Johann Holtrop: Abriss der Gesellschaft - Schauspiel Köln
Und hinter Schnüren keine Welt
26. Februar 2023. Ein Epochenroman: Rainald Goetz' "Johann Holtrop" erzählt von Aufstieg und Niedergang eines Spitzenmanagers auf den Bilanz-Achterbahnen der Nullerjahre. Am Schauspiel Köln hat Stefan Bachmann das Buch elf Jahre nach dessen Erscheinen nun erstmals für die Bühne adaptiert. Ein Illustrierten-Drama aus der Welt der Strippenzieher.
Von Andreas Wilink

26. Februar 2023. Interesse sei, wie wir von Thomas Mann (dem – neben Fontane – Lieblingsautor von Johann Holtrop) wissen, die produktivere Haltung gegenüber dem Hass, der Wut, der Verachtung oder auch einer positiv gestimmten Emotion: neutral, ausgenüchtert, distanzbewusst. Das ist Rainald Goetz' Sache nicht. Der Schriftsteller und Dramatiker, Punk des Denkens und als Popliterat Frühromantiker, ist ein großer Hasser: in dem Sinn, als ihm Hass ein Lust- und Leidenschaftsproduzent ist und wohl auch als Gegenmittel zur saturnischen Disposition taugt.
Der Künstler-Dichter führt vor, was aus einem Ich werden kann, nämlich der totale Ruin, die totale Kaputtheit. Dass der selbst an Geist und Körper – verzweifelnd – daran kaputt geht, wie Goetz es offenbar betrachtet, ist hier nicht Thema. Goetz, der Verteidiger des Singulars, attackiert in "Johann Holtrop" die pervertierte Version eines Super-Ichs.
Vergesellschaftung der Niedertracht
Dr. Holtrop, der Züge des zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Ex-Bertelsmann-Managers Thomas Middelhoff trägt, geht an dem System, für das er und in dem er weit oben steht, zugrunde. Der narzisstische Tatmensch, Effizienz-Fanatiker und "Entscheidungshysteriker", der Wirtschaft in Weltentwürfen zu denken behauptet, ist Vorstandsvorsitzender der Assperg AG am Stammsitz Schönhausen (Bilanzsumme im Jahr 2000: 15 Milliarden Euro). Den CEO und sein Milieu, Mechanismen und Praktiken des Medienkonzerns und seiner 'Eliten', deren Rituale und Zeremonien durchleuchtet Goetz. Und setzt sie grell ins Licht: die "Vergesellschaftung der Niedertracht", "korrupte Kollegialität", giftige Erblasten aus der DDR, euphorisierten Größenwahn, Gerissenheit, Gier und den Raubtierinstinkt für Gegner, aber mehr noch für die in der Dominanzhierarchie Ranghöheren.
Wo die Silben Beine werfen
Dabei kolportiert, persifliert, zelebriert der Autor – angeekelt genüsslich – den Jargon der Eigentlichkeit dieser weltlosen Firmenwelt. Thewe, die anfangs geschasste Führungskraft des Tochterunternehmens Arrow PC im thüringischen Krölpa, begeht Suizid. Einen Spalt weit tut sich da der Abgrund auf, in den Holtrop stürzen wird, nachdem sich ihm allmählich die cäsarische Gunst entzieht. "Holtrop war Ungeziefer geworden." Vorletzte Station: die Psychiatrie, danach noch mal das Hochgefühl als internationaler Finanzakrobat, dann die Entehrung, dann das Ende. Anatomie der menschlichen Destruktivität. Goetz, der, wie von sich selbst überwältigt, in pompöser Herablassung und investigativer Lanz-Attitüde schreibt, verfügt über kluge Menschenkenntnis, aber nicht über das Gespür, um sein Personal, voran Holtrop, aus der Gleichgültigkeit, die der Leser für sie empfindet, zu erlösen.
Fäden-Gitter-Welt im Bühnenbild von Olaf Altmann © Tommy Hetzel
Was tun mit dem Stoff auf dem Theater? Stefan Bachmann beantwortet in Köln diese Frage mit einer Gegenfrage und deren Antwort: Wollt ihr die totale Form? Jein! Ein feinmaschiges Gitterwerk strukturierte als Koordinatensystem schon die Bühne für Bachmanns Inszenierung von Goetz' "Reich des Todes" (September 2021, ebenfalls eine Koproduktion zwischen den Schauspielhäusern Düsseldorf und Köln). Wiederum sind von Olaf Altmann Schnüre aufgezogen – sie lassen an Rilkes Gedichtzeile denken: "Und hinter Stäben keine Welt". Nicht das einzige Déjà-vu der Aufführung, die das Wiederholungsmuster zur Methode erklärt: also alle Rollen weiblich besetzt, ihnen (mit einem Begriff des Marxismus gesagt) Charaktermasken anpasst, um sie mittels der Larven zu enttarnen. Das Sprechen ist in Taktung gezwungen, auf dass Silben, Worte, Sätze gewissermaßen die Beine werfen. So übersetzt Bachmann das Banale in diesem "Abriss der Gesellschaft" in motorische Monotonie. Der sich amalgamierende Sprachartist Goetz wird überspielt. Das Illustrierten-Drama, das wir sehen, ist aber dann doch wohl eine Unterbietung.
Rheinischer Schmu, Wiener Schmäh
Bachmann kehrt, als Goetz-Erfolgsregisseur gewiss unbeabsichtigt, die Schwächen hervor, indem er, nachgiebig, die vorgeblichen Stärken betont und – kammermusikalisch unterstützt von einem Salon-Quartett – das Satirische verabsolutiert. Aber er begnügt sich dabei mit schalen Kir-Royalitäten, Society-Sketchup, Operettenunseligkeit, bisschen Jerry-Lewis-Plingpling, rheinischem Schmu und Wiener Schmäh. Von der dramatischen Tiefe des Romans (doch, die gibt es auch) bleibt nur das Flachrelief.
Melanie Kretschmann als Holtrop posiert unter adretter Blondhaar-Kurzfrisur vor allem elastisch mit Hüftschwung: reinste Fassade und fuchtelnde Tonsetzerin, die das Nichts dirigiert. Um sie herum Comicfiguren: als Strippenzieherinnen, Zappelphilippas und Sprechautomaten mit pantomimischen Leibes- und Fingerübungen, mal als Chor der Reinigungskräfte oder Anzugträger, mal als befrackte Vorstands-Mumien, solistisch als Tipp-Mamsell, Pariser Garçon, Arzt-Attrappen, erotische Sensation oder freundliche Holtrop-Ehefrau.
So viel Aufwand, so wenig Ertrag. Dr. Johann Holtrop hätte zu seinen Hochzeiten diese Bilanz nicht gut gezeichnet.
Johann Holtrop: Abriss der Gesellschaft
nach dem Roman von Rainald Goetz
Fassung von Stefan Bachmann und Lea Göbel
Uraufführung
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Jana Findeklee / Joki Tewes, Musik: Sven Kaiser, Choreografie und Körperarbeit: Sabina Perry, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Lea Göbel. Live-Musik: Sven Kaiser, Zuzana Leharová, Annette Maye, Jan-Felix Rohde.
Mit: Nicola Gründel, Melanie Kretschmann, Anja Lais, Rebecca Lindauer, Lea Ruckpaul, Cennet Rüya Voss, Luana Velis, Ines Marie Westernströer.
Premiere am 25. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.schauspiel.koeln
Etliche Momente perverser Nostalgie scheinen in Stefan Bachmanns Inszenierung auf, schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (27.2.2023). "Der Boom und Bust der Nullerjahre, die Zeiten, in denen 'Neue Medien' zukunftsverheißend klangen." Das Bühnenbild, vertikal verlaufende, elastische Schnüre, zu käfigartigen Kuben aufgespannt, signalisiere die gleiche Welt wie in "Reich des Todes" von vor zwei Jahren. "Und wieder gruppiert sich ein rein weibliches, oft chorisch sprechendes Ensemble um Hauptdarstellerin Melanie Kretschmann." Bachmanns Konzept ist stringent, so Menden, Stilisierung das Mittel, um der chaotischen Realität Herr zu werden, "alles wird auf die präzise gearbeitete Form heruntergebrochen." Fazit: "Eine sehr geschlossene Ensembleleistung, die Bachmanns Regie-Ideen wie aus einem Guss wirken lässt."
"Sehnsucht nach dem Königsdrama" lautet die Überschrift von Jakob Hayers Text in der Welt (27.2.2023). Die zahlreichen Gummischnüre auf der Bühne laden zum freien Assoziieren ein. "Hier ist jeder verstrickt, doch wer zieht die Strippen?" Die von Rainald Goetz geschilderte Entleerung und Entwirklichung der Welt werde bei Bachmann zum ästhetischen Prinzip, "eine Stilisierung, die mit ihrem starken Fokus auf das Verfremdende selbst noch zum Zuschauer eine große Distanz aufbaut". Mit dem weißblonden Haar lasse Melanie Kretschmanns Darstellung des Holtrop an den im Publikum sitzenden Autor denken. "Holtrop als Wiedergänger von Goetz und Macbeth?" Solche Momente, in denen die kurzweilige Inszenierung ihre Immanenz durchbreche und sich ins Metaphorische öffne, sind allerdings selten, so Hayer.
Patrick Bahners zitiert in seiner Kritik in der FAZ (27.2.2023) ausgiebig Adornos Blick auf Balzac und Balzacs Kapitalismus, zu dem er Parallelen sieht, "ein System universaler Abhängigkeiten und Kommunikationen". Goetz bringe dieses System als räumliche Einheit zur Anschauung: das Büro. Auf der Bühne sei nun Büroarbeit vor allem Spracharbeit, "hier wird sie pantomimisch verdoppelt in einem Alltagstheater der Drohgebärden, Abwehrreflexe und Ersatzhandlungen". Fazit: "Das Resultat ist ungemein unterhaltsam, ein Schlag ins Kontor und Triumph des Sounds: Dem Zuschauer schwirrt der Kopf wie laut Adorno dem Leser Balzacs beim Umblättern der Seiten."
Alten Vorwürfen gegen Rainald Goetz' Roman "begegnet Stefan Bachmann mit Vorwärtsverteidigung", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (27.2.2023). Wie schon in Goetz' Post-9/11-Stück "Reich des Todes" habe Bachmann sämtliche Rollen weiblich besetzt. "Die Männerfantasie der Chefetagenwelt gewinnt umso deutlichere Konturen und das Ensemble stürzt sich mit Lust die Goetz'schen Satzkatarakte hinunter." Die Prosa werde auch wieder durch dauerhafte Musikbegleitung rhythmisiert, "freilich weniger rauschhaft, dafür karikierender." Fazit: "Die Höhe seines 'Reich des Todes'-Triumphs erreicht Stefan Bachmann zwar nicht ganz, aber die Ehrenrettung für einen der wichtigsten Romane der vergangenen 20 Jahre, sie ist gelungen."
Der Abend, "der sprachlich zwischen durchgetaktet und schnoddrig mäandert", betöre als sinnliches Erlebnis, findet Axel Hill in der Kölnischen Rundschau (27.2.2023). "Die Musik wird mal getrieben von einem fordernden Klavierstakkato, mal lullt sie wienerisch fast ein. Schließlich veredelt sie das chorische Sprechen der acht Schauspielerinnen zum Choral." "Zu Recht bejubelt das Premierenpublikum einen gelungenen Abend - der als noch gelungener empfunden werden könnte, hätte man das 'Reich des Todes' nicht als direkten Vergleich. Die Geschichte eines manischen Managers ist ein Nichts gegen die Kriegsverbrechen, die an hilflosen Gefangenen begangen worden sind."
Rainald Goetz hat Middelhoffs Aufstieg und Fall für ein satirisch-boshaftes Porträt der Nullerjahre genutzt, Stefan Bachmanns Fassung sei werktreu, so Stefan Keim im DLF Kultur vom Tage (26.2.2023). Auf der Bühne wirke das wie ein Lehrstück von Bertolt Brecht, dem das positive Element fehlt. "Was bleibt ist die ätzende, hinreißend pointierte Analyse einer verkommenden Herrschaftsschicht."
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Bitte schreibt doch mal unter den Aufführungsfotos nicht nur, wer sie gemacht hat, sondern auch, wer zu sehen ist. (...). Ich kenne nicht alle Schauspielerinnen!
(Liebe* Iphignie,
den Wunsch verstehen wir gut, wir haben ihn selbst. Allerdings sind wir dabei auch ein wenig auf die Theater angewiesen, die uns nicht immer entsprechende Bildunterschriften zur Verfügung stellen. Leider (er)kennen auch wir nicht alle Schauspieler:innen, schon gar nicht unter Kostüm und Maske. Und für Rückfragen fehlt morgens oft die Zeit. Aber wo immer wir die Informationen haben, geben wir auch an, wer auf dem Bild zu sehen ist.
Herzliche Grüße
Ihre nachtkritik.de-Redaktion)
Was für eine strahlende schauspielerische Glanzleitung gestern im Düsseldorfer Schauspielhaus. Ganz zu Recht stand am Ende das ganze Publikum klatschend. Bravo!
Atemberaubend gutes Ensemble! Absolut sehenswerter Abend..
Paradox: Das Theater kritisiert die hierarchischen Strukturen in der Wirtschaft, klappt man das Programmheft auf, wimmelt es nur so von Direktoren und Assistenten. Vielleicht sollte das Theater bei den eigenen Strukturen anfangen...
Der Kern dieses Konzepts ist bereits aus Bachmanns letzter Goetz-Inszenierung bekannt: „Reich des Todes“, eine Auseinandersetzung mit den „Falken“ in der Administration von George W. Bush, die nach 9/11 das Völkerrecht aushebelten, war ebenfalls eine Koproduktion der beiden Häuser, wurde auch zu den ATT nach Berlin eingeladen, nutzte auch einen Fäden-Wald von Olaf Altmann als Bühnenbild, in dem nur Frauen auftraten. Wie der Aufguss eines erfolgreichen Formats wirkt der neue „Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft“-Abend deshalb.
Unterhaltsam ist die Roman-Adaption dennoch, der neuen Inszenierung fehlt aber doch die Tiefenschärfe von „Reich des Todes“: der Text lotete die Denkstrukturen seiner an reale Vorbilder angelehnten Figuren noch luzider aus. „Johann Holtrop“ kommt kaum über eine klassische Aufstiegs- und Fall-Erzählung hinaus.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2023/05/10/johann-holtrop-theater-kritik/