Die Brüder Karamasow - Schauspielhaus Bochum
Séance der letzten Fragen
15. Oktober 2023. Sieben Stunden Dostojewskij als Wanderung durch das ganze Theater – inklusive Kammerspiele, Werkstätten und Foyers – mit zwei Pausen und Dinner sogar: In Johan Simons' Auseinandersetzung mit dem monströsen Stoff berühren sich die Extreme. Ein Ereignis!
Von Andreas Wilink
15. Oktober 2023. Das "kolossale Drama" erkannte Thomas Mann in dem Buch, wie in allen Romanen des Russen. Johan Simons transponiert nun über weite Strecken das Drama zurück in ruhig strömende Gedankenflüsse und szenische Begegnungen – es gibt eben auch einen Extremismus des Unaufwendigen. Das Beiläufige schafft hier erst die Voraussetzung für die Intensität der konzertierten Aktionen, bei denen, wie einzelne Nervenstränge und Muskelfasern, emotionale Zustände und Charakteraufrisse herauspräpariert werden.
Dostojewskij, der große Psychologe und Gewissens-Kundschafter, Künstler der Krise, der Leiden und des schroffen Humors, war ein "Vertrauter der Hölle", um nochmals Thomas Mann zu zitieren. In Bochum erweist er sich zudem als Bruder von Gorki und Tschechow. Seine zugleich National- und Weltliteratur ist immer auch theologische Schrift, die die Natur des Menschenwesens umkreist sowie die Paradoxien von Gut und Böse, die Gefahren des Skeptizismus, die Fragen nach Unsterblichkeit, Schuld, Selbstverachtung, Vergebung und Erlösung, die nur bedingungslose Liebe zu Gott und dem Menschen gewährt.
Zum Resonanzraum der Rezeption von "Die Brüder Karamasow" gehört hierzulande auch die Sonderbeziehung zwischen Deutschland und Russland, ihre historischen Wurzeln, furchtbare Menschheitsverbrechen im 20. Jahrhundert und ihre politischen Wirkungen, Erblasten und Fehldeutungen bis in die akute Gegenwart. Was zu tun hat auch mit unseren eigenen Perioden der Perversion und Abkehr von einem liberal freiheitlichen, demokratisch und ethisch verfassten Staat und seiner Gesellschaft. Putins Überfall auf die Ukraine entfacht die Debatte um die russische "Seele" neu – und ob und wie ihr Verständnis von Heimat, Tradition, Tugend und Glaube Gewalt in ihr befördert.
Von der Weite in die Verdichtung
Die sieben Stunden, ihre mal legeren, mal scharf gezogenen Phasen der Erzählung, die Wanderung durchs Theater – Großes Haus, Kammerspiele, Foyers –, samt Pausen und Jause führen vom Tag zur Nacht. Wie sich in dem Roman selbst die philosophische Idee findet, dass die Extreme sich berühren, der für die Beschäftigung mit Dostojewskij ein elektrisierender Impuls sein kann, so wiederholt sich dies auch in der Wende von Wachsein zu Erschöpfung, von der Weite in die Verdichtung, von Komik zu elegischer Verfasstheit. Und findet sich in der christlich-orthodoxen Glaubenslehre, wonach Satan in Dualität und einem sich bedingenden Verhältnis zum Gottesprinzip und zur Verneinung des Nichts steht.
Der "Sündenpfuhl" und Freudenort Leben ist Heimat aller Figuren. Im Zentrum stehen Ivan, Dimitrij und Aljoscha sowie ihr Vater Fjodor, der ermordet wird. (Wer aber beging die Tat?) Pierre Bokma spielt den Alten hochpräsent, jovial-schlampig und ebenso abgefeimt wie lästerlich und raffiniert närrisch. Sein unehelicher Sohn und Stiefbruder der Drei, Smerdjakow, fristet als Diener im Haus des verhassten Erzeugers sein Dasein: Oliver Möller hantiert beständig im Küchendienst, um etwa Kohlköpfe zu halbieren, als wolle er sie massakrieren. Schließlich sind da die an Leib und Seele versehrte und mit sich selbst verfeindete Lise (Danai Chatzipetrou) mit ihrer resoluten Mutter und als Kontrastbild die erotische Freibeuterin Gruschenka (Anne Rietmeijer).
Menschen in der Revolte
Die Brüder repräsentieren, verknappt gesagt, drei Prinzipien. Ivans spöttischen Intellekt stattet Steven Scharf mit vibrierendem Gleichmut aus: ein Duellant, der kurz vor dem tödlichen Schusswechsel lächelt. Dimitrij verkörpert Leidenschaft und obsessive Lust und hat bei Victor IJdens rührende Robustheit und leuchtende Schicksalsgefasstheit. Während einer seiner affektiven Attacken singt Nancy Sinatra ihr "Bang Bang". Aljoscha, den Jüngsten in seiner Glaubenstiefe, führt Dominik Dos-Reis als gereiften Kindskopf und aufgeweckten Träumer durch seine Ich-Suche, als würde er mit jedem Schritt bei sich selber anecken. Geleitet dabei von der Klosterfrau, der Stariza (Elsie de Brauw), in ihrer schlichten Heilsgewissheit.
Die Aufführung nimmt das Wesen einer hellwachen Séance an, um ganz bei sich zu sein und aus ihrer lauernden Entspanntheit jähe Ekstase, wilde Jagd, kollabierende Gemütsruhe, psychische Blitzgewitter und moralische Absolutismen hervorzubringen. Jede(r) ist ein Mensch in der Revolte, ob sie sich vehement artikuliert oder still implodiert.
Kampfplatz der Vertriebenen und Gefallenen
Johan Simons gestaltet den Aufruhr der Herzen und Hirne in einer reichen Fülle von Form und Farbe. Prinzip Disharmonie: Da ist etwa Smerdjakow, der bei einem epileptischen Anfall vom Stuhl kippt, während ein Country-Song dudelt; seine Hände zucken, als fingerten sie über die Saiten einer Gitarre. Vater Fjodor schaut ungerührt zu und geht ab, bevor Gruschenka auftritt, die Tür des Kühlschranks aufreißt, worauf grell eine Passage aus Schostakowitschs vierter Sinfonie ausschwappt und diese 'Maria Magdalena’ wie mit entflammbarer Flüssigkeit übergießt.
Die große Bühne ist ein von Podesten gegliederter, mit Ikonen, Kerzen und gestürzten Zwiebeltürmchen geschmückter White Cube, in dem schwarze Balken und ein Kanonenofen einen traulichen Winkel schaffen sowie mehrere Videotafeln hinter die Kulissen blicken lassen, die im Anschluss in den Kammerspielen warten: nämlich als perfekt ausgestattete Küche mit allen Schikanen. Mehr konkreter Lebensraum geht kaum, doch wohnt darin das Abstrakte einer Installation.
Fürchtet Euch nicht!
Für den Simons-Stil behauptet das Artifizielle mehr Realismus als Abbildung von Wirklichkeit es vermag. Das dritte Bild (wieder zurück im Schauspielhaus) trifft uns dann mit voller Wucht: das Interieur zusammengeräumt, der Boden schneebedeckt. Eine Walstatt der Getriebenen und Gefallenen. Gethsemane im russischen Winter. Ivan und der Teufel vereinen sich zum intimen Privatissimum, das auch dank Elsie de Brauws Madame Luzifer als Grande Illusion der Möglichkeiten schillert.
Diese "Karamasow"-Inszenierung hält ihre Gewichte aus, bis sie schweben. Johan Simons und sein wunderbares Ensemble, das in jeder einzelnen Position das zweite Gesicht hat, Tiefen ausforscht und Dostojewskijs Existenzspiel der Fragen beatmet und belebt, gestattet sich nichts Laues. Das "Alles ist erlaubt", mit dem der Teufel zuletzt sein Gesetz definiert, es gilt nicht. In Gottes Namen nicht. Aljoschas Frohe Botschaft hingegen lautet "Fürchtet Euch nicht vor dem Leben."
Die Brüder Karamasow
von Fjodor Dostojewskij
Textfassung von Angela Obst nach der Übersetzung von Swetlana Geier
Regie: Johan Simons, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüm: Katrin Aschendorf, Lichtdesign: Bernd Felder, Musik Victor IJdens, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Pierre Bokma, Jele Brückner, Konstantin Bühler, Elsie de Brauw, Danai Chatzipetrou, Dominik Dos-Reis, Victor IJdens, Oliver Möller, Anne Rietmeijer, Steven Scharf, Mina Skrövset/Davin Cakmak.
Premiere am 14. Oktober 2023
Dauer: 7 Stunden, 2 Pausen - inklusive Dinner
www.schauspielhaus-bochum.de
Kritikenrundschau
"Erleichtert" stelle man fest, dass Johan Simons diesmal "kein hartes Theaterbrot in abstrakter Form serviert", freut sich Sven Westernströer in der WAZ (16.10.2023). Die Inszenierung wirke "ungemein zugänglich, fast schon altmodisch", und nehme sich "eine Menge Zeit für jede einzelne der elf Figuren". Bisweilen verharre die Szenerie "minutenlang in einem zauberhaften Dämmerschlaf". Vor allem der zweite Teil biete "ein präzise gespieltes und bestens gebautes Kammerspiel", lediglich der Schluss habe "einige Längen".
Es sei eine "extrem fordernde, buchstäbliche Reise in die Nacht", so Tom Thelen in den Ruhr Nachrichten (16.10.2023). Dies aber liefere "grandiose Bilder, herausragendes Sprechtheater (ohne Micro-Ports) und intellektuelle Herausforderungen im Dauerfeuermodus". Zu erleben seien "ausgespielte Konstellationen, die den Dostojewski in Bochum fast schon zum Tschechow machen". Es sei, "eine Erfahrung, die in der Erinnerung wächst".
Ein "megalomanes" und "maßloses" Projekt, einen "theatralischen Kraftakt", hat Hubert Spiegel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (16.10.2023) gesehen. Es sei ein Abend, der "nicht nur unter die Zuschauerhaut", sondern "bis in den letzten Winkel des Bochumer Schauspielhauses" krieche, allerdings auch mit "mancher Länge" und "etlichen dramaturgischen Sprüngen" geschlagen sei.
"Beliebigkeit" sei der Eindruck, den diese einschließlich aller Pausen siebenstündige Dostojewskij-Inszenierung hinterlasse, so Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (15.10.2023). "Nie" werde klar, "ob die Menschen, die hier so ausführlich über die Unmöglichkeit der Existenz Gottes reden, (...) ob diese Menschen also einfach dem Spott des Publikums ausgesetzt werden oder tatsächlich irgendeine Art von Mitgefühl erregen sollen?" Am "plausibelsten" unter den drei Bürdern findet der Kritiker Steven Scharfs Iwan: Dessen "Zweifel an sich und Gott, sein Zögern und Zaudern, selbst sein effizient eingehegter Hang zum outrierten Albern" würden "der komplexten Figur am ehesten gerecht". Darüber hinaus aber verliere sich die Produktion "in Details, in bedeutungsschwangeren und inhaltsleeren Längen, in schrillen und willkürlichen Tonartwechseln, in ästhetischem und hypertrophem Selbstzweck".
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Liebe*r Theaterfan,
vielen Dank! Angela Obst ist als Dramaturgin und Verfasserin ganz oben im Besetzungskasten genannt - ebenso wie Swetlana Geier, auf deren Übersetzung die Fassung beruht.
Herzliche Grüsse aus der Redaktion