Hyäninnen der Ohnmacht

29. April 2023. Nach dem Untergang Trojas werden die Frauen des Reiches als Kriegsbeute nach Griechenland entführt. Lucia Bihler versetzt die leidenden "Troerinnen" um die düsterschauende Kassandra in eine blutrot-weiße Installation.

Von Dorothea Marcus

Euripides' "Die Troerinnen" in der Regie von Lucia Bihler in Köln © Tommy Hetzel

29. April 2023. Weiß ist die Unschuld und die Dekadenz, rot das Leid, das Blut und die Wut. Ganz in Weiß ist der trojanische Palast auf der Bühne gehalten. Noch herrscht das Glück, kurz bevor die Griechen mit dem Holzpferd einfallen.

Die Inszenierung von Euripides' unglückseligen "Troerinnen", die von den Griechen versklavt, vergewaltigt, ihrer Kinder beraubt werden, ist von Regisseurin Lucia Bihler in drei Teile geteilt, die ersten beiden finden gleichzeitig statt.

Die eine Hälfte der Zuschauer darf direkt durch die Palastmauern auf der Bühne schreiten. Ganz nah dran sind wir in dieser bizarren, hochästhetisch eisvernebelten Installation dem gutsituierten, gedankenlosen Luxus-Alltag von Troja vor der Zerstörung, er könnte glatt der eigene sein: ein zerwühltes Bett. Schachfiguren, mitten im Spiel. Ein Brot im Ofen, weiße Krabbenchips zum Mitessen. Eine Mutter, die ihrer kleinen Tochter im Bad die Haare föhnt. Ein Frühstückstisch mit Sandwich und Ei (selbst das Gelbe ist geweißt). Kichernd liest Andromache (Paulina Alpen) ihrem Mann Hektor die neuesten Klatschnachrichten vor, während sie ihr todgeweihtes Baby Astyanax wiegt – von Helena und Paris, oder die neuesten absurden Vorhersagungen der Kassandra. Grelles Gelächter. Kurz davor hat sich am gleichen Tisch die Mutter (Birgit Walter) über ihre pubertierenden Söhne aufgeregt.

Troja vor dem Untergang

In jedem der mit weißen Stoffwänden getrennten, sterilen Geisterzimmer des Alltags liegen verwischte Familienfotos, denn wir blicken in eine zerstörte Vergangenheit: Troja gibt es nicht mehr. In der Mitte der Installation schwappt ein ritueller Teich mit milchigem Wasser. Mnemosyne, der Fluss der Erinnerung? Lethe, der Fluss der Vergessenheit? Silberne Weltkugeln treiben darauf. Papierschiffchen, von einem kleinen Mädchen gefaltet, versinken. Einzelne Zuschauer*innen werden gesegnet, gemeinsam drumherum stehend singen wir alle einen tiefen Ton. Manchmal flackert das Licht, dröhnt in die sphärische Musik ein unheilvoller Ton, stoßen alle einen gellenden Schrei aus, verfärbt sich das Wasser blutrot. Wie durch Zauberhand sind auch die sechs Troerinnen in all dem Weiß auf einmal rot gekleidet.

Troerinnen1 Tommy Hetzel uVerhüllt im Untergang: die Troerinnen © Tommy Hetzel

Und dann wird unser Besuchergrüppchen auch schon in den Theatersaal geleitet, wo Kopfhörer am Platz warten. Von hier aus sieht man nur noch durch eine schmale Tür auf das Palastinnere und geisterhaft die Zuschauer*innen, die darin wandern. Einmal posiert da Helena mit weißen Leggings und Handykette und knutscht ihren Paris, bevor sie wieder aus dem Sichtfeld verschwinden. Vor uns auf der Bühne sitzt nun Kassandra (Alina Heipe), verhüllt in gewaltigem roten Tüllgewand (Kostüme: Ran Chai Bar-Zvi), nur ihr Mund ist riesenhaft auf die Wand projiziert, man kann die Zahnstellung und jeden Spuckefaden erkennt. Es ist jener Mund, der spricht, aber nie gehört wird. Nun flüstert er pathetische Sprachfetzen der Euripides-Bearbeitung von John von Düffel ins Zuschauerohr, zuweilen wiederholen sie sich: "Heute ist der letzte glückliche Tag". Oder: "Das hier wird Troja gewesen sein".

Immer wieder ruft Kassandra nach ihrer Mutter, beschreibt die Griechen als fletschende Rattenhorden oder einen Traum, in dem sie selbst zur Hündin wird, wir hören ihr Leid und ihre Wut, bevor irgendwann auch ihre Augen gezeigt werden. Das alles ist ästhetisch auf jeden Fall überwältigend, aber sprachlich fast schon ärgerlich reduziert, nichts zu spüren ist von den Zwängen der nicht gehörten Seherin. Und warum blickt Kassandra uns so verführerisch an, nachdem sie uns das alles erzählt hat? Weil Frauen "gelernt haben, dass ihr Leben von der Gunst patriarchaler Macht abhängt", wie Franziska Schutzbach ("Die erschöpften Frauen") im Programmheft beschreibt? Es wirkt jedenfalls irritierend, bei all den Bruchstücken brutalster Leiderzählung.

Frauen zu Trophäen der Griechen degradiert

Und dann beginnt der dritte Teil, bei dem alle Zuschauer ihre Sitzplätze einnehmen und von oben auf den Palast blicken (Bühne: Wolfgang Menardi). Donnernd rauschen die Wände nach unten und zerstören die sterile superästhetisierte Schönheit – die Griechen wirken hier eher wie ein Erdbeben, eine Naturkatastrophe. Und die Frauen tun das, was sie immer tun: Sie umarmen, salben, waschen die toten Männer, verarbeiten eifrig, fügsam und resilient die Katastrophe. Das dauert und wird etwas lang.

Troerinnen3 Tommy Hetzel uWolfgang Menardis Bühne im Depot 1 des Schauspiels Köln © Tommy Hetzel

Das Mädchen Polyxene versteckt sich mit dem letzten Thronfolger unter dem Tisch, wenige Augenblicke später ist auch sie tot. "Wir triumphieren und die Trophäen seid ihr Frauen. Mit Haut und Haar", wird mit Lautsprechern hereingerufen und viele von ihnen bereiten sich willfährig vor, ziehen Röcke hoch und Ausschnitte herunter, posieren auf Sockeln. Und Andromache übergibt den Griechen, die in schwarzer Kampfmontur hereinkommen, weinend, aber fügsam, auch das Baby. Und auch nach dem übelsten Leid, kurz bevor die reichen Troerinnen einzeln in die Sklaverei verschifft werden, räumen sie natürlich noch alles auf: Frauen eben, Kollaborateurinnen männlicher Macht. Keine Killjoys sind sie, sondern spielen mit. Und finden beim Aufräumen dann doch noch jene roten Tüllgewänder, die Kassandra im ersten Teil trug, halb Hijab, halb Abendkleid.

Technik schlägt Inhalt

Am Ende bleiben sie bei Lucia Bihler, aufs Grandioseste verhüllt, eben gerade nicht vereinzelt dekorativ auf ihren Sockeln stehen, sondern finden in einer Gemeinschaft zusammen und zu ihrer Stimme, nennen sich Hyäninnen und Hündinnen: "Du bist die Wut, Mutter. Sie ist die Zukunft" – ist der letzte Satz, frei nach Audrey Lorde.

Doch so überwältigend überästhetisiert dieser Abend, so grandios kunstvoll seine Bilder in rot und weiß, so kraftvoll und empowernd am Ende seine Schlussbotschaft: Sie ist zu schnell erfasst. Eine "Überschreibung des Stoffes durch die Körper" wollte Lucia Bihler, legt damit immer wieder innere Widersprüche von Frauenleben offen – und schafft trotzdem Sprache und Komplexität des Stoffes nahezu ab. Das funktioniert am Ende doch nicht so ganz: Zu viel Technik für am Ende so wenig Inhalt.

 

Die Troerinnen
nach Euripides
In der Bearbeitung von John von Düffel
Regie: Lucia Bihler, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Ran Chai Bar-Zvi, Komposition, Sounddesign, Video: Jacob Suske, Licht: Jürgen Kapitein, Dramaturgie: Sarah Lorenz.
Mit: Paulina Alpen, Alina Heipe, Yvon Jansen, Lola Klamroth, Monika Oschek, Birgit Walter.
Premiere am 28. April 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

Kritikenrundschau

Das Ensemble bewege sich "fast geisterhaft durch die Kulisse" und nehme "zurückhaltend" Kontakt zu den Zuschauenden auf, "ohne dass das Ganze in albernes oder gar unangenehmes Mitmachtheater ausartet", schreibt Axel Hill in der Kölnischen Rundschau (1.5.23, €). Der Kritiker berichtet von "großem Applaus" für Applaus für einen "Premierenabend mit starken Bildern, einfachen, aber ungemein effektvoll eingesetzten Mitteln und einem intensiv agierenden Frauen-Sextett".

"Trauer in Zorn zu verwandeln ist die erklärte Absicht der Inszenierung“, bemerkt Martin Krumbholz von der Süddeutschen Zeitung (1.5.2023). "Die physische Nähe zu den Akteuren irritiert und fasziniert. Man fühlt sich aber nicht getrieben, sondern freundlich geleitet." Der Kritiker ist überrascht vom Werdegang der Regisseurin Lucia Bihler. "In ihren frühen Arbeiten dominierte das Witzige, Fantastische. Inzwischen eignet ihr eine stolze Ernsthaftigkeit."

"Die Sprache, so scheint es, ist ein weiteres Opfer des Krieges. Das Drama vollzieht sich größtenteils stumm. Und Lucia Bihlers Bilder sind fast durchweg stark genug, um den gestrichenen Griechen-Text zu tragen", schreibt Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (1.5.2023). "Die Frauen werden versklavt, sollen getrennt die Bühne verlassen, so wie die Zuschauer das Depot betreten hatten. Stattdessen verhüllen sich die Troerinnen von Kopf bis Fuß in rotes Organzagewebe, ein maximal eindrucksvolles Bild, zwischen Mythos und Modenschau schillernd."

Kommentare  
Troerinnen, Köln: Ästhetischer Overkill
Das alles hat mehr von einer überlangen FashionShow als von Kunst bzw Theater…
Wenigstens hat die Kritikerin das erkennen können und sich nicht von all dem Schmuck blenden lassen.

Ich habe bei einigen RegisseurInnen der Generation Bihler den Eindruck, dass all der ästhetische Overkill nur davon ablenken soll, dass da sonst nichts weiter ist…
Die fahren allerdings sehr gut damit, denn sie inszenieren Rauf und runter für seeeeehr viel Geld;-)
Die Troerinnen, Köln: Selten und befreiend
Liebe Nina, liebe Dorothea Marcus,

Auch aesthetische Form ist Inhalt, nicht nur Worte. Bilder erzählen Geschichten, nicht nur SchauspielerInnen mit ihrem Text..Bilder und Musik vermitteln Emotionen und sollen das bitte auch dürfen. Ob gross ob klein ob überwätigend oder zart. Ich habe einen Abend erlebt, der mich tief bewegt hat, gerade durch die Wahl der Setzung mit diesen drei Teilen. Es war vielleicht keine grosse intellektuelle Herausforderung, aber ich habe physisch eine Geschichte erlebt, in der ich selber meinen Weg finden durfte und musste, da ich Teil davon war und auf mich selbst zurückgeworfen wurde. Etwas was sehr selten passiert am Theater und für mich ziemlich befreiend war.
Troerinnen, Köln: Mitgelitten
Auch ich habe an diesem diesem grandiosen Theaterabend mit den Troerinnen gelitten, und deren Schicksal in diesen drei Teilen miterlebt. Für mich eine sehr einfühlsame, leider auch aktuelle und empathische Interpretation dieses Stückes von Euripides. Es war begeisternd und beeindruckend - vielen Dank für diesen eindrucksvollen Theaterabend.
Die Troerinnen, Köln: Essenz
Das ist doch toll, wenn Leute da mitfühlen undso… Nur ist es für all jene, die nicht ausschließlich mitfühlen und -leiden sondern mitdenken ein sehr ernüchterndes Theatererlebnis ohne Essenz… Und es ist doch Essenz was ein nachwirkender poetischer Abend braucht, um Haltung und Sehnsucht auszudrücken und das fehlt mir an diesem Abend ebenso wie an manch anderen die ich von Bihler sah…
Eigentlich sehr schade- die Ästhetik ist immerhin da…
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