Selbstoptimierung in der Geisterbahn

20. September 2024. Glühbirnen flackern und Skelette klappern. Mephisto führt Faust in die Geisterbahn, um ihn (und uns) das Leben zu lehren. Jan-Christoph Gockel zeigt das berühmte Drama mit visueller Wucht. Und Wolfram Koch als Mephisto.

Von Esther Boldt

Goethes "Faust 1 & 2" am Schauspiel Frankfurt von Jan-Christoph Gockel inszeniert @ Thomas Aurin

20. September 2024. Jan-Christoph Gockel ist ein Regisseur, der keine Scheu hat vor großen Gesten, Bildern, Erzählungen. Im Rhein-Main-Gebiet inszenierte er zuletzt unter anderem Sorokins Trilogie "LJOD. Das Eis" (Staatstheater Mainz 2019), in der eine Geheimgesellschaft selbsternannter Übermenschen ihre mörderische Spur durchs 20. Jahrhundert zieht, und "Öl!" nach Upton Sinclair, das mit unverhohlener Düsternis die Geschichte des Erdölmagnaten J. Arnold Ross erzählte (Schauspiel Frankfurt 2021).

Sinnstiftende Gelüste

Nun also "Faust", Teil 1 und 2 an einem Abend. Dieser Faust ist, wie Sorokins und Sinclairs Protagonisten auch, ein höchst ambivalentes Mannsbild: Einer, der scheinbar frei von Empathie und moralischen Überlegungen seinen Begierden folgt, einer, der im Handstreich schafft oder zerstört, ohne sich groß um die Konsequenzen zu kümmern. Seine Neugier und Gelüste allein scheinen hinreichend Sinn zu stiften, ihn über all dies hinwegsehen zu lassen.

Im Schauspiel Frankfurt ist dieser Faust eine lebensgroße Gliederpuppe von erbärmlicher Gestalt, grau, mit eingesunkenen Wangen. So liegt er anfangs vorn am Bühnenrand, während hinten, in der gähnenden Leere der Bühne, jemand putzt. Jemand, der bald vorn an die Rampe treten und einen Monolog beginnen wird, der eigentlich ein Dialog ist. Doch hier werden Gott und Teufel von ein und derselben Person gespielt, als seien es Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die einen Deal miteinander machen um Faustens Seele: zwei Seiten einer Medaille. Wolfram Koch spielt den Mephisto, der hier samtstimmig mit sich selbst ringt, bevor er die Faust-Puppe (wieder)belebt, mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung.

Multiple Persönlichkeiten in Auflösung

Zwischen Gut und Böse schillert es also, und Faust ist eine Puppe, die von verschiedenen Spieler:innen des Ensembles bedient wird – oder auch im Rollstuhl geschoben, gehoben, geschleppt. Ein Jedermann. Eine Beliebigkeitsfigur. Das infame Männerduo des "Faust", der lebenshungrige Forscher und sein mephistophelischer Verführer, sind von vornherein multiple Persönlichkeiten, in Auflösung begriffen. Den Faust hat natürlich der Puppen- und Schauspieler Michael Pietsch gebaut, ebenso wie einen Affen, einen Geier und die Motte, die später durchs Bild flattern wird.

faust1und2 10 thomas aurinWolfram Koch ist Mephisto © Thomas Aurin

Aber erstmal steigt Mephisto mit Faust in die Geisterbahn (Bühne: Julia Kurzweg), um ihn das Leben zu lehren: ein Riesenkasten, der allmählich hereingefahren kommt, mit blinkenden Glühbirnen, imposanter Fassade und genau einem schwarz-roten Wagen, der drinnen seine Kreise zieht. In kurzweiligen 30 Minuten wird hier, in der Geisterbahn, der "Faust I" gegeben, "Eine Erinnerung", wie ein Schriftzug sagt. Skelette klappern mit kantigen Bewegungen, und die bekannten Bonmots paradieren vorbei – vom Eise befreit, hier bin ich Mensch, des Pudels Kern. Der junge Faust wird dabei auch von Torsten Flassig gespielt. Das Publikum reist per Video mit ins Innere der Geisterbahn, in Gretes Stube, wo alles blau-weiß angefrostet aussieht und bald ein prächtiger Schwangerschaftsbauch heranwächst – bevor alles vergeht.

Atemlose Wunscherfüllung

Das ist unterhaltsam und kurzweilig, aber auch denkbar voraussetzungsreich: Wer mit den hingetupften Zitaten nichts anzufangen weiß, ist rasch verloren. Dabei geht es nach der ersten Pause erst los mit den Untiefen von Goethes "Faust 2", in dem Faust erst dem Kaiser zu Reichtum verhilft, um dann mit Helena das Kleinfamilienglück zu suchen und sich ein Grundstück am Meer klarzumachen. Mephisto ist dabei längst nicht mehr allein Spielleiter, sondern auch selbst Getriebener, atemlos von einer Wunscherfüllung zur nächsten hetzend.

faust1und2 18 thomas aurinDas Gretchen bzw. die Grete: Lotte Schubert ©Thomas Aurin

Der Erfindungs- und Mittelreichtum des Regisseurs sprengt den ohnehin zerfasernden "Faust 2" vollends und verwandelt die selbstoptimierenden Unternehmungen ihres Protagonisten in Events: Szenen werden auf den Willy-Brandt-Platz vor dem Theater verlegt, in Publikumsinteraktionen wird – beispielsweise und nur zum Schein – eine Fahrt in der Geisterbahn meistbietend versteigert und im Foyer ein "Gift-Shop" mit Faust-Merchandise eingerichtet. Schon klar: Am Golde hängt... 

Doch all der Budenzauber ist nicht nur fehleranfällig und aufwändig herzustellen, frisst mithin Zeit und lässt die Dramaturgie mehr als einmal lose baumeln, er lenkt auch grandios vom Wesentlichen ab. Vom Schauspiel beispielsweise, das sich nur gelegentlich verdichten kann – etwa, wenn Lotte Schubert im zweiten Teil als Grete wieder auf der Bühne steht, um noch einmal die Verführungsgeschichte zu erzählen, und dabei die Faust-Puppe in ihrem Arm selbst lenkt. Hier braucht es keinen Technikzupps, die Gänsehaut kommt von ganz allein.

Faust 1 & 2
von Johann Wolfgang von Goethe
Fassung von Jan-Christoph Gockel und Claus Philipp
Regie: Jan-Christoph Gockel; Bühne: Julia Kurzweg; Kostüme: Janina Brinkmann; Musik & Hörspiel: Matthias Grübel; Video: Eike Zuleeg; Puppenbau: Michael Pietsch; Dramaturgie: Claus Philipp, Katrin Spira; Licht: Marcel Heyde; Live-Kamera: Eike Zuleeg.
Mit: Torsten Flassig, Wolfram Koch, Lotte Schubert, Andreas Vögler, Melanie Straub, Christoph Pütthoff, Caroline Dietrich, Mark Tumba, Michael Pietsch, Roman Fischer, Edeltrud Thobe, Lieselotte Schweikhardt, Wolfgang Schreiber, Thomas Moschny.
Premiere am 19. September 2024
Dauer: 4 Stunden, zwei Pausen

www.schauspielfrankfurt.de

Kritikenrundschau

"Gockel und sein Mitarbeiter Claus Philipp haben für diese Inszenierung den Text beider Stücke auseinandergenommen und neu arrangiert, auch über die Grenzen der beiden Teile hinweg", berichtet Tilmann Spreckelsen in der FAZ (20.9.2024). Nicht alles sei gelungen, "auf manche der ausgedehnten Video-Einspielfilme hätte man auch verzichten können". Zugleich aber entwickele Gockel "eine Ästhetik, die an die "‘Faust‘"-Stücke und ihre Entstehungszeit" anknüpfe. So zitiere seine Faust-Figur "nicht nur die Herkunft des Stoffes aus dem Puppentheater, sondern auch den aufkommenden mechanischen Menschen", und "die Augen der Puppe" gingen einem nach Vorstellungsschluss "noch lange nach".

Goethe liefere in der Frankfurter Lesart "eine hochmoderne Textfläche der Extraklasse", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (20.9.2024). "Das macht etwas her, hat aber seine Tücken." Gockel unternehme "keinen Versuch, den ‚Faust 2‘ zu erklären oder zu glätten", er mache vielmehr den Versuch, ihn zu spielen. Und er spiele zwar, "was das Zeug hält", doch täten sich unter dem Spiel "keine Abgründe" auf. So stelle sich in viereinhalb Stunden "zunehmend die gefährliche Sinnfrage".

Kommentare  
Faust, Frankfurt: Puppen als Effekt
"Herkunft des Stoffes aus dem Puppentheater" ? Konkret war der Stoff lange vor Goethe schon ein Dauerhit des Marionettentheaters.
Deshalb jetzt Puppen einzubeziehen, hat leider immer etwas von einer Schein-Veredelung des Puppenspiels. Und ist latent auch Ausnutzung der Puppen als Effekt, wenn selbiges von den Schauspielern nebenbei mit erledigt wird, statt wie früher üblich von Puppenspielern.
Vielleicht aber auch, weil andererseits die handwerkliche Seite, also die Puppen-Animation, in der entspr. Ausbildung der HS Ernst Busch immer wieder vernachlässigt wird, so daß das eben auch "Nebenerwerbs-Puppenspieler" machen können, also Laien.
Faust, Frankfurt: Video
Wenn ich Videos sehen will, sehe ich fern oder sitze am Computer, ins Theater gehe ich nicht, um Videos zu sehen.
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