Peer Gynt - Schauspielhaus Bochum
Das Kind in ihm und ihr
von Andreas Wilink
Bochum, 24. April 2021.Peer! Was für ein Peer? So könnte er aussehen. Ein widerspenstig-wirrer blonder Lockenkopf mit weit geöffneten Kulleraugen, dessen Gestalt im Nirgendwo schwebt. Dieser grob skizzierte Peer Gynt würde von Paul Klee stammen. Müsste man in diesen Tagen Ibsens Maulhelden, Weltenbummler, Teufelskerl, Glücksspieler und schließlich Heimkehrer in den Schoß der mütterlichen Frau nicht von Walter Benjamins "Angelus Novus" her verstehen, der seine Figur in der Zeichnung von Paul Klee vorgebildet fand? Ibsens Held als Prototyp des männlichen Projekts Egomanie, Machtstreben und Rücksichtslosigkeit wird bei der Streaming-Premiere im Schauspielhaus Bochum von einer Frau, der Schauspielerin Anna Drexler, verkörpert. Kein Widerspruch und keine Betonung des geschlechtlichen Prinzips durch sein Gegenteil. Das – etwa im Ausprobieren und Präsentieren viriler Haltungen aus der Differenz – tut hier wenig zur Sache.
Eine*r fürs Greta-Thunberg-Zeitalter
Die Frage, ob 'man' vergessen machen soll oder kann, wer gewissermaßen hinter der Maske steckt, oder ob wir die Zeichen der Persönlichkeit und des Charakters neu zu lesen lernen mit der Textur des 'anderen' Körpers, diese Frage streicht Anna Drexler einfach durch. Es kümmert sie nicht. Sie tut’s einfach. Auch mit der Ich-Problematik und Identitätsübersteigerung fangen Regisseur Dušan David Pařízek und seine Hauptdarstellerin wenig an. Was jedoch haben Mann und Frau gemeinsam? Das Kind-Sein bzw. Kind-gewesen-Sein. "Wer bist Du? – Ich selbst", fragt Peer / Drexler und beantwortet es sich im Kampf mit sich selbst auf der leeren Spielfläche, die die Bildregie wie eine Hochhausfassade steil vor uns aufrichtet.
Der Bochumer Norweger Peer Gynt ist einer für das schwedische Greta Thunberg-Zeitalter: eine Kinderladen-Veranstaltung eifernder, unartiger, rührend junger und noch mehr ihre Jugend kultivierender, jede erwachsene Großmacht mit einem "Fuck the System" aushebelnder Antiautoritäten, eingekuschelt im Kapuzenshirt wie in dem Wohlgefühl zu heilender Welt, während die Musiker-Sänger-Darsteller raunen, rocken, rappen (auch mal mit einem Faust-Gretchen-Zitat), es mit düsterer Pop-Poesie swingen und hallen lassen.
Emanzipation der anderen Figuren
Das Purzelbaum schlagende Energiebündel Anna Drexler – zunächst in weißem Sweatshirt, schwarzen Hotpants und Netzstrümpfen – schreit mit dem (hinzugefügten) Anfangsmonolog Anspruch, Notwendigkeit und Qual des Alleinseins heraus. Und setzt im zweiten Teil virtuos als Moneymaker über alle Monopoly-Felder zugleich und die Intellektuellen-Brille immerhin, jedoch höchstens als Requisit auf. Die Ich-Krisen in Ibsens Episoden-Reigen und der welthaltige Prozess des Ich-Zerfalls schwinden hier gegenüber der vordringlichen Programmatik: entertaining Peer, auch mal als Lachnummer auf Rheinisch (mit Konstantin Bühler als Sparring-Partner). Das Empfinden der "Solitude" wird an Song-Nummern delegiert.
Das Siebener-Ensemble spielt lässig und smart aus der Hüfte heraus, alles Sagenhafte wie das Troll-Unwesen ins Theater-Reich von Gestern abschiebend und statt dessen gründlich Gegenwart und radikale Kunst-Realität behauptend. In der ist die Solveig (Anne Rietmeijer) nichts weniger als ein wartendes Kammerkätzchen, sondern stattdessen eine emanzipiert Autonome, die Edvard Griegs Lied-Romantik hinwegjault und sich in Versen von der eigenen Rolle los- und freispricht (was aber auch eine Art von Kapitulation ist). Und die "Stimme Afrikas" (Mercy Dorcas Otieno) verklagt die 500-jährige europäische Kolonialgeschichte, somit auch den weißen alten Mann Peer, und verkündet das "rising up" des Kontinents.
Keine Rettung
Zeit ist immer Frist. Das spürt auch Peer. Das letzte Viertel, Peers Schuld- und Schiffs-Heimkehr und die Begegnung mit dem Knopfgießer (Konstantin Bühler), erlaubt sich das Allegorische als Auftritt zweier Existential-Clowns im Trenchcoat, wobei Anna Drexler störrisch auf ihrer Spiellust beharrt. Und weil Goethes "Faust" schon durch die Aufführung spukt, lässt sich sagen: Anders als Gretchen im Kerker ist dieser Peer nicht gerettet, sondern gerichtet.
Was Schiller den "Vorstellungstrieb" nennt – also: Worauf läuft es hinaus mit uns, auf welchen Sinn hin wappnen wir uns für das Leben? –, dieses Triebgeschehen bleibt in Bochum seltsam ausgespart.
Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüm: Kamila Polívková (Mitarbeit Mara Zechendorff), Musik: Peter Fasching, Lichtdesign: Bernd Kühne, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Konstantin Bühler, William Cooper, Anna Drexler, Michael Lippold, Lukas von der Lühe, Mercy Dorcas Otieno, Anne Rietmeijer.
Premiere am 24. April 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.schauspielhausbochum.de
"Die Welt soll hier nicht mehr einfach nur die Folie für die scheiternde Selbsterkundung eines weißen Mannes namens Peer Gynt sein", sagt Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (25.4.2021). "Ebenso wenig will Regisseur Dušan David Pařízek sein Ensemble für die Erkundung der Ibsenschen Figurenentwicklungen benutzen.“ Peer müsse sich hier nicht, weil er sich gegen die kritische Selbsterkenntnis wehrt, auf eine vergebliche Suche quer durch die äußere Welt machen. "Das alles hier ist pure Spielfreude, ohne eine metaphysische Wolke."
Anna Drexler "spielt die verschiedenen Peers mit Lust und Verve, nie kabarettistisch, kann altern und toben, überhaupt tobt sie eigentlich recht viel und bleibt doch meist sehr bei sich", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (26.4.2021). Das sei beeindruckend zu verfolgen, und doch funktioniere die Inszenierung insgesamt nicht so richtig, denn sie sei "nicht fürs Digitale erdacht". "Alle sind sehr unternehmungslustig, treffen durchaus einen Kern von Ibsens Polystilistik, doch bleibt das Ergebnis löchrig, fahrig."
"Das Spiel um den Sinnsucher Peer zwischen Troll-Land und afrikanischer Wüste hält über zwei Stunden die Spannung hoch, setzt zeit- und bühnenkritische Akzente und rüttelt den Klassiker musikalisch durch. Auch lebt der Abend von einer Top-Leistung Anna Drexlers, die in der Titelrolle ein Schau ist", schreibt Jürgen Boebers-Süßmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (26.4.2021).
"Weltliteratur, wie sie heute neu auflebt", jubelt Margarete Affenzeller vom Wiener Standard (27.4.2021). Pařízek empowert die klein gehaltenen Rollen, und, so Affenzeller, Bildschirm bleib zwar Bildschirm, "doch das mit bis zu sieben Kameras übertragene Livespiel samt dem nachfolgenden Publikumsgespräch rückt näher an gewohnte Theatererlebnisse heran als so manch anderes."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 18. September 2024 Ehemaliger Mainzer Intendant Peter Brenner gestorben
- 17. September 2024 Therese-Giehse-Preis für David Ruland
- 16. September 2024 Friedrich-Luft-Preis für "The Silence" von Falk Richter
- 16. September 2024 Martin-Linzer-Preis an Schlosstheater Moers
- 13. September 2024 Staatstheater Kassel: Geschäftsführer freigestellt
- 13. September 2024 Salzburg: Nuran David Calis wird Schauspieldirektor
- 12. September 2024 Heidelberg: Intendant Holger Schultze hört 2026 auf
- 12. September 2024 Auswahl des "Augenblick mal"-Festivals 2025 in Berlin
neueste kommentare >
-
Kleiner Mann, was nun?, Berlin Theatrale Wohltat
-
Therese-Giehse-Preis Glückwunsch
-
Kassler GF freigestellt Unverständnis
-
Therese-Giehse-Preis Unabhängig
-
Kassler GF freigestellt Obelix
-
Appell Fonds DaKü Dank!
-
Therese-Giehse-Preis 2024 nochmal gefragt
-
Therese-Giehse-Preis 2024 In der Nominierungs-Jury?
-
Blue Skies, Hamburg Theater und Wirklichkeit
-
Empusion, Lausitz Zweisprachige Ortsschilder
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Komplette Kritik; https://daskulturblog.com/2021/04/24/peer-gynt-schauspielhaus-bochum-live-stream-kritik/
Die Besetzung des tragischen Helden mit einer jungen Frau macht in seiner Verfremdung deutlich, dass Ibsen mit Peer Gynt ein Identitätsmuster des „weißen Mannes“ in seiner Geschichte zeigt, die als Unterwerfung- und Kolonialgeschichte der Machthaber Europas gelesen werden kann. Wenn der Nachtkritiker Andres Wilink von Anna Drexlers Darstellung des Peer schreibt: „Ein widerspenstig-wirrer blonder Lockenkopf mit weit geöffneten Kulleraugen, dessen Gestalt im Nirgendwo schwebt“, verharmlost er. Weder hat Anna Drexler als junger Peer Locken, noch macht diese Inszenierung aus Peer eine romantisierte Gestalt „im Nirgendwo“. Die Bochumer Inszenierung setzt Peer Gynt in die Gesellschaft und konkrete Unterdrückungsgeschichte.
In dieser Lesart ist es konsequent und dennoch originell, dass die von Peer zurückgelassene Solveig von Anne Rietmeijer mit dem von ihr neu geschriebenen Text als eine Frau gespielt wird, die anders als bei Ibsens Solveig ihre „Nora“ gelesen hat. So wie sie den vor seiner Weltreise noch besitzlosen Peer zu einer anderen Erotik und Liebesgeschichte einlädt, konfrontiert sie ihn auch als tragischen Rückkehrer, der viel Geld mit anderer Menschen Opfer gemacht hat, damit, dass er in seinem Leben eine Liebesgeschichte ausgeschlagen hat, die er mit ihr hätte leben können. So nimmt sie Partei für ein anderes Leben und entlastet Peer von dem Urteil des Knopfgießers gegen Peer nicht.