Zerrupft und wieder heil gemacht

16. März 2024. Ein Unfall hat eine Mutter mitten aus dem Leben gerissen. Zurück bleiben ihr Ehemann, die Kinder, das Trauma. Bis eine wundersame Krähe in die kaputte Familie hereinflattert und Heilung verspricht. Christopher Rüping vollendet in Bochum seine vielbeachtete Familientrilogie.

Von Andreas Wilink

Christopher Rüping zeigt "Trauer ist das Ding mit Federn" von Max Porter in Bochum © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

16. März 2024. Sie lässt auf sich warten, aber hat dann einen spektakulären Auftritt, als sei sie mindestens ein Angel in America, sich nähernd aus Nacht und Nebel, während das Requiem hallt. Anna Drexler ist die Krähe im Federkleid, supercoole Schlaumeierin, Late Night-Queen, Underground-Röhre, pompös herrische Varieté-Attraktion und Leder-Amazone und nebenbei auch Regie-Stellvertreterin auf dem performativen Spielplatz, Kampfplatz und Dekonstruktion-Tummelplatz.

"Komm großer schwarzer Vogel" heißt ein Lied des Österreichers Ludwig Hirsch, eine zum Sterben schöne Hymne, deren himmelwärts steigende Noten den Sänger ins Jenseits tragen auf den Fittichen des leitenden Totenvogels. Der Vogel im Gefieder der Krähe hingegen, der in eine Londoner Dreizimmerwohnung stürmt, ist ein Trauervogel um des Lebens willen. Er nistet sich ein bei Dad, einem Schriftsteller und nunmehr Witwer, und seinen Zwillingen, nunmehr Halbwaisen. Die Krähe, deren Diagnose für das Familien-Trio "Akute, Trauma-induzierte Funktionsstörung" lautet, bringt Heilung mit, was nicht bedeutet, dass es ohne rabiate Rosskur abginge. Trauer um einen Verlust ist ein schmerzliches Langzeitprojekt.

Ein Trauervogel als Haustier

Der mit Ted Hughes' "Crow" aus dessen Poemen verwandte Seelenvogel ist ein theoriebewanderter konkreter Poet und mythenalter Klugscheißer: "Ich war Freund, Vorwand, Deus ex Machina, Scherz, Symptom, Erfindung, Schrecken, Krücke, Spielzeug, Phantom, Gag, Analytiker, Babysitter", heißt es bei Max Porter. Dad denkt bei dem neuen Haustier, das in einer abgehackten, Tourette-haften, ungeniert flapsigen Suada spricht, nach über das Wechselspiel von "Natur- und Kulturwesen" und vergleicht es mit dem Wandel "zwischen Trauer und Leben".

Poetische Krähe im Anflug: Szene mit Risto Kübar, Alexander Wertmann und Jing Xiang © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Christopher Rüping schließt in Bochum seine Familien-Trilogie ab, die 2020 in Zürich begann mit Einfach das Ende der Welt und sich fortsetzte am Thalia Theater mit Brüste und Eier. Zwei der drei Stoffe sind Roman-Adaptionen: von Jean-Luc Lagarce, Mieko Kawakami und Max Porter. "Trauer ist das Ding mit Federn" – als Roman doch mehr essayistische und aphoristische Erzählung – lässt viel Spielraum, was ein Vorteil fürs Theater sein mag. Statt das gesammelte Etwas zusammenzufügen, zerrupft Rüping den literarischen Organismus gewissermaßen.

Auswege aus dem Bannkreis der Familie

Familienbande – Unauflösliches, wer löst es? Die Frage stellt sich für Eltern und Kinder, einen verlorenen Sohn, eine ungewollte Tochter, für erwachsene Geschwister, für zwei traurige Jungs, wie in den drei Vorlagen. Welchen Ausweg gibt es aus dem Bannkreis Familie, falls man nicht annimmt, dass sie etwas wie Erbsünde ist? Eine Antwort könnte sein: die Ästhetisierung der Existenz, etwas, das auch schon Oscar Wilde beschäftigt hatte, der das self fashioning proklamiert und gelebt hat. Die Erfindung der Krähe und das fantastische (bei Porter etwas redundante) Ausschmücken ihrer Tatsächlichkeit bildet ein – künstlerisches – Modell, um Leiden zu verarbeiten, zu gestalten.

Trauer ist das Ding mit Federn 4 CJoerg Brueggemann Ostkreuz uRosskur der Traumabewältigung: mit Anne Rietmeijer und Anna Drexler © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Bei Rüping ist dabei die Videokamera das unvermeidliche Instrument. Wenn sie das Gesicht der Schauspieler*innen oder ihre körperlichen Einzelteile erfasst, hat das etwas von Misstrauen in die Wirkmacht der Bühnen-Darstellung, in das Augenmerk der Zuschauenden und besonders in den festen Umriss des Individuums, als sei Identität vorrangig ein Diskursproblem und Auflösungs-Phänomen. Damit korrespondiert das Heraustreten aus Rolle und Figur, wenn Drexlers Krähe etwa die Kinder-Interpret*innen auf ihren realen Schauspieler-Status anspricht oder in Improvisationen das Publikum kommunikativ traktiert.

Tod hin oder her, die Inszenierung sagt nicht 'Scherz beiseite'. Im Gegenteil. Drexlers Krähe führt die drei Anderen im Doppelsinn vor, so dass die Geschwister (Alexander Wertmann, Jing Xiang) blass aussehen, sogar in den Szenen, wenn Krähe ihnen abverlangt, sich an Gesten, Sätze, Attitüden und Gewohnheiten der Verstorbenen zu erinnern; nicht anders ergeht es Dad, den Risto Kübar eindringlich sanft spielt, als würde er seine Texte wie seltenes Erz aus der Tiefe fördern.

Vom Splatter zur Totenmesse

Schwarze Löcher im dramatischen Aufbau des Abends markieren die Abgrundtiefe von Trauer. Oder sie enthüllen deren mögliche Exaltiertheit. Es artet in wilden Exorzismus aus, wenn Dad einer Ersatzfrau, die als Phantom der toten Ehefrau (Anne Rietmeijer) erscheint, sexuell zu Leibe rückt. Krähe gerät in Rage und verwandelt sich für ein Schlachtfest in einen Splattermovie-Killer und Kotzbrocken, der eine Tortenschlacht, ein Monsterduell, eine Vernichtungsorgie ("Dies irae") anrichtet, um das der Trauer auch innewohnende schöne Wehleid auszuweiden.

Rüping ist bei all dem ein Theatraliker der Form als Verformung in einer manchmal koketten, manchmal penetranten, manchmal blödelnden Aktion produktiver Zerstörung. Seine genaue Exegese des Buches zersetzt dessen exzentrische Therapie in ein krasseres Konstrukt.

Krähe verabschiedet sich und fliegt ins Imaginäre. Alles ist vollendet. In Bochum weht uns am Ende, nachdem Anne Rietmeijer ganz zart, leise und rein das Ritual des Abschieds vorgetragen hat, ein Sturm vom irdischen Paradiese an: ein Ascheregen aus Federn. Das großartig emotionale Bild stiftet die Versöhnung mit Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem und wird insofern der Aufführung gerecht, als seine Totenmesse Fragment geblieben ist.

 

Trauer ist das Ding mit Federn
nach Max Porter
Aus dem Englischen von Matthias Göritz und Uda Strätling
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Peter Baur, Kostüm: Lene Schwind, Licht: Bernd Felder, Musik: Jonas Holle, Videodesign: Jasmin Kruezi, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Anna Drexler, Risto Kübar, Anne Rietmeijer, Alexander Wertmann, Jing Xiang.
Premiere am 15. März 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

Einen "Theaterabend, der einem nicht selten die Kehle zuschnürt" hat Sven Westernströer für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (18.3.2024) gesehen. Christopher Rüping zeige "großes Vertrauen auf die Wucht des Wortes" und finde "atemberaubende Bilder, die noch lange im Kopf bleiben". Seine Inszenierung lebe "entschieden von der Persönlichkeit ihrer Darsteller. Er nimmt sich Zeit, um die Figuren zu formen, ihnen mit der Kamera tief ins Gesicht zu blicken und die todtraurige Geschichte in aller Seelenruhe auszubreiten".

Von "einem intensiven Theatererlebnis" berichtet Ronny von Wangenheim in den Ruhr Nachrichten (18.3.2024). Er hebt insbesondere die schauspielerischen Leistungen hervor. "Viele der Zuschauer wird das Stück berühren, auch weil sie selbst Trauer erlebt haben oder mit ihr leben."

Von einem "klugen und berührenden romantischen Trauerspiel" schreibt Detlev Baur für Deutsche Bühne online (16.3.2024) und hebt in dem "starken Ensemble" insbesondere die Kinderdarsteller hervor. Die Inszenierung sei "bei aller Bitternis und strengen Traurigkeit ein fröhliches Unterfangen".

Mit dem "erstaunlich kitschigen Schlussbild" ende eine Produktion, die zwei Stunden lang derart peinlich darauf bedacht gewesen sei, "nicht gefühlig zu werden, dass sie fast alle Gefühle im Keim erstickt", urteilt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (19.3.2024). Der Abend sei von einem "permanenten Vexierspiel zwischen innerfiktionalem Erzählen und einem in gut eingeübter Schnoddrigkeit die vierte Wand durchbrechenden Dialogisieren" geprägt. Dass die Krähe die Manifestation der Psyche des trauernden Vaters sei und im Roman zur Betreuerin der Familie, und Analytikerin ihrer Trauer werde, erfahre man in Rüpings Inszenierung nicht so richtig.

Von einem gleichermaßen wilden wie "berührenden" Abend berichtet ein sichtlich angetaner Stefan Keim in der Sendung Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (15.3.24). Christopher Rüping finde für das schwierige Thema "krasse und ungewöhnliche Bilder", die einen immer wieder überraschten, gleichermaßen"hochkünstlerisch" seien und eine"große Publikumsnähe" hätten.

„Christopher Rüping gelingt die Balance aus Theaterfeuerwerk und Stille, die anrührende Annäherung an ein existenzielles Thema", findet Dorothea Marcus im Deutschlandfunk (16.3.24). Ihr Fazit: "Ein großer, menschlicher Abend."

Rüpings Inszenierung berühre auf vielen Ebenen, schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (19.3.24, €)), nämlich "als große Sprechkunst ebenso wie im Arrangement prägnanter Bilder, mit schwungvollen Choreografien und mit durchdachtem Medieneinsatz. Der Kritiker berichtet von großem Beifall "für ein philosophisches Märchen voller Poesie und Witz".

Christopher Rüping folge in gewohnter Weise seiner Intuition einer naiven Szenenführung, schreibt Simon Strauß in der FAZ (22.3.2024). "Statt viel Zeit mit Dramaturgie und Metaphernsuche zu verlieren, schafft er eine möglichst unproblematische Bühnensituation, in der sich seine Spielerinnen und Spieler unbeschwert bewegen und frei ausdrücken können. Wie immer wirkt das phasenweise allzu frei – ein absurd unmotiviertes Splatter-Intermezzo lässt daran zweifeln, ob die dafür konzeptuell Verantwortlichen noch alle Tassen im Schrank haben –, aber phasenweise eben auch auf energische Weise unverkopft."

Kommentare  
Trauer ist das Ding ..., Bochum: Romane und ein Stück
Eine schlecht recherchierte Kritik. Christopher Rüpings Familien-Trilogie beruht nicht ausschließlich auf Romanen, wie Andreas Wilink behauptet: "Einfach das Ende der Welt" von Jean-Luc Lagarce ist kein Roman, sondern ein Theaterstück, das später auch verfilmt wurde!

(Anm. Redaktion: Sie haben vollkommen Recht. Die entsprechende Stelle wurde berichtigt. Vielen Dank für den Hinweis! Christian Rakow / Redaktion)
Trauer ist das Ding..., Bochum: Herzzerreißend
Dieses Theaterstück ist ein großes Gefühlskino mit gutem Humor. Ich habe so lange nicht mehr gelacht und geweint und wieder gelacht wie an diesem Abend. Innerhalb von 2 Stunden.
Trauer ist das Ding ..., Bochum: Wie bei Bruckner
Ein wenig wie das Ende einer Bruckner-Symphonie endet die Inszenierung gleich mehrmals, denn nach einer als Ende empfundenen Szene kommt noch eine … aber es gelingt der Inszenierung Trauer und Abschied schöne melancholische (nicht sentimentale) Bilder zu geben … die Idee mit Vogel und Cremetube: sehr amüsant, toll-trauriger Einfall … Nach „Einfach das Ende der Welt“ (na gut: die beliebig geratene, unfokusierte „Brüste und Eier“ einfach überspringen) wieder eine Inszenierung mit „Herz“ … kommt Minetti deshalb vor, weil wir in Bochum …? Überflüssig, zumindest reagiert keiner … einige Szenenübergänge sind holprig, wirken, als wären sie zusammengeklebt … aber das stört weniger, da die Aufmerksamkeit dauerhaft erhalten bleibt (was behandelt wird, betrifft uns alle).
Trauer ist das Ding ..., Bochum: Geschlechterrollen
Ohne, dass mit einem Wort, einer Geste, einem Bild diese Thematik umkreist wird, herrscht in dieser ohnehin grossartigen Inszenierung ein so wunderbar mehrdimensional gelebtes Verständnis von Geschlechterrollen. Wenn in irgeneinem staubigen Diskursraum mal wieder die Luft ausgeht vor lauter Schnappatmung, könnte man sich in diese Inszenierung setzen und sich vom starken Ensemble in einen herzlich umarmenden Kampf zerren lassen.
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