Königin Lear - Kay Voges inszeniert Tom Lanoyes Lear Inc. am Schauspiel Frankfurt
Matriarchin in Kapitalien
von Esther Boldt
Frankfurt, 10. September 2016. Was für eine Frau! Ein Mädchen, leichtfüßig tänzelnd, von verführerischer Koketterie. Eine Furie, ehrfurchtgebietend, von unbändigem Zorn. Eine Greisin, so wirr und verletzlich, dass sie den eigenen Augen nicht mehr trauen kann. Reich, mächtig und verblendet ist sie anfangs, arm ist sie am Ende, klarsichtig und zerbrechlich. Tom Lanoye hat diese fabelhafte "Königin Lear" geschrieben, und Josefin Platt hat sie gespielt bei ihrer deutschsprachigen Erstaufführung am Schauspiel Frankfurt – eine saftige, heutige Shakespeare-Überschreibung, lebensklug, sprachwitzig und poetisch.
Vererben
Der belgische Autor ist bekannt für seine Shakespeare-Bearbeitungen, für den Königsdramen-Remix "Schlachten!" und den Borderliner "Hamlet vs. Hamlet". Nun hat er "König Lear" vergegenwärtigt und die Konfliktlinien auf den Finanzmarkt bezogen: Seine "Königin Lear" herrscht über ein weltumspannendes Imperium, das sie von Vater und Gatte erbte. Nun möchte sie sich aus den Geschäften zurückziehen und zitiert wie einst König Lear ihre drei Söhne zu sich, um sich ihrer Liebe zu versichern und ihr Reich aufzuteilen.
Rebellieren
Kay Voges, Regisseur und Intendant des Schauspiel Dortmund, hat diese zornige Königin ins Schauspielhaus gesetzt. Übergroß erscheint das Gesicht der Matriarchin auf der Rückwand des Bühnenkubus', sie trägt eine Sonnenbrille zum straffen, weißblonden Haar. Ihre Söhne und Schwiegertöchter marschieren in schwarzen Anzügen und weißen Hemden auf, allein, der Jüngste tritt mit schwarzem Hemd und Doc Martens auf: die Zeichen der Rebellion. Während Gregory, der Älteste, wortwendig um der Mutter Liebe buhlt, während der geschäftstüchtige zweite Sohn Hendrik sich den Worten des Ersten eilfertig anschließt, verweigert Cornald sich dem verbalen Kräftemessen. Es ist ihm schlicht zu blöd, und außerdem möchte er ohnehin nicht in bei "Lear Inc." einsteigen, sondern sein eigenes Projekt starten: Mikrokredite in Indien. Seine Mutter findet dazu klare Worte: "Du bist ein Motherfucker!" – und wirft ihn hinaus.
Verlieren
Das Figurenpersonal hat Lanoye auf die Familienmitglieder und zwei Mitarbeiter verdichtet, Lears Pflegekraft und Gesellschafter Oleg und ihren langjährigen Berater Robert Kent. Voges hat Lanoyes mitunter weitschweifigen Text gut gestrafft und seine Figurenzeichnung zugespitzt: Viktor Tremmels Gregory ist ein echtes Weichei, das sich stets bei seiner taffen Gattin Connie (Franziska Junge) ausweint, ein Lebemann, der immer nur Geld ausgegeben hat und mit der neuen Verantwortung heillos überfordert ist. Lukas Rüppels Hendrik dagegen ist ein fühlloser Geschäftsmann, der von der Welt sonst nichts weiß. Seine Frau Alma (Verena Bukal) schleppt er herum wie einen Zierrat, der ihm temporär einen Funken Leben einhaucht. Und dann ist da noch der zwielichtige Kent (Peter Schröder), loyaler Begleiter und Ersatzvater, der Schwarzkonten führte und Bilanzen fälschte. Ihr aller Leben dreht sich allein um Königin Lear, und als die Demenz bei ihr immer stärker zuschlägt, gehen Familie und Geschäft vollends aus den Fugen. Auf dem ohnehin stürmischen Finanzmarkt kann sich der in Teile zerschlagene Familienkonzern nicht halten, und Gregorys Untüchtigkeit tut ihr Übriges dazu, dass sein Wert fällt und Konkurrenten ihre Messer wetzen.
Projizieren
Daniel Roskamp hat Voges präziser Inszenierung einen dunklen, hell gerasterten Bühnenkasten gebaut, einen glatten, kühlen Innenraum, lediglich aus den neonleuchtenden Fugen erhellt, der im Verlaufe des Abends vom Konferenzraum zum schwindelerregenden Tunnel wird, dessen verzerrte Perspektive Figuren vorn als Zwerge und hinten als Riesen erscheinen lässt. Anfangs werden Hochhaustürme drauf projiziert, glitzernde Fensterfronten, die letztlich undurchsichtig bleiben. Die Kamera bahnt sich ihren Weg durch den Häuserdschungel, gleitet einen Turm empor, himmelhoch – in ein Paralleluniversum, von dem aus der Rest der Welt mehr Schein als Sein ist.
Stürzen und triumphieren
Und dann ist da: die Lear. Die Platt. Eine Frau, die sich ihr Leben lang durchgekämpft hat in einer Männerwelt, und die das Kämpfen nun nicht mehr lassen kann – und sei es gegen Windmühlen. Mit ihr hat Lanoye eine Frauenfigur geschaffen, wie es kaum welche gibt im Theater, eine facettenreiche, faszinierende Frau jenseits der Sechzig, Herrscherin, Mutter, Liebende, Rächerin. Ein friedlicher Abgang ist ihre Sache nicht, manipulierend und schimpfend, betörend und beschwörend kämpft sie gegen ihren Machtverfall. Bis sie als schwarzäugige Harlekine im weißen Tutu dasteht, eine Sonnenblume in der Hand und eine Papierkrone auf dem Kopf. Noch einmal tanzt sie für alles, was sie verloren hat. Noch einmal bäumt sie sich auf: Sie will hinabsteigen aus den Höhen der Finanzwelt, den Boden unter ihren Füßen spüren und bei den anderen Ausgestoßenen leben. Dieses Happy End wird ihr natürlich nicht vergönnt sein.
Königin Lear
von Tom Lanoye
Deutsch von Rainer Kersten
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Kay Voges, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Mona Ulrich, Musik: Paul Wallfisch, Video: Robi Voigt, Licht: Johannes Richter, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Josefin Platt, Peter Schröder, Viktor Tremmel, Lukas Rüppel, Carina Zichner, Franziska Junge, Verena Bukal, Owen Peter Read.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www. schauspielfrankfurt.de
"Konsequent schwarz-weiß hält Kay Voges seine Shakespeare-Adaption", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (14.9.2016). Der berühmte Stoff von der königlichen Liebesprobe verkümmere in Lanoyes Umerzählung zum dürren Drehbuch kapitalistischer Hybris, "Voges reduziert das durchsichtige Verfahren noch einmal auf Karikaturen von aufreizend dämlichen Neureichen." Deswegen sei in diesem Bild vom Kapitalismus alles kalt gekünstelt oder sentimental dick aufgetragen, eben schwarz-weiß.
Von einem grandiosen "King Lear"-Remake spricht Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.9.2016). Besonders die Darstellerin der Titelrolle , die "phänomenale Josefin Platt" habe Magie, unmittelbare Wucht, rühre durch Zartheit, besteche durch sarkastischen Witz und mache die "datentechnologisch dystopischen Inszenierung von Kay Voges" zum unvergesslichen Abend.
"Es ist faszinierend, wie in einer so durchgefeilten Inszenierung Platz bleibt für das unausgesprochene Mehr, aus dem die Realität besteht", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (12.9.2016). "Der Zuschauer darf sich ernstlich vorstellen, er bekäme hier nur einen Bruchteil mit von dem, was insgesamt zu erzählen wäre – und dies im Kontrast zur holografischen, oberflächlichsten aller Oberflächen".
"Ja – wieder gelingt Tom Lanoye die 'Überschreibung' eines klassischen Stoffes", so Michael Laages im Deutschlandradio Kultur (10.9.2016). Seit den legendären 'Schlachten!'-Königsdramen nach Shakespeare, vor bald 20 Jahren kreiert für Salzburg und Hamburg, habe der belgische Dramatiker die Methode perfektioniert. Lanoye markiere mit den Motiven des Stücks "scharf und hart die Gegenwart". Kay Voges erzählt das aus Sicht des Kritikers "genau so klar, knapp und ruppig wie der Text; auf Daniel Roskamps Bühne, die von weißen Linien und schwarzen Quadraten dazwischen wie eine Computer-Grafik strukturiert ist". Und Josefin Platt als Wirtschaftskönigin laufe im Ensemble "zu wirklich grandioser Form und Klasse auf. Mit ihr wird Lanoyes Methode dann sogar zum Ereignis".
"Das Stück liest sich, als hätte Lanoye eine große Tüte Koks über Shakespeares Text ausgestreut", schreibt ein wenig begeisterter Peter Kümmel in der Zeit (15.9.2016). Voges zeichne alle auftretenden Figuren als gierige, vom Geruch des Geldes verblödete Monster. Josefin Platt spiele großartig. "Aber um sie her: Leere."
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Nach 5 Minuten ist alle Neugier auf die Figuren vorbei.
Die Inszenierung ist handwerklich in Ordnung - die Frankfurter Spieler scheinen etwas verhaftet im psychologisch realistischen darstellen. Das lässt der flache Text aber nicht zu. Dem Zugriff von Voges, das Ganze in einer Game Welt - und Ästhetik zu spielen, helfen sie so nicht wirklich.
Das die Frankfurter eine solche solide Auftragsarbeit abfeiern erzählt mehr über das Publikum als über das Stück. Kompliment an Frau Platt - sie haut sich wirklich rein - und ist die einzige, die aus dem selbstverodrneten Realismusgefängnis ausbricht - grosser Applaus zu Recht.