrecklich aufgeregt und Fridays-for-Future-demonstrativ" gehe es um die gute Sache, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (28.2.2021) – "unter Aufbietung starker und weniger starker, teils auch plumper Mittel". Eisenach und Ensemble legten "einen aktionistischen Furor an den Tag, als ginge es um nichts Geringeres als die Rettung der Welt". Auch wenn der Kritikerin "der pädagogische Belehrungs- und Bekehrungseifer der Inszenierung … zwischendurch schwer auf den Zeiger" geht, kann sie den Abend nicht einfach abtun: "weil er eine unverfrorene Chuzpe und tatsächlich ein Anliegen, sogar Lösungsansätze hat". Außerdem funktionierten die Textverschränkungen zwischen aktueller Öko-Bilanz und den Sophokles-Passagen "erstaunlich gut".Die 360°-Technik mache den Abend "ein bisschen anstrengend, aber reizvoll neu", trotz "Kladderadatsch aus Mythen, Fragen, Klagen, Fakten". "Versatzstückhaft" sind Dössel zufolge auch Bühne und Kostüme, "die Schauspieler tragen mal Seuchenschutzanzüge, mal antikisierende Gewänder, dazu jede Menge Masken".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
- 29. September 2024 Schauspieler Klaus Manchen verstorben
- 28. September 2024 Schauspielerin Maggie Smith gestorben
- 26. September 2024 Nicolas Stemann wird 2027 Intendant in Bochum
- 26. September 2024 Berlin: Bühnenverein protestiert gegen drastische Sparauflagen
neueste kommentare >
-
Einsparungen 3sat Unterschreiben!
-
Spardiktat Berlin Nicht konstruktiv
-
Einsparungen 3sat Geschätzter Stil
-
Spardiktat Berlin Verklausuliert
-
Spardiktat Berlin Gagen
-
Faust, Frankfurt Video
-
Spardiktat Berlin Intransparente Bosse
-
Spardiktat Berlin Menschen wie Max Reinhardt
-
Augenblick mal Jurybegründung
-
Medienschau Peter Turrini In der DDR
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Zu pathetisch-dräuender Live-Musik von Niklas Kraft und Sven Michelson versucht „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“, antike Tragödie und moderne Lecture Performance, Mythos, Wissenschaft und Gegenwarts-Krise zusammenzubringen. Nicht immer gelingt dieser spielerische Spagat, aber die Ernsthaftigkeit, mit dem Volksbühne und „Theater des Anthropzän“ diesen Versuch gemeinsam angehen, ist anerkennenswert. Überraschend ist diese Ernsthaftigkeit gerade bei Alexander Eisenach, der in der vergangenen Spielzeit am Berliner Ensemble mit „Stunde der Hochstapler“ noch eine der belanglosesten, albernsten Arbeiten ablieferte.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/02/19/anthropos-tyrann-odipus-volksbuhne-kritik/
Ich habe mir den Abend auf einer VR-Brille angesehen (was aufgrund der für das Medium langen 90 Minuten dann schon etwas grenzwertig war, zugegeben) und und er überzeugt auch hier sehr. Technisch stabil, gute Einbindung des Bühnenbildes, des Bühnen- und Zuschauerraums, eine clevere Lösung mit virtuellen Videoschirmen, mit denen Nähe und Weite inszeniert wird.
Besonderes gut, dass dies wirklich ein Live-Abend war, vergänglich, mit einem ganz speziellen Zuschauerplatz, das gibt dem Genre "Theater in 360°-Video" (was etwas anderes ist als VR, aber das ist hier vermutlich Haarspalterei), nochmal einen anderen Spin. Klasse.
Einen anderen Sturm will dieser Abend entfesselt sehen, einen reinigenden, einen die Fehler einer Menschheit, die sich selbst als den Nabel von allem, als den einzigen Bezugspunkt von Bedeutung sieht, hinwegfegenden. Einen, der den Blick umkehrt, der Bedeutung in den Dingen verankert, in der Natur und nicht mehr als bloße Projektion des Menschen. Das tut er spielerisch, zitierend, in grotesker Verzerrung (vermutet) antiker Bild- und Spiel- und Sprachtraditionen, in ihrer Verwirbelung mit modernem wissenschaftlichem Diskurs, in einer zwischen museal und karikierend schwankenden Bild- und Spielsprache, die Verbindungen sucht, verwirft, knüpft, die herumirrt und mitunter in der Lage ist, das Licht anzuknipsen. Am Ende nähern sich die Gestalten von allen Seiten dem Kameraauge, das ihnen nun nicht mehr entkommen kann, egal wohin wir es drehen. Unser Blick wird zurückgespiegelt, seine Autonomie, auf der der Abend eigentlich basiert, aufgehoben. Sie trauern um das Verlorene, eine Trauer, die „Resilient gegen eine Fortschrittsgläubigkeit“ macht. Und sie kommen auf uns zu. „Hallo?“, fragen sie, „hallo?“ Dann wird es dunkel und die Frage steht im Raum. nein, keine Frage, eine Aufforderung, eine Herausforderung, ein Appell. Weiter so? Es ist an uns, nur an uns, uns im Zentrum, das nicht mehr ein solches sein darf. Kriegen wir das hin?
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2021/02/20/im-zentrum/
Und unsern alten Kaiser Wilhelm, mit'm Bart, bitteschön.
Und naja, den Vorwurf des Epigonentums kann man natürlich dem Abend ggfs. machen, jedenfalls wenn er ganz herkömmlich auf die Bühne gebracht worden wäre. Aber das Besondere war ja hier die Inszenierung für die ZuschauerInnen vor dem Bildschirm. Das hat dem Ganzen schon eine andere Qualität und Perspektive gegeben.
Technik: ich glaube sie haben eine Insta360 Pro-Kamera verwendet (Preis kann man googlen), aber sowas muss man ja nicht kaufen, gibt es auch zu leihen. Die Frage nach den Kosten ist natürlich schon berechtigt, aber sie wird bezüglich Schauspielergagen, Bühnenbildkosten, Live-Kamera, Videoabteilung, usw. üblicherweise auch selten gestellt. Ich vermute aber, dass diese Produktion kostenmäßig nicht aus dem hervorsticht, was an der VB sonst bezahlt wird.
Faszinierende technische Umsetzung, hoch angelegte didaktische Dramaturgie und das mit einer völlig hilflosen Körpersprache (immer nur die Hände vor der dem Körper luftwedelnd), einer vorgangslosen Spielweise, dass man alles doch lieber als Hörspiel rezipieren möchte. Offensichtlich hatte die Darsteller*innen auch ein Problem mit der großen Bühne, was dazu nötigte merkwürdig private Wege darauf zu vollziehen. Das hätte die Regie alles merken sollen.
Jedoch als reifere Zuschauerin stelle ich auch an die Textcollage höhere Ansprüche.
Nun kann es sein, dass man eher die jüngeren Menschen als Zielgruppe im Blick hatte, dann kann das Experiment seinen Erfolg ggf. haben.
Alles in allem: "nacktes" Theater mit aussagekräftigen, körperbewussten Schauspieler*innen, die den Text über ihre Persönlichkeit greifbar und erfassbar machen, sind mir wesentlich lieber. Technik ist auch nicht zuletzt bei Castorf immer wichtig gewesen, aber es sollte nicht alles überlagern.
Löblich fiel mir die Antigone in ihrer Dringlichkeit und Sprache auf, sie hatte etwas von dem, was ich an den anderen vermisste. Und ein Lob für den Mut der Wissenschaftlerin, sich diesem Experiment zu stellen.
Als ich dann las, dass es ein Student*innen-Projekt ist, war ich wieder versöhnt mit der Volksbühne.