Hedda Gabler - Katharina Rupp zeigt Ibsens Selbsterschöpfungsklassiker in Münster als Screwballkomödie
Lauerposen in der Sofalandschaft
von Tim Schomacker
Münster, 30. Dezember 2012. Ob General Gabler am Ende doch lieber einen Sohn gehabt hätte? Als Über-Ich in Pop-Art-Manier thront sein Bild im schicken neuen Heim der Tochter. Noch vor den Umzugskartons, den Koffern, den Transportüberzügen der Möbel hat Hedda es ausgepackt. Eben ist sie von der Hochzeitsreise zurück. Und man wüsste zu gern, wie ihre Kindheit wohl ausgesehen hat: Hat sie Frösche aufgeblasen? Papas Pistolen mitgenommen zum schulischen "show and tell"? Dem General von der königlichen Tribüne beim Manöver zugeschaut?
Am Ende jedenfalls wird sie, kurz bevor sie eine der Pistolen in die Hand nimmt, noch ein paar Abschiedsfotos schießen. Von allen, außer von sich selbst. Hedda Gabler wird das Smartphone beiseitelegen, durch die riesigen milchglashellen Schiebetüren ins Off gehen und dieses Leben beenden, das zu leben sie offenbar nie gelernt hat. Finaler Rettungsschuss eines erschöpften Selbst.
Zurück ohne Zukunft
Cornelia Brunn hat für diesen Erschöpfungszustand der letzten "Hedda Gabler" des Jahres ein Interieur von neutral-kühlem Neunziger-Chic gebaut. Zimmer und Hinterzimmer sind sehr hell und sehr hoch. Auf einer galerielangen Konsole steht nur wenig Wohnliches – das Stück ist ja auch vorbei, bevor richtig Zeit ist zum Einrichten und Auspacken –, Blumen werden gleich wieder herausgeräumt. Hübsch, wenn Claudia Hübschmanns Hedda einen Sessel auspackt, der grad so weiß und würfelig daherkommt wie alles andere hier, stutzt und dann sagt: "Im Katalog kam er mir ganz anders vor." Hier will jemand sein Leben zurück – umso schmerzlicher, weil klar ist, dass dieses "Zurück" genauso wenig Zukunft hätte wie die just eingegangene Ehe. Rechts oben ragt eine mit luftigen Jalousien fast vernagelte Fensterfront in den kastenartigen Raum – so dass man bisweilen vergisst, was drinnen ist und was draußen.
In seiner flächigen Leinwandhaftigkeit wirkt der Raum ein wenig zu sprechend für die konzentrierte Handlung, in der alles einen symbolischen Mehrwert mit sich herumschleppt. Auch die geliebten Pantoffeln ihres Neuehemanns Jørgen Tesman – gleichsam Komplementärerinnerungsstücke zu ihren Vaterpistolen – sehen eher nach Katalogware aus als nach sentimentalem Kindheitsplüsch. Nicht zuletzt weist die technische Neudatierung des Stücks – mit Telefonen, Anrufaufzeichnern und Notebooks – auf einen Willen zur Gegenwärtigkeit hin: Regisseurin Katharina Rupp nähert sich ihrem Ibsen stilistisch wie den Gesellschaftsstücken einer Yasmina Reza, eines Patrick Marber oder eines Alan Ayckbourn. Und eckt notgedrungen immer wieder an.
Plüschäffchen Hedda
Plausibel, dass eine Frau von heute nur als Anhängsel ihres privatdozierenden Gatten die Hochzeitsreise erlebt, sich beklagt, sie habe niemanden zum Reden gefunden? Plausibel, wenn der zwecks Familiengründung und Eigenheimfinanzierung sicher geglaubte Professorenstelle Tesmans ganz überraschend ein "Auswahlverfahren" vorangestellt ist? Plausibel, dass einem (wie immer unglücklichen) jungen Ehepaar wegen des ausbleibenden Gehaltssprungs auf Jahre ein gesellschaftliches Einsiedlerdasein blüht?
Peter Zadek hat fatale Frauen von Gablers Schlag einmal mit King Kong verglichen. Wie dessen werde auch ihr Wesen nicht erkannt, man weiche ihr allseits aus. Darum sei am Ende das Leben all der Lulus und Madame Bovarys und Hedda Gablers fatal vor allem für diese selbst. Verglichen damit bleibt die Hedda in dieser schwerfälligen Screwballkomödie ein Plüschäffchen. Auch wenn dieses Selbst sich schlussendlich suizidal erschöpft, sind die Rahmenbedingungen dieser Erschöpfung doch andere als im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Schockgefrostete Momente
Rupp jedenfalls gelingt es nicht, Ibsens psychologische Architektur vollständig in die Gegenwart zu hieven – und etwa Gablers Motivlage an der Biografie einer Bettina-Wulff-artigen Figur neu zu justieren. Nur vereinzelt nimmt sich die Inszenierung Zeit, ihre Figuren auch jenseits des Sprechtextes zu beobachten. Etwa wenn Hedda ihre taktische Freundin Thea Elvsted einen langen, schockgefrosteten Moment mit Blicken in die Enge treibt, nachdem sie gefragt hat: "Kaffee?" Wenn Hübschmann auf der Sofalandschaft raubtierartige Lauerposen so sehr ausdehnt, dass ihre Gefährlichkeit einer Verzweiflung weicht. Oder wenn sie Thea zu Leonard Cohens Dance Me To The End Of Love mehr nötigt als zum Tanzen animiert.
Zwischenzeitlich gelingen diese analytischen Konstellationsverschiebungen auf der einladend breiten Bühne. Allein Gerhard Mohrs treffend an die joviale Schmierigkeit nerviger Immobilienmakler herangespielte Figur des Anwalts und strategisch planenden Hausfreunds Brack ist Selbst genug, im Zadeksinne zurückzuschrecken vor diesem Ibsen-Wesen. Christoph Rinkes arg lieber Tesman taugt kaum zur verpassten Aufstiegsaussicht und Aurel Bereuters früherer Hedda-Geliebter Eilert Løvborg wirkt zu sehr nach lebensunlustigem Modemodell als dass seine Rückkehr in die Stadt den fatalen Stein wirklich ins Rollen bringen könnte. So scheint diese Hedda schließlich eher daran zu verzweifeln – dass sie niemanden hat, an dem sie wirklich verzweifeln könnte. Nicht einmal sich selbst.
Hedda Gabler
von Henrik Ibsen
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Katharina Rupp, Ausstattung: Cornelia Brunn, Dramaturgie: Kathrin Mädler.
Mit: Aurel Bereuter, Claudia Hübschmann, Johanna Marx, Gerhard Mohr, Christoph Rinke, Carola von Seckendorff.
Dauer: 2 ¼ Stunden. Eine Pause
www.theater-muenster.com
Alles über die Regisseurin Katharina Rupp auf nachtkritik.de, Schauspieldirektorin des Theaters Biel-Solothurn, im Lexikon.
Von einer "psychologisch differenzierten und äußerst spannenden Inszenierung" spricht Helmut Jasny in der Münsterschen Zeitrung (2.1.2013). "Der Zuschauer erlebt die letzten Stunden einer Mörderin und Selbstmörderin direkt an ihrer Seite mit." Neben der klugen Regiearbeit überzeugt die Inszenierung den Kritiker auch "durch hervorragende schauspielerische Leistungen. Allen voran Claudia Hübschmann, die in der Rolle der Hedda Gabler eine fast schon unheimliche Aura verbreitet."
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