Der Mensch als Wurm

8. September 2023. Ein Bild dient als Vorlage für diesen Theaterabend, das berühmte Triptychon von Hieronymus Bosch. Im Garten der Lüste ergeht die Menschheit sich in all ihren Spielweisen, und in Philippe Quesnes Inszenierung wird das lebendig – mit inspirierender Offenheit.

Von Gerhard Preußer

Eiersuche im Garten der Lüste, in der Regie von Philippe Quesne © Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2023

8. September 2023. Eine Panne, der Reisebus fährt nicht weiter, ein banaler Tourismusschadensfall. Die Reisegesellschaft stolpert aus dem Bus und sieht sich um. So locker und alltäglich beginnt Philippe Quesnes neuestes Werk, nach der Premiere beim diesjährigen Festival d'Avignon nun bei der Ruhrtriennale in Duisburg. Aber schon am Anfang schimmert durch, hier geht es um mehr, um alles, um die Menschheit, nein, um das Universum. Ein riesiges Ei, an einem Ende geöffnet, wird hereingetragen, feierlich mit Flötenmusik umkreist und rituell zärtlich und ehrfürchtig begrüßt. So wird die missliche Trivialität sofort aufgeladen mit Bedeutung, die in alle Richtungen diffundiert. Die Phantasie kommt in Gang. 

In Avignon fand die Aufführung im Steinbruch von Boulbon satt (die Videoaufzeichnung ist noch bei Arte zu sehen). In der Kraftzentrale des alten Stahlwerks in Duisburg ersetzt ein riesiger Prospekt die Steinwände. Man sieht darauf eine nordische Küstenlandschaft, schroff, baumlos, mit seltsamen Lichtern am Himmel darüber: die Erde wüst und leer, vor oder nach der Menschheit. 

Umnutzung des Zivilisationsgefährts

Die steckengebliebenen Bustouristen gehen freundlich miteinander um. Alle Entscheidungen werden per Abstimmung mehrheitlich getroffen. Man organisiert einen Lesekreis, vorgetragen wird alles Mögliche, auch ein Gedicht von Georges Perec über die Ewigkeit: "Alles ist Fortdauer und Erinnerung" heißt es darin. Eine Zukunft scheint es nicht zu geben. Jeder darf hier seinen Lieblingstext vortragen. Sébastien Jacobs spielt Viola da Gamba und singt dazu eine Arie von Purcell über die Schönheit der Musik, liest außerdem dramatisch polternd in klangvollem Italienisch Verse aus Dantes Beschreibung der Hölle vor. Auf dem Dach des Busses wird Shakespeares Sonnett 35 rezitiert, über Untreue, Vergebung und den Bürgerkrieg zwischen Hass und Liebe. Die ganze Menschheitsgeschichte steht zur Verfügung. 

Garten der Lueste3 1200 Katrin Ribbe Ruhrtriennale u Jam Session vorm Reisebus © Katrin Ribbe Ruhrtriennale 2023

Dann versammeln sich alle wieder im Bus, summen vor sich hin, daraus wird ein anschwellender Gesang mit solistischen Einlagen, ganz ohne Worte, der sich zu einer Intensität steigert, der man sich nicht entziehen kann. Quesne schafft große Wirkungen mit unspektakulären Mitteln. Der Gesang der Eingeschlossenen im Zivilisationsgefährt führt zu einer Befreiungsaktion. Der Bus wird zerlegt mit Fußtritten und einer funkensprühenden Flex. Der leergeräumte Bustorso wird zu einer Bühne für eine billige Zaubershow und einen Karaoke-Operngesang. Ein Redner warnt wortreich vor dem Ziel, die Welt zu retten. Eine Zwischenfrage: "Wie können Sie absolut sicher sein, dass die Erde nicht die Hölle eines anderen Planeten ist?" macht ihn sprachlos. Als einer mit einem Presslufthammer den Betonboden bearbeiten will, wird er schnell daran gehindert. Pragmatische Politiker und Presslufthämmer, das sind die Gegner, die man zum Schweigen bringen muss. Doch dann kommt ein mächtiges Gewitter, und alles wird anders.

Der Ursprung sind nicht wir

Nun endlich kommen wir zum Bild des Titels: "Der Garten der Lüste". Die Schauspieler:innen tragen Kostüme aus der Renaissance. "Wir befinden uns im Mittelteil des Triptychons", erklärt uns ein Mönch. Aber wir sehen das Bild nicht. Quesne bezieht die ganze Aufführung auf dieses Bild, aber die Bezüge sind subkutan, nicht sichtbar. Hieronymus Bosch hat es etwa 1490 gemalt, es hat drei Flügel, links das Paradies, rechts die Hölle, in der Mitte eine rätselhafte Idylle, voll von nackten Menschen, seltsamen Tieren und Mischwesen. Der Mönch auf der Bühne erklärt uns nun, Hieronymus Bosch sei von dem flämischen Mystiker Jan van Ruysbroek beeinflusst. Für den war ein kleiner runder Stein ein Spiegel des gesamten Kosmos. Und Boschs Bild zeige nicht die Sünde der Wollust, sondern die Winzigkeit der Menschen. Wir sind nur kleine Würmchen im Universum. 

Das ist zwar nicht ein intellektueller roter Faden der Aufführung, aber doch so etwas wie ein gedanklicher Teppich mit Löchern und Knoten, begehbar, aber nicht richtungsweisend. Auch vorher war schon davon die Rede, dass alle Wesen eins sind, einschließlich der Steine. Einer der Darsteller hielt einen Vortrag darüber, dass die Krustentiere eigentlich die Grundlage der Evolution seien. Unbildlich gesprochen: Die untergeordnete Stellung der Menschheit im Kosmos ist das Thema dieser Inszenierung.

Erlösung oder Untergang?

Und folglich ist die Menschheit erlösungsbedürftig. Das Ei wird gekippt, alle sehen in die Höhlung hinein, genau wie eine kleine Menschengruppe auf Hieronymus Boschs Bild. Ein Wummern und Dröhnen hebt an, am Himmel des Prospekts erscheint ein Dreieck, wird immer größer, füllt die ganze Fläche. Alle starren es begeistert an, als wäre es die göttliche Trinität – und es verschwindet. Ob das Erlösung war oder Untergang? Quesne erreicht eine emotionale Öffnung. Man wird nicht fokussiert, sondern durchlässig für Stimmungen. Die Gelassenheit und Sorgfalt so verschiedener Bühnenaktionen und Texte führt zu einer ratlosen, kühlen Heiterkeit, die zu den seltenen Theaterwirkungen gehört.

Der Garten der Lüste
von Philippe Quesne, Vivarium Studio
Konzept, Bühne, Szenografie: Philippe Quesne, Mitarbeit Szenografie: Elodie Dauguet, Kostüme: Karine Marques Ferreira, Mitarbeit Dramaturgie: Éric Vautrin.
Mit: Jean-Charles Dumay, Léo Gobin, Sébastien Jacobs, Elina Löwensohn, Nuno Lucas, Isabelle Prim, Thierry Raynaud, Gaëtan Vourc'h.
Premiere im deutschsprachigen Raum am 7. September 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

Das Stück zeige "eine störrische und poetische Weigerung, dem Perfektionsdrang globaler Event-Kultur auch nur die kleinste Chance zu lassen", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (9.9.2023). "Seine Wüstenpilger und -pilgerinnen sind zwar definitiv selbst Exhibitionisten. Aber sie modellieren sich weder nach Instagram, noch folgen sie dem hektischen Tempo digitaler Selbstdarstellung. Sie haben nicht einmal Mobiltelefone." Das Schmunzeln und Lachen, das der Abend reichlich auslöse, sei immer mit der ziemlich ernsten Frage verbunden, ob es denn wirklich Sinn ergibt, wie die Menschheit gerade lebt.

"Wissenschaft und Ästhetik greifen ineinander in dieser künstlerischen Forschung zwischen Philosophie, Politik, Ökologie und kindlicher Albernheit. Es gibt viel zu staunen, aber auch zu lachen", schreibt Bertram Müller in der Rheinischen Post (9.9.2023). "Den Mitgliedern des Vivarium Studio gelang es in ihrer Ensembleleistung, die verstörende Atmosphäre des Stücks bis zum Ende aufrechtzuerhalten, zugleich seinen Witz auszuspielen und dem erfreulich aufgeschlossenen und lange applaudierendem Publikum Zuversicht mit auf den Weg zu geben: die Utopie eines Gartens, in dem alle in Frieden leben.

"Eine faszinierende Produktion, fast so phantastisch-surreal wie das Gemälde von Bosch", schreibt Klaus Stübler in den Ruhr Nachrichten (9.9.2023)

Kommentare  
Garten der Lüste, Ruhrtriennale: Jottseidank nachholbar
Der Abend verliert schon viel mit seinem äh Protagonisten, dem ehemaligen Steinbruch Carrière de Boulbon, jottseidank ist dies auf arte nachholbar:

https://www.arte.tv/de/videos/114665-001-A/theaterfestival-von-avignon-2023/

Ich kann nur empfehlen - selbst denen, die bei der Ruhrtriennale waren - hier hineinzuschauen. Zauberhaft, absurd und komisch. Allein die Pointe mit den Zikaden... viel Spaß dabei!
Garten der Lüste, Ruhrtriennale: Nachtrag des Nachtkritikers
Weil die Aufführung auch noch an anderen Orten zu sehen sein wird, ein Nachtrag zum Verhältnis von Bild und Theater:
Der erste Teil entspricht dem linken Flügel des Bildes von Hieronymus Bosch, dem Paradies. Mit der Rede des Politikers, dem Presslufthammer und dem Gewitter ist man auf dem rechten Flügel, in der Hölle. Dann erst kommt der eigentliche Mittelteil, der Garten der Lüste. Wenn man das bedenkt, wird das Ganze noch lustiger.
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