Fatzer-Tage - Bei der fünften Ausgabe in Mülheim betonen drei Gastspiele die Fragment-Brüche
Poesie des Stillstands
von Sascha Westphal
Mülheim, 10. Juli 2016. Wenn WOYZECK die offene Wunde ist, die sich, wie Heiner Müller einmal schrieb, einfach nicht schließen will, dann ist FATZER der Bruch, der einfach nicht verheilt. Und sollten die Knochen gelegentlich doch einmal zusammenwachsen, dann nur so schief und falsch, das sie von Neuem gebrochen werden müssen. Heiner Müller, der 1978 die wohl bekannteste Bühnenfassung dieses zerklüfteten Fragments erstellt hat, beschrieb seine Arbeit an "Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer" als "Puzzle-Spiel". Nur passen die Teile natürlich nicht zusammen. Es bleiben immer und überall Lücken. An anderen Stellen wieder scheinen sich die Puzzlestücke ineinander zu verkanten. So heben sie die Brüche, die durch den Text gehen, noch einmal hervor. Wie sollte es auch anders sein, wenn der Einzelne, der eigensinnig auf seine Unabhängigkeit beharrt, auf eine Gruppe trifft, die alles gleich machen will.
Die Herrschenden und die Beherrschten
Form und Inhalt ergänzen sich perfekt. Mit jedem neuen Blick auf das "Fatzer"-Fragment werden weitere Frakturen sichtbar. Dieses Ineinander der Gegensätze prägt auch die Mülheimer Fatzer Tage, die in diesem Jahr zum fünften Mal im Ringlokschuppen stattfinden, eine Mischung aus Festival, Symposium und Laboratorium, das Bertolt Brechts Fragment szenisch und wissenschaftlich untersucht. Die Geschichte der Soldaten, die im Kriegswinter 1917/18 von der Front desertieren und in Mülheim unterkommen, ist fest in der Zeit vor der deutschen Revolution 1918/19 verankert und zugleich zeitlos. Sie ist hier, in der Stadt der Kräne und Eisenhütten, verwurzelt und kann sich doch überall auf der Welt zutragen.
Also kann in Alexandra Holtschs freier "Fatzer"-Bearbeitung vom Saarländischen Staatstheater nach der Pause mit größter Selbstverständlichkeit auch ein "Fatzer Talk" über die Widerstände gegen Großprojekte im heutigen Deutschland stattfinden. Die in trashigen Ganzköperkostümen steckenden Spielerinnen und Spieler gehen dabei mit eben der Verbohrtheit aufeinander los, die man aus unzähligen Fernseh-Talkshows zu Genüge kennt. Der Jargon ist ein anderer, nun wird über "Standortvor- und Nachteile" schwadroniert und von Spaltungsstrategie gesprochen. Aber die Konflikte verlaufen nach dem gleichen Muster wie bei Brecht. Die "herrschende Art" der Menschen sorgt immer noch dafür, dass die "beherrschte Art" nichts an den Verhältnissen ändert. Schließlich war schon bei Brecht die Vorstellung von der großen, unbesiegbaren Masse eine Illusion. Immer schert ein Fatzer aus, und das nicht einmal zu Unrecht.
Auch der kleine Krieg kennt nur Verlierer
Holtsch greift in ihrer "großen Fatzer-Untergangsshow", in der ein roter Samtvorhang die Bühne und mit ihr den gesamten Raum in zwei Hälften zerschneidet, zwar Heiner Müllers Bearbeitung auf. Aber die Puzzle-Teile will sie keineswegs mehr zusammenlegen. Sie wirft sie stattdessen immer wieder in die Luft und schaut dann, wo sie liegen bleiben. Das Fragment wird zum Material für ein Polit-Varieté. Hier ist niemand mehr Fatzer, oder, was letzten Endes auf das Gleiche herauskommt, alle sind Fatzer. Die Verweigerung des großen Krieges führt zu einem kleinen Krieg, der auch nur Verlierer kennt. Die Revolutionen scheitern, aber das Lachen bleibt. Es ist die Waffe des Anarchisten Fatzer, der in jedem der fünf Varieté-Stars steckt. Der Bruch, von dem Holtsch erzählt, geht durch unser aller Bewusstsein. Zwei Sehnsüchte wohnen, ach, in des Menschen Brust, die, einzig zu sein, und die, Schutz in der Gemeinschaft zu finden.
Von Brechts "Fatzer" geht eine Fremdheit aus, die noch überwältigender ist, wenn die Texte nicht im vertrauten Deutsch gesprochen werden, sondern auf Japanisch erklingen. Das in Kyoto ansässige Theaterkollektiv Chiten hat für seine Produktion Brechts Texte extra übersetzen lassen und nähert sich ihnen auf eine extrem verfremdende Weise. Tradition und Avantgarde fließen in Motoi Miuras Inszenierung, in der Sprache und Bewegung immer wieder auseinanderbrechen, konsequent zusammen. Während die Band kukangendai mit ihrem rhythmisierten Trommel-Feuer und ihren an Schüsse erinnernden Riffs das Geschehen taktet, geraten die sechs Chiten-Performer fortwährend außer sich.
Nichts ist wieder zusammengewachsen
In artistischen Choreographien drängen und drücken sie sich an die hintere Wand, verbiegen ihre Körper oder stürzen hin. Der Text kreist weiterhin um den Egoisten Fatzer und die anderen Deserteure. Aber die Bewegungen, die meist eher Verrenkungen sind, erzählen von der japanischen Gegenwart, die von der Last einer unbewältigten Vergangenheit niedergedrückt wird. Nur Fatzer, der sich nicht anpassen will und es auch gar nicht kann, hat noch einen Rest Kontrolle über seinen Körper und muss dafür sterben. Wie Alexandra Holtsch verabschiedet sich auch Motoi Miura konsequent von jeder Linearität. Seine Inszenierung dreht sich kunstvoll im Kreis. Dreimal setzt die Erzählung an, dreimal endet sie in der Katastrophe. Aber jedes Mal zeigen sich andere Facetten des Kampfs zwischen dem Individuum und der Masse. Eins wird dabei nach und nach offensichtlicher: Diese Inszenierung über die verdrängten Brüche in der japanischen Gesellschaft konfrontiert uns mit dem eigenen Verdrängten. Nichts ist wieder zusammengewachsen. Nur ist der Krieg heute ein anderer als 1918.
Eine simple, aber sinnfällige Transformation markiert den Scheitelpunkt von „F++++R Live“, dem Performance-Konzert, das das Berliner Kollektiv :objective:spectacle: eigens für die Fatzer Tage konzipiert hat. Die Deserteure sind eine zweiköpfige Band. Irgendwann verlässt Paul Matzke, der Fatzer-Frontmann, einfach die Bühne. Männer wie er gehen ihre eigenen Wege. Aber das ist nur ein Aspekt der Situation. :objective:spectacle: greift in diesem Moment Fatzers Rundgang durch Mülheim auf und ersetzt ihn durch einen kleinen, spiegelverkehrt projizierten Videofilm. Statt der Stadt sehen wir ein Warenhaus, einen Discount-Tempel. Hier werden die heutigen Schlachten geschlagen. Nicht mehr der Krieg frisst die Menschen auf, sondern der Konsum.
Wie Chiten arbeitet auch :objective:spectacle: mit Wiederholungen. Die Worte kehren genauso beharrlich zurück wie die Akkorde dieser bis ins Äußerste stilisierten Inszenierung eines von Brecht inspirierten NDW-Konzerts. Das Fragment als Endlosschleife, die schließlich in einem bizarren Mantra endet: "Explosion im Festspielhaus". Wieder und wieder singen Paul Matzke und Christoph Wirth diese drei Worte, während ein Arbeiter die Scheinwerfer abbaut. Auch das kann "Fatzer" sein: ein Akt der Zersetzung, eine Poesie des Stillstands, die den Keim revolutionärer Aktionen sät.
Fünfte Mülheimer Fatzer Tage
www.ringlokschuppen.de
Fatzer
von Bertolt Brecht
Regie und Musik: Alexandra Holtsch; Bühnenbild und Kostüme: Gregor Wickert; Video: Sonja Bender; Dramaturgie: Nicola Käppeler:
Mit: Christian Higer, Roman Konieczny, Klaus Meininger, Robert Prinzler, Nina Schopka:
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, eine Pause
www.staatstheater.saarland
Fatzer
von Bertolt Brecht, ins Japanische übersetzt von Masayuki Tsuzaki
Regie: Motoi Miura; Musik: kukangendai; Bühne: Itaru Sugiyama; Lichtgestaltung: Yasuhiro Fujiwara; Licht: Megumi Yamashita; Ton: Toshihiro Dooka; Kostüm: Kyoko Domoto; Produktion: Yuna Tajima:
Mit: Satoko Abe, Dai Ishida, Yohei Kobayashi, Saki Kohno, Shie Kubota, Koji Ogawara:
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
chiten.org/en
F++++R Live (UA)
von :objective:spectacle:
Konzept: Paul Matzke, Christoph Wirth; Regie: Christoph Wirth; Visuals, Raum, Bühne: Clementine Pohl: Mit: Paul Matke (Gitarre Gesang), Christoph Wirth (Snaredrum, Synth), Florian Mattil (Elektrobaum, Soundflächen)
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
objective-spectacle.net
"'Fatzer', flott versampelt und versimpelt", fasst Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Gastspiel aus Saarbrücken zusammen, das den Text konventionalisiere. Das Gastspiel aus Japan hingehen sei "nicht Deklamation, sondern Demonstration; nicht Allotria, sondern Analyse". Die Fragmentierung werde zur Spielweise und Ausdrucksform: "furios und furchteinflößend. Verfremdung der Verfremdung. Standbilder, die zusammensacken und wieder aufstehen, den Protagonisten viele Bühnentode sterben lassen und den Text quicklebendig machen". Kurz: "'Fatzer' als Experiment und als Energiequelle".
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ich muß es irgendwo loswerden - Sie sind, als Vortragender der nächsten Fatzer-Tage in Mülheim, mein Schuttabladeplatz: lese ich doch im Programm zum soundsovielten Male etwas von "in der Fassung von Heiner Müller"…
Die Müller-Fassung unterscheidet sich nur geringfügig und zudem dramaturgisch problematisch von der 1975 von Wolfgang Storch und mir erstmals konstituierten Textgestalt und würde ohne sie nicht existieren. Die Geschichte der Uraufführung des Fragments an der Schaubühne am Halleschen Ufer ist nicht ohne Reiz, was die Haltung der Brecht-Erben angeht (die eine Aufführung für unmöglich hielten). Storchs und meine in wochenlanger Fußbodenkrabbelei (die Blätter waren auf dem Boden ausgebreitet und wir krochen dazwischen herum und suchten Szenenfolgen, Anschlüsse, Übergänge) führte auch nur deswegen zum Erfolg, weil Reiner Steinweg das gesamte im Archiv lagernde und bis auf Bruchteile unveröffentlichte Material gesichtet, gesammelt und wunderbarer Weise kopiert hatte.
Ich will nicht sagen, daß ich es Müller übelnehme, sich unsere Fassung so sang- und klanglos unter den Nagel gerissen zu haben, aber wenn die Nachwelt das dann nachplappert und selbst wissenschaftliche Auslassungen mit keiner Silbe auf diesen doch eigentlich unübersehbaren Gang der Dinge zu sprechen kommen (die Uraufführung fand immerhin statt, bevor Müller sich überhaupt mit dem Text beschäftigt hatte!), allenfalls in einer Fußnote darauf verweisen, dann ärgerts mich doch. Denn es war auch von der Schaubühne doch ganz tüchtig, das Dingens aus seinem dornröschenhaften Archivdasein zu erlösen, obwohl es so gut wie nichts davon vorab zu lesen gab. Stein vertraute mir, der ich steif und fest behauptete (bei Weitem nicht alle Texte kennend), FATZER sei, wie Schleef sich ausdrückte, "ein Hit". Stein spielte dann, bei der Eroberung der Rechte, eine entscheidende Rolle. Aber das erzähle ich Ihnen wann anders.
Fest steht, daß Heiner weder die Zeit, noch die Geduld, vermutlich auch nicht die Lust gehabt hätte, aus den hunderten von Zetteln und Zettelchen, getippten und gekritzelten, ohne Frau Ramthun überhaupt nicht entzifferbaren Notizen ein aufführbares Gebilde zu montieren. Insofern wurmt es mich immer wieder, wenn dieser in der Tat mühsame Arbeitsgang völlig in Wegfall kommt.
Ich hoffe auf Ihr Verständnis.
Herzlich -
Steckel.
Gibt es dazu keine Dokumentationen an der heutigen Schaubühne?
Sie haben das Müller echt nicht verübelt? Kein winziges kleines bisschen? Sind Sie ein Heiliger oder so ähnlich? Solches sang- und klangloses küntlerisches Benutzen bereitet ungenauen wissenschaftlichen Auslassungen, Nachbereitungen und dergleichen, immerhin den Boden. Es kostet nicht viel, zu sagen oder kurz schriftlich festzuhalten: "Das habe ich als Autor im Grunde da und dort geklaut - vielen Dank für die Inspiration bzw. motivierende Vorarbeit"
Ist das denn noch nie auf einer Heiner-Müller-Tagung, beispielsweise in FaM, thematisiert worden? Wo allgemein bekannt ist, dass die Fatzer-Fetzen für Müller der eigentlich anregendste Text von Brecht war? Aus mehreren Gründen: wegen des an Büchner erinnernden Fragmentarischen UND wegen des dramatischen Konfliktes, der irgendwie etwas Baal-haftes auf einer neuen dramaturgischen Ebene hatte aus meiner bescheidenen und gewiss wenig kompetenten Sicht auf Brecht undoder Müller und die Fatzer-Figur.
...Auch der (nach der Schaubühne) zweite Versuch mit dem Fragment, in einer Fassung von Heiner Müller, konnte den Verdacht nicht entkräften, daß der „Fatzer“ ein Ereignis nur für die Brecht-Philologie ist, keines für das Theater. (Benjamin Henrichs, DIE ZEIT 10.3.1978)
„...Mir geht dieser FATZER nicht aus dem Kopf, ...den Schumacher zur Vorbereitung seines Brecht-Oberseminars (März 1984! - Anm. St.) als Stücktext in die Runde gegeben hatte: Ein xerographiertes Typoskript ohne Titelseite, sein persönliches Exemplar. ...Viel schwieriger dagegen ist der Umstand, daß das Henschel-Bühnenmanuskript der Müllerschen Fassung erhebliche Unterschiede zu unserem vorliegenden abgetippten Text aufweist und uns auf ein kolossales Mißverständnis stoßen läßt. Es beruhte auf der Annahme, Schumacher hätte damals für die Müller-Veranstaltung seines Brecht-Oberseminars auch die Müllersche Fassung rumgereicht, aber es war die Fassung der Schaubühne, die Wolfgang Storch für eine Inszenierung von Frank-Patrick Steckel 1976 eingerichtet hatte. Während die Schaubühnen- Version eine gewisse Stringenz der Handlung anzielte, ...kehrt die Müllersche Fassung rückhaltlos den Fragment-Charakter heraus... Die Produktionszusage hatte der Hauptabteilungsleiter Dr. Gugisch auf die ihm bisher vorliegende Schaubühnen-Fassung hin erteilt... (Matthias Thalheim, >>Fatzer im Radio)
Ich habe in dem Zimmer, in dem ich gearbeitet habe, die vierhundert Seiten ausgebreitet, bin dazwischen herumgelaufen und habe gesucht, was zusammenpasst. Ich habe auch willkürlich Zusammenhänge hergestellt, an die Brecht nicht denken konnte, ein Puzzle-Spiel.“ usw.
Klingt dem, was Sie eingangs erwähnten, sehr ähnlich. Ich war nicht dabei. Es bliebe also nur die erneute Fleißarbeit, beide Fassungen nebeneinander zu halten. Was Sie ja wohl schon getan haben.
Ihr Hinweis zu den Rechten ist dahingehend interessant, weil es ja auch von Müllers Fassung heißt, dass sie aus rechtlichen Gründen nicht an der damaligen Volksbühne inszeniert werden konnte, und Karge/Langhoff deswegen ans Hamburger Schauspielhaus ausgewichen sind. Trotzdem gibt es ein Henschel-Bühnenmanuskript der Müllerschen Fassung, wie Sie unter #6 erwähnen, und die Suhrkamp-Ausgabe von 1994. Wann ist also Müllers Fassung legitimiert worden? Weiß das jemand?
Interessant ist das Ganze als ein Stück deutsch-deutscher Theatergeschichte im Zusammenhang mit der politischen Prognostik des Fragments selbst.
Die derzeitige Schaubühne sollte das m.E interessieren, weil einem Theater, gleich welchem, seine eigene Geschichte aus dramaturgischen Gründen immer gegenwärtig sein sollte. Wenn die Schaubühne ein Archiv hat, das einigermaßen lückenlos geführt wurde, müsste sich in dem der Aufführungsvertrag mit Frau Barbara finden. Vielleicht schaut der Wengenroth ja da mal nach. Der ist ja dort, soweit ich das beobachtet habe, der aktuelle Brecht-Experte und da kann er das als Regisseur eventuell einmal einen Sekundenbruchteil einer Darstellung lang verwerten...
In dem Sinne der Prognostik eines inszenierten Textes ist das ganze vergangene Prozedere um seine Inszenierung IMMER als Theatergeschichte interessant. Das ist durchaus nicht nur bei diesem Fragment so, auch wenn ich Ihnen wünsche, dass es so wäre. Das ist eine romantische Vorstellung, auf die Brecht eventuell nicht so romantisch geglotzt gewusst haben wollte... Im Übrigen gilt das gleiche für die vergangenen Prozedere um die Nicht-Inszenierung von zur Inszenierung bereitgestellten Texten.