Nach den letzten Tagen - Ruhrtriennale
Vergangene Musik, künftiger Rassismus
von Gerhard Preußer
Bochum, 21. August 2019. Leise, ganz leise hört man Klaviermusik, im pianissimo von einem Klavier hinten oben in der riesigen weiten Halle und aus den Lautsprechern. Zum Hinhören wird man verführt, angereizt durch entfernte, unklare, sich überlagernde Klänge. So sichert sich Marthaler von Anfang an die Aufmerksamkeit für sein szenisches Konzert, durch Reduktion, nicht durch Expansion. Musik kurz vor dem Verschwinden, von Anfang an.
Audimax statt Parlament
Die Letzten Tage in Wien waren nicht die allerletzten. Nach Christoph Marthalers und Stefanie Carps gleichnamigem Projekt bei den Wiener Festwochen 2013 gibt es nun "Nach den letzten Tagen“, eine Neufassung im nicht enden wollenden Marthalerschen Endzeitzyklus. Die für das Wiener Parlamentsgebäude konzipierte Produktion wurde zur Eröffnung der Ruhrtriennale 2019, Carps zweiter als Intendantin, in das Audimax der Ruhr Universität Bochum übertragen, umbesetzt und erweitert.
Zwei disparate, in ihrer Gegensätzlichkeit zusammengehörende Bestandteile hat der Abend: Musik und Text, Musik von Komponisten, die während des Naziregimes umgebracht wurden oder emigrieren mussten, und Texte gegenwärtiger, vergangener und künftiger Antisemiten, nationalistischer Politiker und alltäglicher Fremdenfeinde. Der Grundstock der Texte bleibt auch in Bochum österreichisch: eine Rede des Wiener Bürgermeisters Lueger von 1894, ein Interview mit der FPÖ-Spitzenkandidatin Susanne Winter von 2007. Wie in Wien wird zunächst die Fiktion etabliert, man sei bei einer Feier zur Aufnahme des europäischen Rassismus in das Weltkulturerbe. Allenfalls die Reverenz vor dem "Kaiser von Habsburg-Europa" wird zu der vor dem "Kaiser von Hohenzollern-Europa".
Brutalisierter Jubel
Nur gelegentlich findet sich eine aktuelle bundesdeutsche Versatzvokabel im rechten Wortsalatgeschwabbel: Gaulands "Vogelschiss". Als Eröffnung eines Festivals im Ruhrgebiet ist das zu wenig an Aktualität und Lokalität, wenn man politisches Musiktheater machen will. Und zu kurz gedacht ist es, wenn man die gegenwärtige Krise der Demokratie nur als Wiederkehr des Faschismus versteht.
Das Audimax in Bochum ist auch nicht das österreichische Parlament von Wien. Es ist ein riesiges Oval mit 1750 Plätzen, eine Arena für Feierlichkeiten. Die eine Hälfte nimmt das Publikum ein, in der anderen turnen, sitzen, gestikulieren oder schlafen die Schauspieler und Sänger in, auf oder unter den Sesselreihen. Das Missverhältnis zwischen der gähnenden Leere des Spielraums und den vereinzelten Aktionen der Schauspieler wird selten produktiv. Zu einer Rede Viktor Orbans, dem das angeblich von Franz-Josef Strauß stammende Bonmot "Wir sind Demokraten, wir brauchen keine Opposition" in den Mund gelegt wird, hämmert zunächst ein Pianist wütend Phrasen aus Beethovens "Freude schöner Götterfunken" in den Flügel – brutalisierter Jubel.
Am Ende übernimmt die Musik
Dann sitzen alle Schauspieler vereinzelt in den Sitzen und interpunktieren die Orban-Rede mit kleinsten, mehrstimmigen Fragmenten eben dieses Beethoven’schen Menschheitsverbrüderungshymnus – zerstückelt, aber immer noch schön. Das ist kein agitatorisches Gegeneinander von Musik und Text, sondern eine feine Mischung von Aggression und Resignation, von Dummheit und Schönheit. Aber zu oft erschöpft sich der szenische Kommentar zur Musik in schlichten Kleinaktionen.
Bleibt die Musik. Im letzten Drittel des Abends dominiert sie sowieso. Nach dem die brillante Sängerin Tora Augestad mit einem superfetzigen Volksmusikschlager "Meine Heimat" (vom mit rechtsnationalen Symbolen liebäugelnden Steirer Andreas Gabalier), der noch mit der großen Orgel des Audimax aufgedonnert wird, einen satirischen Kontrapunkt zur feinen Musik des sechsköpfigen Musikensembles gesetzt hat, sitzen die Schauspieler nur noch in den gegenüberliegenden Zuschauerreihen und hören zu, wie wir auch: Luigi Nonos Klangcollage zur Erinnerung an Auschwitz, eine kleine Kantate von Józef Koffler mit dem biblischen Text über die Liebe (1. Kor. 13), ein Tango von Ervin Schulhoff und immer wieder ein Fragment von Viktor Ullmann, 1944 notiert kurz vor seiner Ermordung in Auschwitz, eigentlich nur eine Melodie, die Uli Fussenegger, der musikalische Leiter des Abends, in immer neuen Variationen präsentieren lässt.
Am Schluss erklingt ein Choral eines anderen jüdischen Komponisten: Felix Mendelssohns "Wer bis an das Ende beharrt, wird selig". Zunächst singen die Schauspieler ihn langsam dahinschreitend oben in der hintersten, höchsten Stuhlreihe, dann singt das Instrumentalistenensemble den Chorsatz ohne Worte mit. Die beiden Gruppen verschwinden, singen aber weiter, man hört sie noch sehr lange durch die Wände dieser Bochumer Betonkathedrale, bis der Klang in Stille und Dunkelheit wieder verschwindet. "Wer bis an das Ende beharrt …" Viel zu schön ist dieses Ende eines schwachen Abends, um daraus eine Schlusspointe zu machen.
Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend
von Christoph Marthaler, Stefanie Carp und Uli Fussenegger
Regie: Christoph Marthaler; Musikalische Leitung: Uli Fussenegger, Texte und Konzeption: Stefanie Carp, Bühne: Duri Bischoff, Kostüm: Sarah Schittek, Licht: Andreas (Phoenix) Hofer, Sound Design: Thomas Wegner.
Mit: Tora Augestad, Benito Bause, Carina Braunschmidt, Bendix Dethleffsen, Walter Hess, Claudius Körber, Katja Kolm, Stefan Merki, Josef Ostendorf, Elisa Plüss, Bettina Stucky. Musik: Uli Fussenegger, Hsin-Huei Huang, Claudia Kienzler, Michele Marelli, Sophie Schafleitner, Martin Veszelovicz.
Premiere am 21. August 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.ruhrtriennale.de
Kritikenrundschau
Marthalers "Spätabend" wirke wie ein abschließendes Wund- und Signalpflaster auf die letztjährige Debatte, so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (26.8.2019). Der Abend imaginiere eine Gedenkfeier in der Zukunft, bei der auf 200 Jahre Holocaust zurückgeblickt und der Rassismus zum Unesco-Weltkulturerbe erhoben wird. "Eine mit grober Deutlichkeit zusammengestellte Collage aus Hassreden und Rassismen. In dieser geballten Ladung ist das eine echte Zumutung, abgemildert allenfalls durch den Umstand, dass es die sonst so liebenswürdigen Marthaler-Sonderlinge sind." Der Abend basiere auf einem Projekt, das Marthaler 2013 sehr ähnlich im Wiener Parlament inszenierte. "Im Ruhrgebiet wirkt die Textcollage allzu österreichlastig, sind die zentralen Bausteine doch geblieben." Ergreifend sei die Einspielung von Luigi Nonos Auschwitz-Gesängen für Chöre vom Tonband. Gegen Ende werden die Gedenkfeierlichen immer marthalerischer, verfalle man in Zuckungen oder falle um. "So verdämmert der Abend schmerzhaft schön, vom Publikum, das auf Distanz gehalten wurde, aber nur mäßig beklatscht."
Viel feine Ironie, suggestive Musik und herzzerreißenden Gesang biete der Abend, aber auch Banales und seltsam Unreflektiertes, schreibt Regine Müller in der taz (24.8.2019). "Die berührenden Momente des Abends gehören der Musik, die Uli Fussenegger ausgewählt, grandios arrangiert und instrumentiert hat." Und weiter: "Problematisch dagegen bleiben die Texte, die populistische und antisemitische Äußerungen eins zu eins wiedergeben und einzig durch das ironische Spiel der Darsteller konterkariert werden. Das wirkt auf die Dauer enervierend banal und lässt tiefer lotende Analysen vermissen."
"So radikal, so unkulinarisch und explizit zeitkritisch war Marthaler noch nie", schreibt Daniele Muscionico in der NZZ (23.8.2019). "Wie so oft bei einer Inszenierung Marthalers ist dessen Sprache nicht das Wort, sondern der Klang. Wenn er am Ende Luigi Nonos Komposition über Auschwitz mit seinen eigenen Figuren der ermordeten Komponisten verbindet und sie in den leeren Rängen verteilt, wird aus der Synthese zwischen dem Bild des Leidens und Nonos Geräusch gewordenem Leiden ein Drittes – grosse Kunst."
"Der Applaus nach der gut zweieinhalbstündigen Aufführung war verhalten. Die typische Marthaler-Poesie wirkt nur in einigen Momenten, der Humor fehlt fast ganz oder wirkt - wie in einer völkischen Schlagereinlage – fehl am Platz." Das Herz der Aufführung sei die Musik, so Stefan Keim auf SWR 2 (22.8.2019).
"In schaurig-komischer Erbitterung, deren satirischer Gehalt den der ZDF-'heute-Show' nicht überwindet, kommen parlamentarische Debattierer, Feierstündler, Schönredner und Erinnerungs-Profis zu Worte“, schreibt Andreas Wilink auf Spiegel Online (22.8.2019). Und weiter: "Den akustischen Echoraum zu Carps unterkomplexem Kurzschluss zwischen Faschismus und dem akuten Notstand demokratischer (Geistes-)Verfassung bilden diese Fragmente, Intermezzi, Variationen, Kantaten, Sonette in kammermusikalischer Besetzung: wehmütig, lebenstraurig, schwindend bis ins fast Unhörbare - unbedingt modern."
"Unter allen Versuchen, der verzerrten Fratze des Rechtsnationalismus, Antisemitismus und Rassismus der Gegenwart mit Kunst zu begegnen, ist das ganz sicher der bisher musikalischste. Marthalers Truppe singt wie immer betörend. Es gibt auch kleine choreographische Momente, die Humor stiften; das Verstörende überwiegt aber", so Karin Fischer vom Deutschlandfunk (22.8.2019).
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Andererseit ist mir die Textebene dieser Produktion viel zu simpel: die schlimmsten Schnipsel aus AFD- und FPÖ-Reden zu einem Medley zusammenzuschneiden und dann die "Ode an die Freude" dazwischen zu hauen, ist Theater-AG-Niveau. Das würde einem kein Dramaturgie-Prof. durchgehen lassen.