Befreiung durch Kontrollverlust

19. August 2023. Das Theater an der Ruhr in Mülheim eröffnet die neue Saison – und versucht eine andere Art von Spielplan-Gestaltung: mit den "Bakchen" des Euripides, inszeniert von Philipp Preuss, als Auftakt eines mehrteiligen "Rausch"-Projekts, mit Open-air-Atmosphäre und Festival-Charakter.

Von Michael Laages

Euripides' "Die Bakchen" inszeniert von Philipp Preuss zum Spielzeit-Auftakt am Theater an der Ruhr Mülheim © Franziska Götzen TAR

19. August 2023. In Mülheim an der Ruhr ist das Theater bekanntlich an einem sehr speziellen Ort zu Haus: im Raffelberg-Park. Der wurde vor 114 Jahren angelegt – als teils barocker, teils englischer Garten sowie als Solebad. Das heilkräftige Wasser kam aus einer Zeche im nahen Oberhausen. Vom Kurhaus am oberen Kopf des Geländes führen Stufen hinunter und um einen Teich herum zu einem offenen Platz mitten zwischen grünem Baumbestand. Hier hat sich das Theater an der Ruhr, das seit 1996 im Raffelberg-Park zu Hause ist, aktuell eine Open-Air-Bühne gebaut, zusätzlich zum Theater im alten Badehaus. 

Zur Struktur des Theaters gehörte schon vor dem Einzug ins historische Solebad das Reisen – Mülheimer Produktionen waren und sind oft unterwegs, sorgen für Theater-Präsenz auch in Städten und Gemeinden, in denen es zwar Theater-Bauten, aber keine eigenen Ensembles gibt. Gerade ist Theater-Gründer Ciulli persönlich unterwegs: das "Kunstfest" in Weimar hat ihn für Anfang September zu mehreren Gastspielen eingeladen.

Entgrenztes Bewusstsein

Derweil setzt das eigene Haus mit Beginn des neuen Theaterjahres auf Veränderungen am eigenen Profil – kein handelsüblicher Spielplan soll in der beginnenden Saison abgearbeitet werden, Haus und Ensemble setzen thematische Schwerpunkte. Mit einem speziellen Motiv - "Rausch" steht im Mittelpunkt, und damit Projekte und Stücke, die zentral von der Entgrenzung menschlichen Bewusstseins erzählen, vom Ich- und vom Kontrollverlust. Immer wieder haben Literatur und Bühnenkunst davon berichtet, davon gelebt.

"Die Bakchen", das 406 vor unserer Zeitrechnung geschriebene Stück des griechischen Autors Euripides, gehört zu den frühesten Beschwörungen dessen, was "Rausch" sein kann im Theater: hier steigt Dionysos, der Gott des Rausches persönlich, in die Stadt Theben herab, und verführt vor allem die Frauen der Stadt zu lustvollen Exzessen zu Ehren des Wein-Gottes Bacchus. So bedroht er die Ordnung der Stadt. Pentheus, deren König, initiiert eine Strafaktion gegen die entfesselten Frauen, erliegt aber letztlich selber den Listen des Gottes, der ihn in die Irre führt – als Frau verkleidet wird Pentheus von den Frauen im Rausch erkannt und in Stücke gerissen. Mit dem Kopf des Sohnes kehrt ausgerechnet dessen Mutter Agaue siegreich in die Stadt zurück… sie hält die Trophäe für einen Löwenkopf und kehrt erst langsam in die Wirklichkeit zurück.

Viel Schlagzeug, viel Korken, Milch und Blut

Philipp Preuss setzt für die aktuelle Mülheimer Fassung ganz auf Rhythmus – ein sehr schlagzeuglastiges Rock-Ensemble legt das Fundament für’s Spiel. Eva Karobath hat Männern wie Frauen spektakuläre Kostüme verpasst, zum Beispiel aus zusammengenähten Korken; da muss viel Wein geflossen sein. Monströse Perücken und Ganzkörperkleider machen fließende Übergänge möglich hin zur Fiktion von Nacktheit, vor allem die Dionysos-Figur verbindet alle denkbaren Zustände von Körperlichkeit. Einzig Pentheus, der mehr und mehr verunsicherte König, trägt zunächst schwarzen Anzug – bis auch er (als er kriegerisch auszieht, und also auch sich selber!) gesalbt und gebadet wird in Milch und Blut; befreit von ziviler Uniform, bereit für den Exzess.

Gebadet, gesalbt und bereit für den Exzess: "Die Bakchen" in Mülheim © Franziska Götzen TAR

Dann allerdings verpasst sich die bis dahin so kraftvolle und verspielte Mülheimer Inszenierung selber eine Art Stoppschild: in Form eines nicht wirklich inspirierenden Ausflugs in die Video-Kunst. Ein neuer Akteur entledigt sich des Korken-Kostüms und mimt in Lederjacke (und irgendeiner regionalen Mundart) einen Jung-Regisseur, der die Entgrenzung des Rausches im Film beschwört. Viel rot-gelbes Infrarot-Gewimmel ist nun zu sehen, unterlegt mit dokumentarischem Material über Selbstversuche mit Drogen und ähnlich rauschfördernden Substanzen; aber weder optisch noch gedanklich ist der Zugriff auf’s Thema jetzt noch zu spüren.

Starkes Finale

Erst das Finale mit der grausam getäuschten Mutter Agaue packt wieder zu – im Kopf, den sie erobert hat, ist eine Video-Kamera installiert, und der tote Sohn Pentheus schaut sich auf diese Weise nochmal das Volk an, das er verraten hat – er sieht uns, das Publikum, wir finden uns gespiegelt im toten Blick. Das ist ein starkes Finale. Und wäre da nicht die gefühlte halbe Kino-Stunde gewesen, "Die Bakchen" wären in Mülheim zur starken Wiederbegegnung mit einem noch viel stärkeren Text geworden.

Ein choreografisches Projekt der Gruppe "Anagoor" folgt dem "Rausch"-Auftakt, dann eine Beschwörung von Herman Melvilles "Moby Dick"-Geschichte, schließlich Ende des Monat das Antonin-Artaud-Projekt von Roberto Ciulli selber – noch einmal will das Theater an der Ruhr wie von vorn beginnen.

Die Bakchen 
von Euripides
Regie: Philipp Preuss, Bühne: Ramallah Aubrecht, Kostüme: Eva Karobath, Video: Konny Keller, Musik: Kornelius Heidebrecht, Timafei Birukov und Rolf Springer, Dramaturgie: Constanze Fröhlich und Helmut Schäfer.
Mit: Albert Bork, Dagmar Geppert,Alina Heipe, Leonhard Hugger, Fabio Menendez, Felix Axel Preißler.
Premiere am 18. August 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause


www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

"Die sechs Ensemblemitglieder, die hinter den fantasievollen Masken und Kostümen bis hin zum sinnfälligen Weinkorken-Umhang kaum identifizierbar sind, folgen dem Rhythmus bis hin zu sprachlicher Punk-Nähe", schreibt Wolfgang Platzeck in der Westfälischen Rundschau (21.8.2023) und würdigt den "Rausch", den diese Inszenierung erzeugt. "Leider unterbricht einmal Ernüchterung den Rausch der Inszenierung, dem der Zuschauer erliegt. Ein Kino-Vorhang fällt, ein " Regisseur" bewirbt, während farborgiastische Bilder an psychedelische Zeiten selig erinnern, sein neuestes Werk, das den Diskurs des Wahnsinns im Film anregen und reflektieren soll. Wo hier ein gemeinsamer Nenner mit Euripides liegt, mögen die Götter wissen."

Philipp Preuss "konzentriert und reduziert" das antike Drama "wesentlich auf den Rausch-Aspekt", "als gelte es, sich und die Zuschauer in eine Art Trance zu versetzen", berichtet Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (21.8.2023). Per Videoprojektion würden die Zuschauer "als Voyeure entlarvt. Dabei gab es für diese – abgesehen von fantasievoll-bizarren Kostümen (Eva Karobath) – gar nicht so viel zu sehen".

Andrea Müller von der Neuen Ruhr/Rhein Zeitung (21.8.2023) hat sich das ganze "Rausch 1"-Festival angeschaut und würdigt Philipp Preuss' Theaterstück en passant: "Die Produktion ist ein sinnliches Spektakel mit ausdrucksstarken Bildern und treibender Musik, die zuweilen an einen rasenden Herzschlag erinnert."

"Philipp Preuss hätte besser daran getan, dem Spannungsaufbau des Stücks aufmerksam zu folgen und das Finale konzentriert vorzubereiten. Es ist so lehrreich wie schockierend", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (22.8.2023). Mit seiner Kommentarebene "verzettelt sich der Regisseur" beziehungsweise verschanzt sich "hinter prätentiösen Imponiergesten, die die Zuschauenden eher einschüchtern, als ihnen interpretierend auf die Sprünge zu helfen": "Statt der unwiderstehlichen Dynamik des (ja erst einmal wieder zu entdeckenden) Stücks zu vertrauen, inszeniert Preuss einen Break, kommt mit Fremdtexten von Michel Foucault und Ethel Adnan um die Ecke, die nicht eben im Vorbeigehen zu rezipieren sind, projiziert einen rotstichigen Experimentalfilm und lässt Leonhard Hugger als dessen 'Regisseur' einen sonderbaren Monolog halten, von dem man nicht recht weiß, ob er rein satirisch gemeint ist oder einen ernsthaften Kommentar zum Geschehen bieten soll – als eine Art 'Ersatzchor'".

Kommentare  
Die Bakchen, Mülheim: Werner Herzog
Der “Jung-Regisseur” soll sicherlich Werner Herzog darstellen.
Die Bakchen, Mülheim: Personen
Philipp Preuß ist künstlerischer Leiter.
Der Schauspieler Leonhard Hugger spielt meiner Meinung nach Werner Herzog und Klaus Kinski und zitiert aus einem Text über den sechsten Tag eines rauschhaften Festes aus einer Dokumentation.
Die Überschrift hier ist sehr reißerisch, aber Blut ist erst ziemlich am Ende da.
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