1994 - Futuro al dente - Schauspiel Frankfurt
Apocalypse Now Or Never
von Michael Laages
Frankfurt am Main, 6. Dezember 2019. Bis drei Wochen vor Silvester war die Position des Spitzenkandidaten im Wettbewerb um die "Silberne Zitrone" oder das "Faule Ei" des Theaters für dieses Kalenderjahr noch nicht vergeben – jetzt ist klar, wer ganz vorne liegen wird: "1994 – Futuro al dente", die "Stückentwicklung" von Nele Stuhler und Jan Koslowski fürs Frankfurter Schauspiel. Tatsächlich allerdings steht am Sekt-und-Böller-Abend Ende des Monats nicht dieses, sondern ein anderes Projekt dieser fleißigen Theatermenschen auf dem Frankfurter Spielplan: "Der alte Schinken". Mit Sicherheit gibt's da mehr zu lachen; die aktuelle Novität aus der Werkstatt von Stuhler & Koslowski wäre selbst im Delirium des Jahreswechsels nur mit ganz viel Blaumachern zu ertragen.
(Keine) Odyssee im Weltraum
Delirant bis der Arzt kommt (und nicht nur "al dente") ist auch der aktuelle Blick in die Spaghetti-Zukunft. Schon weil die Zeit-Ebenen so wunderbar unübersichtlich sind – eine Art Raumschiff-Crew erwacht, so will es die Geschichte, vor 25 Jahren; nachdem sie zuvor weitere zehn Jahre in künstlichem Schlaf verbracht hat. Abgehoben allerdings in die unendlichen Weiten von Zeit und Raum hat die schräge Truppe laut Logbuch-Eintrag 1949 … was nun gerade 70 Jahre her wäre; zu der Zeit war noch Wernher von Braun der weltweit gefragteste Raketenbauer. Was also soll das Spiel mit den Zeiten? Es stiftet auf ziemlich einfache Weise Verwirrung; mit der im Kopf fragt danach niemand mehr nach irgendwelcher Logik. Und so wird sie denn im weiteren Verlauf des haltlos albernen Spiels auch beharrlich verweigert.
Die Kapitänin von der Enterprise ("Utro Savtra" heißt sie, russisch für "morgen früh" … *grins) erzählt zu Beginn, wie schön und schwierig das ist mit dem Erwachen – wenn die Augenlider so richtig schwer sind nach zehn Jahren. Ko-Kapitän Ralle folgt, auch "Navigatix Avanti Popolo" und der "Doktore Senza Glutini"; die Herren Kirk, Spock und Pille lassen sehr von ferne grüssen. Frau "Data Luv" entspringt derweil direkt dem Computer, der seinerseits "Kassandra" heißt, aus einem Dutzend übereinander geschichteter Tortenstücke besteht (die Bühne hat Chasper Bertschinger entworfen) und tendenziell darauf beharrt, schweigsam und ein Rätsel zu bleiben, also nicht etwa zu sprechen wie "HAL", der IBM-Klon aus Stanley Kubricks "Odyssee im Weltraum" anno "2001". Aber im Ernst: ein Dialog aus diesem Film mit diesem Computer wäre Lichtjahre komischer als all das Geblödel, das nun 100 Minuten lang über die Kammerspiele am Frankfurter Schauspiel hereinbricht.
Folgenlose Weltretter-Mission
In der Ecke rechts hinten lümmelt übrigens "Funki", der nicht etwa als Funker tätig ist wie einst Leutnant Helga Legrelle auf der Orion 8, sondern ein Schimmelpilz aus der Familie der Fungiziden. Zunächst ist der das Echo der Besatzung, bald mischt er sich aber ein und stiftet noch ein bisschen mehr Verwirrung als ohnehin schon unüberseh- und -hörbar.
Die Hoffnung auf irgendeine nennenswerte Idee im Allerweltsgefasel stirbt erst kurz vor Schluss, als doch noch mal kurz, aber völlig folgenlos von der Weltretter-Mission die Rede ist, zu der Kapitänin "Morgen früh" irgendwann mal aufgebrochen sein könnte; auch treten zwei aus der Crew mit knallgrünen Mikroben-Masken auf und repräsentieren so jene Spezies, die die Menschheit nach der Selbstabschaffung beerben wird. Aber vielleicht übersteht ja auch Funki, der Schimmelpilz, die drohende Apokalypse.
Nele Stuhler ist mit der in Gießen geschulten Gruppe FUX eine feste Größe der Frankfurter Szene, die Granteloper etwa, gezeigt im Mousonturm, galt als echtes Highlight. Regelmäßig arbeitet sie mittlerweile mit Koslowski bei den wohlhabenderen Nachbarn im Schauspiel; und offenbar verpulvert sie gern auch mal Geld ohne erkennbaren Sinn und Zweck. Das Frankfurter Ensemble immerhin macht durchaus munter mit bei diesem Schmarren zum Quadrat; aber inhaltlich ist "1994" nichts, wirklich gar nicht der näheren Beschäftigung wert. Gegen Ende steht wenigstens die angenehm selbstreferentielle Frage "Sollen wir weiter machen?" im vernebelten Raum … ein "Nein!" in diesem letztmöglichen Moment hätte ein wenig Erleichterung gebracht.
1994 – Futuro al dente
Stückentwicklung von Nele Stuhler und Jan Koslowski
Regie: Nele Stuhler, Jan Koslowski, Bühne: Chasper Bertschinger, Kostüme: Svenja Gassen, Animationen: Luis August Kraven, Dramaturgie: Lukas Schmelmer, Licht: Jan Walther
Mit: Altine Emini, Torsten Flassig, Christoph Pütt-hoff, Fridolin Sandmeyer, Samuel Simon und Melanie Straub.
Premiere am 6. Dezember 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau
Es werde gekalauert und gewitzelt, "dass der Bühnenboden in den Kammerspielen des Frankfurter Schauspiels sich hier und da spaltbreit öffnet und zu diesem pausenlosen Dampfplaudern dampft, bis auch der Zuschauerraum komplett eingenebelt ist. Nur warum eigentlich?", schreibt Sylvia Staude von der Frankfurter Rundschau (8.12.2019). Keinen Scherz, Gag, kein Wortspiel, keine Anspielung und Blödelei lasse man vorbeifliegen. "Wie Schneegestöber wirbeln die Wörter, die Akteure bringen sie zum Tanzen. Doch wenn der Abend zu Ende ist, sind diese Flocken geschmolzen und haben bereits kaum eine Spur hinterlassen."
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vielleicht gehen sie nochmal rein, herr laages?!
Wie kann man das bloß nicht verstehen?
wie geht Kritik? Frage ich mich meistens und frage ich mich, wenn ich Ihren vorliegenden Text lese. "So nicht!", will ich Ihnen schreiben, mit "!" und folgender Argumentation:
Sie schreiben "Geblödel" und "Allerweltsgefasel", oke, der Abend hat Ihnen also nicht zugesagt, das sind Negativurteile, aber wieso erzählen Sie mir Leserin nicht, WAS denn überhaupt gesagt wurde? Ich lese nur, DASS es "wirklich gar nicht der näheren Beschäftigung wert" sei, aber in keinem Wort WAS. Oke, Sie beschreiben den Abend ästhetisch, aber inhaltlich, WAS war denn da nun? War es so sehr "wirklich gar nicht der näheren Beschäftigung wert", dass Sie es nicht für nötig oder angebracht halten, mir als Leserin die Chance zu geben überhaupt in Erfahrung zu bringen WAS inhaltlich verhandelt wurde? Woher soll ich denn wissen, was Sie unter "Allerweltsgefasel" verstehen, wenn Sie mir dafür kein Beispiel liefern, woher soll ich denn wissen, was sie blöd, also als "Geblödel" verstehen, wenn Sie mir dafür keine Argumentation vorlegen? Oder glauben Sie am Ende, dass "Geblödel" eine allgemeingültige Kategorie ist, auf die nicht näher eingegangen werden muss, weil alle wissen, immer schon?
Anyway, ich finde: In diesem Text fehlt Beschreibung und Argumentation. Wenn eine Kritik nachvollziehbar sein will, dann muss Sie beschreiben und argumentieren. Und ich finde, eine Kritik sollte nachvollziehbar sein wollen. Wollen! Warum schreibe ich Ihnen das? Weil Sie mich mit einem Satzteil in diesem Text in Rage gebracht haben: "verpulvert sie gern auch mal Geld ohne erkennbaren Sinn und Zweck".
Oke, vielleicht wollten Sie hier ironisch überspitzt nochmal bekäftigen, dass der Abend "Geblödel" ist. Aber Sie tun es in Form einer Unterstellung, einer Anmaßung, einer Beleidigung, die sich direkt gegen eine der Beteiligten richtet. Und zwar gegen EINE der Beteiligten. Das ist mein erster Rage-Grund: Wieso wird Nele Stuhler unterstellt, sie würde "gern" Geld verpulvern und Jan Koslowski nicht? Weil Männer kein Geld verschwenden und Frauen "gern" sinn- und zweck-lose Dinge tun? Oder was? Dann das "gern" - das impliziert, dass Nele Stuhler deswegen Theater macht, das "wirklich gar nicht der näheren Beschäftigung wert" ist, um dadurch Geld zu verpulvern, weil sie Geld "gern" verpulvert. Als wäre immer schon entschieden, was Sinn und Zeck hat und was "ohne Sinn und Zweck" ist. Und aber vor allem: Mit diesem Satzteil sprechen Sie einem Theater die Daseinsberechtigung iSv die Förderungswürdigkeit ab, sagen also sowas wie "Steuergeldverschwendung".
Nein! Theater ist nie Steuergeldverschwendung, auch "schlechtes" Theater ist keine Steuergeldverschwendung, denn wenn nur "gutes" Theater keine Steuergeldverschwendung wäre, dann bräuchten wir erstens eine zentrale Charta über "gut" und "schlecht" und zweitens wären Sie dann Ihren Job als Kritiker los, weil der wäre dann obsolet. Oder wie sehen Sie das denn?
Mit freundlichen Grüßen,
Theresa Luise Gindlstrasser
Ich war mit meiner DS-Crew in dem wundervollen Theaterstück und wir, als Boy-Bäääänd (Freundchens), fanden es SUPER!!!
Wie man sieht, haben sich viele Insider aus der Inszenierung entwickelt.
Das Geld wurde gut verpulvert. Weiter so!