Der Disneykiller - Philip Ridleys düsteres Sozialstück als bestes Entertainment
Eine sabbernde Riesenkatze namens Realität
von Sarah Heppekausen
Bochum, 9. Februar 2010. In diesem charmanten Einraum-Theater dürfen die Zuschauer die Getränke mit zu ihren Plätzen nehmen, sie sitzen auf zusammengesammelten Stühlen, von ausgedienten Kinosesseln bis zur Eichenholz-Esszimmergarnitur, und beim Lichtwechsel ist der Schalter nicht zu überhören. Im Juni 2009 eröffnete das Bochumer Rottstr 5 Theater offiziell, in einer alten Fabrikhalle mit runden Dächern. Angrenzend an das Viktoriaviertel, das im Zuge der Kulturhauptstadt als Kreativquartier entwickelt werden soll. Ansonsten gibt es in der Umgebung vor allem Erotik-Läden und das abrissbereite Hotel Eden. Und über die Halle fährt die Bahn, die hieß mal Nokia-Bahn als es das dazugehörige Werk in Bochum noch gab.
Zukunftsvisionen und Realität stoßen in diesem Gebiet noch etwas unsanft gegeneinander. In Philip Ridleys "Disneykiller" hat der Traum die Realität längst abgelöst, nur dass die Geschwister Presley und Haley von Albträumen statt von optimistischen Phantasien überrannt werden. Ihr Weltentwurf gleicht einem Endzeitszenario, ihr Dasein einem verwahrlosten Entrücktsein. Das Stück des britischen Autors wurde 1991 in London uraufgeführt, 1992 war die deutschsprachige Erstaufführung am Deutschen Theater in Berlin. Michael Lippold (Ensemblemitglied am Bochumer Schauspielhaus) nimmt es sich (ein paar Straßenecken weiter im Off-Theater) als comic-komödiantisches Schauspielertheater vor.
Disney, Gurus und andere Feinde
Und entlarvt noch vor Beginn die Urangst der modernen Menschheit, die Triebfeder der Realitätsflüchtlinge: Disney. Auf einem TV-Bildschirm (Videobeamer sind in der Rottstr 5 unerwünscht) wird Mickey Mouse von einer blutrünstig sabbernden Riesenkatze bedroht. Der Fernseher gehört allerdings nicht zur Zimmerausstattung der beiden Geschwister. Presley und Haley tauchen nicht geistesabwesend in die zweidimensionale Illusionswelt ab, sondern erspinnen sich ihr individuelles Apokalypsemärchen ganz lebensecht.
Mit Teppich, Sessel und Heimtrainer hat Sarah Bernardy auf der kleinen Bühne ein Wohnzimmer angedeutet. Inklusive Spielecke und Schokoladen-Schatzkammer. Presleys und Haleys Zähne sind schon braun von dem vielen Süßkram. Haley hockt, wenn sie sich gerade weder Kekse noch Tabletten in den Mund stopft, vor ihrer Kiste mit den Plastikfiguren. Eine Mischung aus schutzbedürftiger Naivität und kratzbürstiger Einsiedlerin ist Marina Frenks Haley. Jogginghose unterm Kleid, zerzauste lange Haare und wissbegierige blaue Augen, die alles über die kaputte Welt nach dem Atombombenwurf erfahren wollen. Marco Massafras Presley visualisiert sie sich mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen wie ein Sektenführer. Gurus sind dann wohl neben Disney die Feinde der Lebenswirklichkeit.
Die Bahn, die ehemals Nokia-Bahn hieß
Massafra (er und Marina Frenk sind Ensemble-Kollegen des Regisseurs am Schauspielhaus Bochum) ist mal der ängstliche Junge, der Berührung vermisst, mal der brutale Narziss, der verletzt, wenn er berührt. Denkt Presley an seine toten Eltern, verkrampfen sich Massafras lange Finger. Erzählt Presley einen Kindheitstraum, steckt Massafras taucherbebrillter Kopf unter einem Mülleimer – dann ist er Astronaut. Der Schauspieler mit dem Hang zur grotesken Darstellung variiert wunderbar zwischen lebensfremder Verschrobenheit und verstörender Normalität. Ja, so einer kann solch perfekt durchgestylte Traumfiguren wie den Ken-Lackaffen Cosmo Disney (Sebastian Zumpe) und die Zeichentrick-Musical-Mischung Mistgabel Cavalier (Arne Nobel) aus seinem Kopf quetschen. Denn die sind nichts anderes als Hirngespinste, lebendig gewordene Albtraumgestalten.
Lippold vertraut auf das komödiantische Talent seiner hervorragenden Schauspieler. Es ist durchaus erfrischend, das Stück nicht als realistische Sozialkritik serviert zu bekommen. Einerseits. Andererseits mangelt es am bitteren Nachgeschmack. Wenn Presley und Haley das Erzählen ihrer Albträume als Entertainment-Nummer vorführen, bleibt nicht viel übrig vom sogartigen Grauen beim der Lektüre. Für düstere Stimmung sorgt bloß das gelegentliche Grollen der vorüberfahrenden Bahn. Die Bahn, die nicht mehr Nokia-Bahn heißt und so jede Träumerei in die Schranken der Realität verweist.
Der Disneykiller
von Philip Ridley, deutsch von Jörn van Dyck
Regie: Michael Lippold, Ausstattung: Sarah Bernardy.
Mit: Marco Massafra, Marina Frenk, Sebastian Zumpe, Arne Nobel.
www.rottstr5-theater.de
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Kritikenrundschau
"Cosmos Version der Realität ist das eigentliche Kernstück der Sozialkritik des Autors", schreibt Tom Thelen in der WAZ (11.2.2010.). Diese Realität sei eine Gesellschaft des Spektakels, zwischen Voyeurismus und Kapitalismus. "Das finstere Märchen mit seinen popkulturellen und religiösen Dimensionen bringt die Inszenierung facettenreich auf die Bühne." Regisseur Michael Lippold gelinge mit hervorragenden Darstellern eine Interpretation, die das optimistische Flämmchen in der Vorlage kräftig anblase.
Jungschauspieler Zumpe benötige nur wenige Augenblick, um mit der Rolle des ekelhaft selbstverliebten und gelackten Kindermörders im Glitzerjackett zu verschmelzen, so Christoph Walter in den Ruhr Nachrichten (11.2.2010). Und absolut überzeugend würden Marina Frenk und Marco Massafra das krude Geschwisterpaar verkörpern. "Wirklich bemerkenswert, was Schauspielhaus-Ensemble-Mitglied Michael Lippold als Regisseur aus Philip Ridleys ebenso feinsinnigem wie schonungslos brutalem Bühnenstück heraugeholt hat. Der kleine Geniestreich ist ihm nicht zuletzt deshalb gelungen, weil er auf vier brillante Darsteller zählen konnte."
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Ich bin nicht unbedingt ein Freund von britischer Endzeit und Apokalyptik a la Edward Bond und Philip Ridley.
Und trotzdem bin ich diesem Stück ob seines nuancenreichen Spiels sehr gerne gefolgt. Das ist große Schauspielkunst, die im Schrecken und im Humor, der hier durchaus auch zu finden ist, sehr differenziert (psychodramatische) Akzente setzt.
Ich fühlte mich wie in einem Theaterlabor, in dem ich mit den Schauspielern meine eigenen Ängste, Chimären und Alpträume durchmesse. Und das wird durch die Räumlichkeit und Enge des Theaters ja aufs Wunderbarste ge- und befördert, man ist ja quasi mittendrin im Spiel, Bühne und Zuschauerraum sind / werden ein Raum, eine Fläche. Und diese Begrenzung dieses low-budget-off-Theaters wird damit auch zu (einer!)seiner großen Stärken. Ich als Zuschauer werde ja viel ungeschützter, verletzlicher mit dem Spiel konfrontiert als im bekannten Illusionsraum eines Stadttheaters. Damit emotional auch viel leichter erreichbar für die Schauspieler. Und so wird dieser gewölbeartige (Theater-)Raum zu einem Ort der Transformation, in dem Licht in unsere Schattenwelten getragen wird.
In Bochum bin ich seit dem Ende des Triumvirats Haußmann/Gotscheff/Kruse im (Stadt-)Theater nicht mehr so intensiv berührt und bewegt worden.
Und das nicht nur von diesem Stück sondern auch von vielen anderen aus dem aktuellen Repertoire, so von dem wunderschönen Requiem an die große und viel zu vergessene Sylvia Plath oder von der Troja-Trilogie, eine spannende, aufreibende und provozierende Textcollage, in der antike Mythen in die Jetztzeit transportiert werden und gezeigt wird, dass die großen Fragen immer die Gleichen sind, nur zu jeder Zeit anders gestellt werden (bzw. in einer Kultur der Oberflächlichkeit dem Vergessen anheim fallen). Und da lohnen wirklich auch weitere Anfahrten.