Kerker der Konstrukte

10. September 2023. Fausts Gretchen – das "Fantasieprodukt eines privilegierten cis-Mannes aus dem 18. Jahrhundert"? Die Autorin Fatma Aydemir, bekannt für den fein sezierenden Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, hat einen "Faust"-Remix mit viel Aberwitz geschrieben. Die Essener Ko-Intendantin Selen Kara inszeniert ihn kongenial.

Von Dorothea Marcus

"Doktormutter Faust" von Fatma Aydemir, in der Regie von Selen Kara am Schauspiel Essen © Birgit Hupfeld

10. September 2023. Auf der Bühne im großen Haus, als Hologramm auf Gazevorhang, treibt ein Mensch, dreht sich in einer dunklen Flüssigkeit: Ursuppe, Fruchtwasser, der Ursprung von allem. Immer größer wird er – ist es Mann oder Frau? Kind oder erwachsen? Wer oder was steht hier überhaupt am Ursprung? Faustische Fragen.

Faust? Dein Ernst?

Und dann hebt sich die Wand, und der Blick auf die Bühne wird frei, auch hier wabert der Kunsteisnebel, aus dem drei Figuren kriechen, gekleidet wie drei Gothic Punks mit Netzhemden, weißen Langhaarperücken, glänzend schwarzen oder Netz-Oberteilen. Es sind Theaterdirektor, Theaterdichter und lustige Person, ganz so wie bei Goethes "Vorspiel auf dem Theater", dem Prolog zum Faust, den die Autorin Fatma Aydemir hier zu überschreiben angetreten ist. Faust? Dein Ernst, ruft die Theaterdirektorin, und klar, nichts ist deutscher und passender für eben jenes "Neue Deutsche Theater", das die zwei neuen Intendantinnen Christina Zintl und Selen Kara von Essen – einer Stadt, die wie kaum eine divers und gespalten ist zwischen Klassen, Welten und Milieus – jetzt machen wollen. Auch wenn sie charmant ein "under construction" hinzugefügt haben. Und klar, welcher deutscher Klassiker ist nicht frauenfeindlich, da kann man auch die Geschichte vom armen Gretchen und dem alten weißen Mann wieder ausgraben: "Seit 200 Jahren strömen die Deutschen ins Theater, um sich daran aufzugeilen, wie das arme Flittchen zugrunde geht", ruft die Theaterdirektorin.

Sie ist eine "Schwester", protestiert die lustige Person – und dennoch will die Dichterin jenes "Fantasieprodukt eines privilegierten cis-Mannes aus dem 18. Jahrhunderts" lieber weglassen: "Gretchen ist eine Figur, die ich abschaffen muss, damit wir alle frei sind". Spannend ist dieser Schlagabtausch zu Beginn, weil er daherkommt wie ein innerer Arbeitsmonolog der Autorin Fatma Aydemir, passend dazu ist die Dichterin (Beritan Balci), faustisch eingerahmt von zwei streitenden Stimmen: die "lustige Person", genderfluid kajalgeschminkt (Nicolas Fethi Türksever, der später zum Mephisto wird), übernimmt die pragmatisch-verspielte Schauspielerperspektive, die Theaterdirektorin (Silvia Weiskopf) die der strengen, machtkritischen Feministin – nicht durch Zufall sieht sie aus wie ein Zwilling der Dichterin.

Faustisches Hokuspokus: Silvia Weiskopf (Hexe 1), Nicolas Fethi Türksever (Mephisto) Beritan Balcı (Hexe 2) und Bettina Engelhardt (Margarete Faust) © Birgit Hupfeld

In größter Lässigkeit handeln sie da die Identitäts- und Machtdiskurse der Gegenwart ab, die alle tief im Faust-Drama stecken – in aller Uneindeutigkeit. Denn Gut und Böse, Schwarz und Weiß gibt es nicht, sind religiöse Konstrukte des Machterhalts. Gibt es dann aber Grauzonen zwischen Verführung und Vergewaltigung? Was bedeutet Macht in asymmetrischen Beziehungen? Müssen arme weiße Mädchen gerettet werden? Gibt es auch Täter und Opfer in einer Person? Am Ende verspricht die Dichterin dann, Gretchen doch in ihrer Auftragsarbeit für das Schauspiel Essen drin zu lassen, allerdings nicht so ohne weiteres erkennbar. Cut. Und dann beginnt das lustige Raten – und ein Abend, kongenial inszeniert von Ko-Intendantin Selen Kara, der auf spannende Weise die Bauelemente des Faust isoliert, verfremdet, ganz neu zusammensetzt. 

Und da bewegt er sie zum Pakt

Auf der Drehbühne erscheint: Margarete Faust, Professorin für Gender Studies. Ihre Doktorandin "Valeria", eine Wiedergängerin von Gretchens Bruder Valentin, liest ihr die neuesten Hassmails vor. Die Professorin hat einer Studentin die Fahrt zum Abtreibungsarzt finanziert, wird nun als Kindsmörderin, Feminazi, Babykillerin beschimpft und vom Dekan mit Entlassung bedroht. Da kommt Mephisto zur Abwechslung ganz recht, auch wenn sie ihn zunächst für einen Abtreibungsgegner hält – ein intellektueller Sparring-Partner mit Erotik-Appeal. Und auch, wenn ihn Bettina Engelhardt als Professorin und "strenge Denkerin" im kobaltblauen Anzug zunächst tough abtropfen lässt, nimmt man ihr irgendwann doch ab, dass sie sich beim ganzen Stress nach etwas emotionaler Entspannung sehnt. Sehr menschlich spielt Bettina Engelhardt die rationale Professorin, in die sie immer wieder glaubhaft auch ihre sanften, sympathischen und sehnsüchtigen Seiten einfließen lässt. Verlieben wäre schön – und da hat er sie zum Pakt bewegt, es britzelt elektrisch an der Decke, die beiden tanzen einen kurzen Walzer, ein augapfelartiges Gebilde wölbt sich als über dem Bühnenhimmel, in den die allzumenschlichen Begierden hineinprojiziert werden: ein feuchter, pulsierender Granatapfel. Oder ein junger, dunkelhaariger Mann mit nacktem Oberkörper. Und da kommt er auch schon herein, Karim (Eren Kavukoğlu), der sexy Student, von Abschiebung bedroht, braucht eine Doktormutter.

Sie treiben durch den Kunsteisnebel

Beeindruckend, wie sich hier die moralischen Grenzen der kühlen Wissenschaftlerin verschieben: Um ihm nahe und immer näher zu sein, nimmt sie ihn vermeintlich als Doktorand auf – auch wenn ihre Entlassung kurz bevorsteht. Was für ein Machtgefälle. Oder wer ist hier das Opfer? Wer hat hier wen benutzt? Die alternde Frau, die um Beachtung kämpft? Der junge Mann, den sie belügt und in Gefahr bringt – der sie am Ende aber denunziert und ins Gefängnis bringt? Und ist nicht letztlich doch manches erlaubt im Namen der Liebe? Eine sinnliche Walpurgisnacht lang, mit wollüstigem Trance-Techno grundiert, scheint alles gut zu sein. Mit seligem Lächeln und nackter Brust schaukelt die Professorin in der Ursuppe, abwechselnd mit Karim, es haucht und atmet, nackt, seufzend und singend treiben die Schauspieler durch den Kunsteisnebel der Lüste. Schön ist das gemacht und könnte besser jene Grauzonen nicht ausdrücken, die hier verhandelt werden.

05 doktormutter faust 20230905 0046 hupfeld birgitWas für ein Machtgefälle? Bettina Engelhardt (Margarete Faust) und Nicolas Fethi Türksever (Mephisto) © Birgit Hupfeld

Doch das Erwachen ist hart, und am Ende gibt es sogar noch eine Schwangerschaft. Alles soll an dieser Stelle nicht verraten werden von diesem aberwitzigen Remix der Faust-Bausteine, der Autorin Aydemir hier gelingt, und die sie so sinnfällig auf heutige Verhältnisse abklopft. Das Stück ist ein großer Wurf, die Inszenierung steht ihm nicht nach: Mit leichter Hand legt dieser Abend die Absurdität der Diskurse frei, so dass oft lautes Lachen im Zuschauersaal ausbricht. Gleichzeitig nimmt er die verhandelten Konflikte jeder Figur wohltuend ernst, beleuchtet sie in ihren psychologischen Konsequenzen. Am Ende bleibt die Doktormutter Faust in ihrem Kerker sitzen – und erhebt sich trotzdem über ihn. Es sind eben alles nur Konstrukte.

 

Doktormutter Faust
von Fatma Aydemir
Frei nach Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Selen Kara, Bühne: Lydia Merkel, Kostüme: Anna Maria Schories, Musik: Torsten Kindermann, Ruben Philipp, Video: Florian Schaumberger, Dramaturgie: Margrit Sengebusch.
Mit: Bettina Engelhardt, Nicolas Fethi Türksever, Eren Kavukoğlu, Silvia Weiskopf, Beritan Balci.
Premiere am 9. September 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-essen.de

Kritikenrundschau

Es sei zunächst mal "toll, dass so eine Spielzeit mutig beginnt", meint Christoph Ohrem auf Deutschlandfunk Kultur (9.9.2023) und Goethe vom Sockel stoße. Das Stück ist für ihn ein "wirklich guter Theatertext", der funktioniere. Regisseurin Selen Kara vertraue dem Text. Man könne das Ensemble an diesem Abend kennenlernen, es entstehe gutes "Figurentheater", meint der Kritiker. Etwas "spröde" fand er allerdings Selen Karas Ansatz, die Figuren gegen Ende hin statisch auf der Bühne zu positionieren. Da fehle Dynamik. Ansonsten funktioniere das Ausspielen des Textes, der von feministischen Theorien geprägt sei, gut. "Ein wenig überladen" sei diese Überschreibung allerdings auch. "Wirklich sinnliches Theater ist das – noch – nicht", so der Kritiker.

Dass Selen Kara als neue Schauspieldirektorin in Essen mit "Doktormutter Faust" eröffnet, ist "ein geschickter Move und ein Statement", schreibt Eva Behrendt in der taz (11.9.2023). Mit "Neues deutsches Theater – under construction" habe das Leitungsduo Kara/Zintl seine erste Spielzeit überschrieben "und geht damit noch einen Schritt weiter als das 'postmigrantische Theater' der 2010er Jahre: Diversität ist hier selbstverständlich, der Umgang mit dem Kanon und der Institution Stadttheater aber eben auch", so Behrendt. "Sehr solide" wirke denn auch Karas Regie, "die sich ganz aufs Schauspiel konzentriert und nur gelegentlich auf einem runden Screen über der Bühne mit Videos von Granatapfelkernen und nackten Körpern in dunklen Wassern eine etwas abgegriffene Sinnlichkeit behauptet".

"Der Abend bleibt mit Bezügen von #metoo über Abtreibungsthematik und politischen Rechtsruck bis zu Machtmissbrauch an Hochschulen keine tagespolitischen Anknüpfungspunkte schuldig, wirkt bisweilen aber ein wenig überfrachtet", schreibt Martina Schürmann in der WAZ (11.9.2023). Der differenzierte Ansatz von Fatma Aydemirs Klassiker-Adaption gehe bisweilen auf Kosten der emotionalen Dringlichkeit. "Gleichwohl gelingen dem Abend immer wieder starke Momente", so Schüermann. Selen Kara vertraue in ihrer klugen Antritts-Inszenierung im Sinne Goethes vor allem auf das Wort. "Die Figuren kreisen auf der großen, leeren Drehbühne von Lydia Merkel fast unablässig um sich und die großen Seinsfragen, bemüht, auch identitätspolitische Satzschablonen mit Lust und Ironie zu brechen. Gerichtet und gerettet wird hier nicht. Der engste Käfig kann eben auch in Zeiten genderfluider Durchlässigkeit der eigene Körper sein, selbst wenn er nur ein Konstrukt ist."

Im Freitag (12.9.2023) urteilt Hans-Christoph Zimmermann: "Fatma Aydemirs Überschreibung bringt das Thema Machtmissbrauch treffend auf den Punkt, ist leichtfüßig, gelegentlich auch etwas leichtgewichtig. Regisseurin Selen Kara setzt die Vorlage adäquat um, wenn auch gelegentlich etwas zu symbolverliebt (Hexenmotive, Granatapfel- oder Ecce-homo-Projektionen). Nichtsdestotrotz: ein vielversprechender Auftakt der neuen Intendanz am Essener Schauspiel."

Kommentare  
Doktormutter Faust, Essen: Erstaunlich gute Überschreibung
So ähnlich wird der Dialog zwischen Selen Kara, Co-Intendantin des Schauspiel Essen, und der Autorin Fatma Aydemir wohl tatsächlich verlaufen sein: die Theaterleiterin wünschte sich für den Start am neuen Haus eine Klassiker-Überschreibung von Aydemir, deren Romane „Ellbogen“ und „Dschinns“ sie bereits in Mannheim inszeniert hat und die beide auch vom Gorki Theater adaptiert wurden. Silvia Weiskopf und Beritan Balci spielen die Auseinandersetzung in ihrem „Vorspiel auf dem Theater“ frei nach Goethe nach. Mehrere Vorschläge der Intendantin („Kabale und Liebe“, „Maria Stuart“ oder „meinetwegen die Nibelungen“) lehnt die Autorin ab. Der „Faust“ würde sie stattdessen reizen, einen deutscheren Stoff gebe es gar nicht. Der Klassiker sei doch so misogyn und abgedroschen, seufzt die Intendantin und spricht damit sicher vielen Theaterbesuchern aus der Seele.

Aydemirs Text ist zwar mit vielen aktuellen Diskursthemen von Abtreibung bis #metoo überfrachtet und erhebt an manchen Stellen den Zeigefinger etwas zu sehr. Insgesamt ist das Experiment einer Klassiker-Überschreibung erstaunlich gut gelungen. Im Zentrum des Abends stehen die Grauzonen im Verhältnis der Hauptfiguren.

Ein Problem des Abends ist, dass die Versuchsanordnung aus Klassiker-Fragmenten, Theorie-Diskursen und Alltagssprache sehr textlastig ist. Selen Karas Umsetzung auf Lydia Merkels Drehbühne bleibt recht statisch.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/04/20/doktormutter-faust-schauspiel-essen-kritik/
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