Play* Europeras 1 & 2 – An den Wuppertaler Bühnen geht Rimini Protokoll mit John Cage auf europäische Suche nach der Oper
Ohnmacht des Schicksals
von Andreas Wilink
Wuppertal, 2. Februar 2019. Nein, es ist nicht alternativlos. Der Optionen sind viele. Man hat die Wahl. Prinzip Zufall – für John Cage eine Urformel. Darauf basierte unter dem Titel "Rolywholyover: A Circus for Museum by John Cage in Los Angeles" etwa eine 1993 von dem Komponisten und Propagandisten der Fluxus- und Happening-Bewegung kuratierte Ausstellung. Die Kunst wird zur Schaltstelle. Goethe spricht vom "Freihandel der Gefühle und Begriffe" – Tauschware im besten Sinne, auch im Sinn des Vertauschens, eines multiple choice-Verfahrens. So lässt sich "Europeras" hören und verstehen.
Mechanismen offenlegen
Die fünfteilige Werkserie, deren Teile 1 & 2 in Frankfurt am Main 1987 uraufgeführt wurden, stöbert im Fundus der Gattung Oper und destilliert deren klassisches Repertoire wie in der Retorte. Man könnte Cage einen Alchemisten nennen. Eine gewissermaßen unendliche Melodie hebt an und ruft in den Echoraum der Hochkultur. Abfolge und Auftritte unterliegen keiner festen Ordnung. Eine demokratische, dezentrale Auflösung – Cage würde vielleicht von Erlösung gesprochen haben. So konstruiert sich ein vexatorisches Spiel aus der Dekonstruktion heraus. Das chinesische Orakel I Ging, als Buch der Wandlungen das dynamische Prinzip vertretend, ist Cages Grundgesetz.
Es kommt nicht alle Tage vor, dass das Projekt realisiert wird. Eigentlich fast nie. 2012 hat der Cage-Kollege Heiner Goebbels es zur Eröffnung seiner Ruhrtriennale-Intendanz üppig und prächtig eingerichtet. An den Wuppertaler Bühnen betreibt Daniel Wetzel die Kunst der Montage. Zeigen, wie etwas funktioniert, Mechanismen offenlegen, Inwendiges nach außen stülpen: das ist angewandte Methode von Rimini Protokoll und den postdramatischen Performances, Recherchen und Analysen des Kollektivs. In Anlehnung an seine szenische Installation Situation Rooms ließe sich für "Europeras" von Situation Sounds sprechen. Eine Rechnung mit Variablen, ob Mensch oder Note. Die Ziffer 64 bildet das Raster der Aufführung, die gleichwohl nicht ohne Festlegung bleibt. Gestaltete Anarchie.
Schicksal spielen
Am Papier-Modell eines Guckkastentheaters würfelt im Opernhaus Wuppertal eine Dame in Schwarz-Rot (Lucia Lucas), die man für Verdis Zigeunerin aus "La Forza del Destino" oder Bizets Carmen halten möchte. Ob sie Schicksal spielt? Wetzels Team entscheidet sich bei seiner Durchführung, gemäß der europäischen Landkarte, für eine soziale Geografie – von St. Petersburg und Riga, Wien, Neapel, Athen und Istanbul bis Valencia und London, um wie auf dem Schachbrett mit 64 Kästchen die musikalischen "Ermittlungs-Operationen zu organisieren". Live und per Videoprojektion.
Eine Bühnenwand voller Monitore collagiert und fragmentarisiert die Alte Welt. Schriften mit gefühligen Regie-Anweisungen erzählen in der Summe eine absurde Handlung. Einspieler mit Sangeskünstlern an diversen Orten des Kontinents wechseln mit Stadtansichten und Leuten, die Verrichtungen und ihren Geschäften nachgehen, Einkäufe machen, arbeiten, sportiv sind, sowie mit historischen Gemälden, Fotografien und Landkarten.
Ruheloses Auge, nicht müde werdende Lust
Wir hören die trauernde "Traviata", Wagners Wotan, Barockes und Belcanto, ein Zuckerl Mozart, impressionistische Tupfer, den Leichtsinn der "Fledermaus" etc. Jeder inbrünstige Arien-Vortrag ist ein Ansingen gegen die Vergeblichkeit. Das Kraftwerk Oper konzentriert und verschwendet seine Energien. Cage, ohnehin kein raunender Beschwörer des Imperfekts, schließt so auf zur Gegenwart. In diesem Teil (2) bis zur Pause sind die Interpreten in den Clips Sängerexperten des Alltags und gerade darum ganz bei sich. Hier findet das Dramaturgische, Ästhetische, Rhetorische der Oper aus Wort, Klang, Bild und Sinn – nicht allein von Richard Wagner her gedacht – zur komplexen Gesamtheit, die nicht niederdrückt, vielmehr sich von Beschwernis erholt. Das Auge ist ruhelos, der Kopf hat gut zu tun, die Lust wird nicht müd.
Materialermüdung
Danach sind erst mal die Leinwände abgeräumt. Und es folgen anderthalb Stunden, da wir nichts voneinander wussten – Parcours, Potpourri, Panoptikum. Emotion und Passion zeigen sich als rührend leere Pathosformeln, isoliert im Zusammenhanglosen. Requisiten, Kulissen und Pappkameraden werden aufgefahren. Das Kostüm macht die Figur. Die Maske wird demaskiert, die Illusion desillusioniert. Das Rokoko geht fremd. Die Königin der Nacht erscheint als Zofe. Madame Butterfly trägt Walküren-Rüstung. Die Statisterie revoltiert verhalten. Das Ensemble hantiert mit Schwert, Krücke, Kreuz, Spiegel oder Schweineschinken, fungiert als Schild-Bürger, der betrübliche Parolen über die Wertegemeinschaft EU und die Misere des Bühnenangehörigen ("Libretto-Prekariat" / "Wir sind die SZENen-Buddhisten") hochhält, zum Besten gibt und vor Kalauern nicht bange ist. Dabei willentlich gestört von Laut-Kundgebungen und Zeichensetzungen aus dem Publikum, das damit brav der Regie Folge leistet. Manchmal wird die Maschine zur Muse, wenn eine Scheinwerfer-Batterie zu Rossini choreografisch in die Schwebe gerät.
Bald schon aber tritt Materialermüdung ein. Als Intervention, Manifest und Abgesang auf Europas Zukunft wirkt es herbeizitiert; als ironisch selbstreferentielle Feier der Oper ist es erschöpfend. Allein, das Argument gegen die dürftige zweite Hälfte der Aufführung entkräftet diese selbst mit der Sentenz: "Wir werden nie erwachsen."
Play* Europeras 1 & 2
von John Cage
Musikalische Leitung: Johannes Pell, Inszenierung: Rimini Protokoll / Daniel Wetzel, Bühne & Kostüme: Katrin Wittig, Co-Regie: Alexander Fahima, Licht: Fredy Deisenroth, Video: Expander Film, Lilli Kuschel, Stefan Korsinsky.
Europera 1: Mark Bowman-Hester, Sebastian Campione, Jasmin Etezadzadeh, Nina Koufochristou, Sangmin Jeon, Denis Lakey, Lucia Lucas, Ralitsa Ralinova, Iris Marie Sojer, Liudmila Slepneva.
Europera 2: Ceren Aydın Akkoç, Roman Arndt, Silvia De Stefano, Anush Hovhannisyan, Lucia Lucas, Aphroditi Patoulidou, Sebastià Peris, Johannes Schwendinger, Armands Silins.
Sinfonieorchester Wuppertal
Premiere am 2. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.wuppertaler-buehnen.de
Kritikenrundschau
In Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (2.2.2019) spricht Stefan Keim von einer "Hommage an die Oper", bei der ein ganz "eigener Sound" kreiert worden sei. Obwohl jeder etwas anderes spiele und es schräg klinge, mache die "spielerische und unverkrampfte Art, mit diesem musikalischen Erbe umzugehen", Lust auf mehr. Der Abend gefiel ihm sehr gut.
Auf Deutschlandfunk sprach Ulrike Gondorf in Kultur heute mit Katja Lückert: In "Europeras" zerlege John Cage das "komplexe Gesamtkunstwerk Oper in seine einzelnen Komponenten, in Arie, Begleitmusik, Kostüm, Bühnenbild, Gestik, Beleuchtung". Doch "das Chaos geht in Ordnung. Alles ist am falschen Platz wie im richtigen Leben". Im ersten Teil (der erst nach der Pause gespielt werde) sängen zehn Damen und Herren aus dem Wuppertaler Opernensemble "stimmschön und hingebungsvoll". Ein "kulinarisches Wunschkonzert", "raffiniert angereichert durch das Spiel mit Erwartungen und Wahrnehmungen des Publikums"und Wetzels Regie regiere "das geplante Chaos mit Witz und Umsicht". Das genüge dem politisch engagierten Theaterkollektiv Rimini-Protokoll aber nicht. Und so suche der Abend in einer "Video-Installation mit singenden Menschen vom krisengeschüttelten Rand des Kontinents" noch "einen Standpunkt zu Europa". Und Beleuchtungsstatisten brächten auf Plakaten ernst gemeinte Fragen zu Europas Zukunft auf die Bühne. Das habe nichts mit John Cage zu tun, störe aber auch nicht weiter.
In der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (online 3.2.2019, 17:42 Uhr) schreibt Pedro Obiera: John Cages "Europeras" gehörten zu den "radikalsten Beiträgen des zeitgenössischen Musiktheaters" und zu den aufwändigsten für mittlere Opernhäuser. Die Wuppertaler Oper verdiene schon allein deshalb "vollen Respekt". Rimini Protokoll hätten die "Radikalität des Werks durch clowneske Spielereien streckenweise entschärft". Gleichwohl habe sich Cages "Negation der Oper" als eine "Vivisektion der Oper bei vollem Bewusstsein entpuppt". Lasse sich der erste Teil "zumindest formal noch einigermaßen gut erfassen", so prallten im zweiten Teil "pausenlos und simultan ein ganzes Arenal an Orchester- und Singstimmen auf den Zuschauer ein", was eine Identifizierung der Arien verhindere. Dass sich "die politische Akzentuierung" des ersten Teils und der "spielerische Umgang" mit "Europeras 2" in einer "konzeptionellen Geschlossenheit" entzögen, passe zur "zersplitterten und jeder gängigen Logik ausweichenden Struktur des Werks". Damit leiste Wuppertal einen mutigen Beitrag zum zeitgenössischen Musiktheater. Das Haus sei auf "dem besten Weg zu einer stabilen Ensemblepflege". Die 18 Sänger leisteten "im Team Überragendes". Ebenso das Wuppertaler Sinfonieorchester.
In der Westdeutschen Zeitung (online 3.2.2019, 21:00 Uhr) beschreibt ein Anonymus John Cages Tohuwabohu: Zehn Sänger des Wuppertaler Ensembles stünden "mal auf dem einen, mal auf dem anderen der 64 Felder des Bühnenbodens", gäben "gesanglich erstklassig" berühmte Opernarien oder Arienschnipsel zum Besten, doch deren Handlung sei "konträr zum Inhalt": "Ist etwa das Lied traurig, wird Freude dargestellt". Auch die Kostüme passten nicht dazu, mit Requisiten werde zusammenhanglos hantier, Lichttraversen bewegten sich auf und ab, "ebenso etliche Bühnenbilder". Im Graben komme man ohne Dirigenten aus. Jedes Mitglied des kleinen Kammerorchesters spiele "unabhängig voneinander gediegen" seine Noten.Das Regieteam um Daniel Wetzel trage "Cages Absicht exzellent Rechnung". Für diejenigen, "die offen sind für Irrationalitäten", die "Aufhebung von eingefahrenen Mustern", sei diese Produktion "ganz großes Kino". Sie erweitere den Blick und mache es möglich, sich "konstruktiv" mit "fremden Opernstrukturen" auseinanderzusetzen. Etliche Premierengäste schienen aber damit "überhaupt nicht klar zu kommen" und seien gegangen.
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