Niemand ist Herr im eigenen Haus

31. Mai 2024. Susanne Kennedy und Markus Selg sind ein bewährtes Team mit einer eigenen Ästhetik und hohem Wiedererkennungswert. In ihrer neuen Arbeit porträtieren sie eine Künstlerin und auf Umwegen auch sich selbst. Mit offenem Ende. 

Von Esther Slevogt

"The Work" von Susanne Kennedy und Markus Selg in der Berliner Volksbühne © Moritz Haase

31. Mai 2024. Gleich am Anfang die Warnung: "This is all prerecorded. There is absolutely no room for any spontaneity", sagt der Kunstkritiker, kurz nachdem er das Publikum und die Künstlerin Xenia begrüßt hat, um die es hier in diesem Talkshow-Setting gehen wird. Doch das wissen wir natürlich längst, denn so ist das bei Susanne Kennedy: Alles findet live statt, trotzdem sind das Liveerlebnis und die Individualität der Spieler*innen stark beschnitten und verfremdet.

Sie tragen Latexmasken, die sie alle ziemlich gleich aussehen lassen: haarlose und irgendwie echsenhaft wirkende Wesen. Ihre Stimmen kommen aus Soundsystemen, die sie wie Krägen um den Hals gelegt haben – es sind eher Avatare als Wesen aus Fleisch und Blut. Alles ist vorbestimmt, vorprogrammiert, ist die daran geknüpfte Behauptung. Gestaltungsspielräume: Fehlanzeige. Alles, was sich der Einzelne so einbildet auf seine Individualität: Illusion, Selbstbetrug. Wir sind Klone und hängen an den Fäden unserer Programmierung. Kaum geboren, sterben wir schon wieder. Existieren wir überhaupt? Und was ist dann überhaupt Kunst?

Selbstironisches Selbstporträt

"The Work" heißt der neue Abend von Susanne Kennedy und Markus Selg, der jetzt an der Berliner Volksbühne herauskam. Es geht um das Werk einer Künstlerin mit dem sprechenden Namen Xenia ("Die Fremde"), zu dem sie jetzt ein Kunstkritiker befragt. Sie soll ihre Kunst erklären, ihr Leben soll nochmal nachgespielt werden. Ein Casting für die Rolle der "Xenia" findet statt. Weitere Xenia-Darsteller*innen treten auf: in Jeans und weißen T-Shirts und mit kahlen Schädeln. An der Seite eine Art Jurte, aus der gelegentliches Stöhnen dringt. Später werden wir sehen: Hier befindet sich sozusagen das Heart of Darkness dieses Abends – eine alte Frau sitzt strickend am Rand eines Bettes, auf dem sich sterbend ihr erwachsenes Kind windet. Oder alpträumt es nur? Liegt es in Wehen? 

Echsenartiger Ex-Mensch: Jasper Middendorf in "The Work" © Moritz Haase

Doch davon kann das Publikum sich erst nach einer Weile selbst einen Eindruck verschaffen. Vorläufig sitzt es noch ordentlich im Zuschauerraum und blickt auf die Bühne, wo die Künstlerin zu ihrem Werk befragt wird. Ob sie wirklich Künstlerin sei oder nicht eher eine Heilslehrerin etwa. Das ist ja auch eine Frage, die gelegentlich an Susanne Kennedy gerichtet wird, der immer wieder ihr Hang zu Esoterik und pseudoreligiösen Botschaften vorgeworfen wird. Hier gibt’s nun einen fast selbstironischen Umgang damit. Denn dass es sich bei diesem Abend auch um eine Inspektion des Werks von Susanne Kennedy (und der mit ihr assoziierten Künstler wie Markus Selg, Soundesigner Richard Alexander oder Kostümbildnerin Andra Dumitrascu) handelt, wird spätestens dann deutlich, wenn das Publikum nach dem erstem raunenden Geplänkel über Kunst und Leben gebeten wird, auf die Bühne zu kommen. 

Themenpark Kennedy/Selg

Da hat sich inzwischen eine enorme Bühneninstallation aufgetan, die auch aus Versatzstücken früherer Arbeiten von Markus Selg und Susanne Kennedy besteht. Ein genauer Lageplan mit Erklärungen findet sich im dicken Programmheft, das es in der Volksbühne diesmal ausnahmsweise gibt – wo sonst nur Besetzungszettel die nötigsten Infos zu den jeweiligen Abenden geben. So erfährt man etwa, dass die Jurte am Bühnenrand aus der Arbeit "Das Testament" von Markus Selg zur Geschichte der Menschheit von 2004 stammt. Aber manchem Ausstattungsstück ist man auch schon selber begegnet, in Ultraworld oder Coming Society zum Beispiel, wo auch schon der von seiner transzendentalen Obdachlosigkeit völlig in die Auflösung getriebene Mensch ein zentrales Thema war.

TheWork2 1200 Moritz Haase uNicht wiederzuerkennen: Antonia Wiedemann, Toni Maercklin, Adriano Henseler, Marie Rosa Tietjen © Moritz Haase

Kennedy und Selg nutzen eine höchst eigene Auffassung von Retrospektive, um Fragen nach dem Zusammenhang von Kunst und Leben zu stellen. In den Versatzstücken ehemaliger und gegenwärtiger Arbeiten soll das Leben der Künstlerin Xenia also von ihr selbst noch einmal inszeniert werden. Da aber so etwas wie Künstlerautonomie nicht existiert, weil das Kunstwerk sich sozusagen selbst generiert, geraten wir als Publikum in psychische Welten, die sich in unterschiedlichsten Medien manifestieren.

In der Zeitmaschine

Da sind 3D-Videos, auf denen ein Elternpaar mit Francis-Bacon-haft zerflossenen Gesichtern in nur halb fertiggestellten Animationen eines bürgerlichen Esszimmers sitzen. Die Stimmen von Mum und Dad dringen von ganz woanders auf die Bühne. Traumatische Urerlebnisse werden angedeutet. Ein Therapeut tritt in einem Therapie-Zimmer auf. 3D-Projektionen öffnen den enormen Rundhorizont in der Volksbühne immer mal wieder ins Unendliche – einmal fliegt ein roter Riesenvogel (oder ist es ein Drache?) durch graue Serverparks. In den verschiedenen Bühnenversatzstücken sind fragmentarische Szenen aus dem Leben von Xenia zu sehen – und wie sich psychische Deformationen und frühe Traumata dann durch ihre Kunst einen Weg ins Freie suchen. Es sind sozusagen freudianische Urerkenntnisse (oder Allgemeinplätze?), die hier in einem bildgewaltigen Setting manifest werden: Niemand ist Herr im eigenen Haus. Dazwischen irrt das Publikum durch die Szenerie, sucht sich Halt, setzt sich, schaut und hört.

TheWork4 1200 Moritz Haase uDas Publikum wird in die Rätselwelt hineingebeten © Moritz Haase

Natürlich scheitert die Imitation des Lebens in der Kunst am Ende. Und es kommt in "The Work" zu einem ganz physischen Akt: Die Spieler*innen entledigen sich ihrer Hosen und zwischen ihren Beinen wird ein seltsames Geschlecht erkennbar, aus dem nach geburtseinleitenden Maßnahmen erst blutiger Schleim und dann tatsächlich aus einer Art glibberiger Fruchtblase kleine Xenia-Figuren entbunden werden. Ist das jetzt die Essenz? Keine Kunst mehr, sondern nur noch Schleim und Physis? "The Labor" statt "The Work"? Ich weiß es nicht.

The Work
von Susanne Kennedy
Konzept: Susanne Kennedy, Markus Selg, Regie, Text: Susanne Kennedy, Bühne: Markus Selg, Sounddesign, Montage, künstlerische Mitarbeit: Richard Alexander, Videodesign: Rodrik Biersteker, Markus Selg,. Kostüme: Andra Dumitrascu, Licht: Kevin Sock, Dramaturgie: Johanna Höhmann.
Mit: Suzan Boogaerdt, Adriano Henseler, Toni Maercklin, Montse Majench, Jasper Middendorf, Bianca van der Schoot, Antonia Wiedemann, Laurie Young, Damian Rebgetz, Kate Strong, Brigitte Cuvellier, Ibadet Ramadani, Marie Rosa Tietjen, Ann Göbel, Christian Persico, Neela Hetzel de Fonseka, Sir Henry, Susanne Kennedy (Voice Over).
Premiere am 30. Mai 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin


Kritikenrundschau

Einen "überflüssigen, wenn auch vermutlich nicht ganz billigen Abend", hat Peter Laudenbach gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (1.6.2024): Die Bühne "sieht aus wie eine interessante Kombination aus Geisterbahn und dem schlechten LSD-Trip eines überambitionierten Raumausstatters aus den 1970er-Jahren. Vielleicht ist es aber auch nur der Versuch, mit der schön schrillen und komplett inhaltsleeren, bühnenraumfüllenden Großinstallation vom altmodischen Theater in den lukrativeren Kunstmarkt zu wechseln." Der "alte Kennedy-Trick", Stimme und Körper zu trennen (...), funktioniere immer noch als wirkungsvoller Verfremdungseffekt, so Laudenbach. "Allerdings erschöpft sich das, anders als in Kennedys deutlich intelligenteren Frühwerk vor einem Jahrzehnt ('Fegefeuer in Ingolstadt', 'Warum läuft Herr R. Amok') leider auch in der schön spooky-künstlichen Kälte des Effekts."

Von "Therapiesitzung, Trauma, Drogentrip" und einem "soften Gang durchs Unterbewusstsein" berichtet Timo Feldhaus in der Berliner Zeitung (31.5.24, €) und findet, zwischendurch wolle man der Regisseurin zwar zurufen: "Gern etwas weniger theoretisch-esoterisches Herumphilosophieren"! Andererseits ermögliche das Stück aber "etwas sehr Ungewöhnliches, nämlich einen Abend fernab von Moralisieren und Bewertung, etwas gut Poröses, fast Flüssiges." Mit "herrlich verduseltem Kopf" werde man entlassen. "Das Ich soll sich auflösen", konstatiert der Kritiker, "und das hat es wirklich ein bisschen."

Von "erfrischender Selbstironie" des Künstlerduos Kennedy/Selg bezüglich des "New-Age-Appeals", das ihre Werke verströmen, berichtet Christine Wahl im Tagesspiegel (31.5.24, €). Da es an diesem installativen Abend "nicht um Rationalisierbares" gehe, sondern "ausdrücklich um sein Gegenteil", sei "das Gefühl, permanent im falschen Büdchen oder an der ereignisärmsten Ecke zu stehen, Teil des Werks", urteilt die Kritikerin. "Schließlich ist genau das das Wesen des Unbewussten, in dessen Sphären wir uns hier befinden: Es bleibt eine Black Box".

Der Abend sei "oft anregend, wenn sich aus der kleinen Geschichte von der Künstlerin und ihrem Sterben auch kunstphilosophische Parallelen ziehen lassen", so Tobi Müller im Magazin Monopol (31.5.2024). "Aber man sieht vermehrt das eine oder andere Gähnen, bevor man selbst ein bisschen wegdriftet." Allerdings passe der Abend perfekt in den "Volksbühnen-Komplex": "Wenn die Heilerin Kennedy so viel über das Sterben ihrer Figur spricht, muss sie auch das Haus selbst meinen."

"Von Nahem betrachtet, sind diese Gestalten immer noch sehr rätselhaft, dabei aber deutlich weniger interessant als aus der Ferne", schreibt Michael Wolf auf nd-aktuell.de. Als Blick in den Maschinenraum, in dem Kennedy und Selg an ihren alternativen Weltentwürfen basteln, sei diese Retrospektive zwar durchaus gelungen. "Als eigenständige Inszenierung aber fällt 'The Work' im Vergleich mit früheren Arbeiten an der Volksbühne wie 'Women in trouble' oder 'Jessica' deutlich ab."

 

Kommentare  
The Work, Berlin: Divergenz der Ebenen
Erst einmal Lob … für das (gar nicht mal so dicke) Programmheft: dass es überhaupt existiert (wo doch einige Dramaturgien inzwischen nur digitale Programmhefte anbieten, die ausnahmslos im digitalen Müll verschwinden werden) … und auch das gesehene besser einordnen hilft … die Aufführung besteht aus zwei Teilen: klassisch die ersten 27 Minuten: Zuschauer im Zuschauerraum, Akteure auf der Bühne. Dann Zuschauer auf der Bühne. Ab dann gibt es ein Problem: die akustische und visuelle Ebene mischen sich nicht. Wenn irgendwo zwei Avatare gegenüberstehen (ein Text von irgendwo zu hören ist), aber ich mich gerade wo anders befinde, kann ich nicht verstehen, worum es geht. Mir blieb die Aktion im Zelt unverständlich, da ich woanders war. Am besten funktioniert die Aufführung dann, wenn ich mir die Augen zumache und nur den Text anhöre … die Videosequenzen sind beeindruckend, aber verbinden sich nicht zu einer „Erzählung“. Es entsteht kein Sog. Wenn das in der Mitte der Bühne hängende Objekt heller oder dunkler wird, ist es lediglich ein Objekt, das in der Mitte hängt und heller und dunkler beleuchtet wird. Aber ist das alles nur so gemeint? Es fehlt die Distanz. Ausserdem: wir sind zu viele auf der Bühne und nehmen uns gegenseitig die Sicht …Vielleicht arbeitet das Team noch weiter an dieser Installation, könnte spannend(er) werden …

Anmerkung an die Redaktion: die Schriftgrösse der Buchstaben in der Kritik wechselt in der Mitte …

(Anm. Redaktion: Danke für den Hinweis auf das Formatierungsproblem im Text! Der Schrifttypenwechsel war nur auf der mobilen Seite zu sehen. Herzlich, Christian Rakow)
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