Der Klassenbeste

von Sascha Westphal

Wuppertal, 11. Mai 2019. Eine zweiteilige geweißelte Wand verengt die Spielfläche zu einem nur ein paar Meter breiten Streifen. Große Teile dieses Walls, der keinen Schutz bietet, sind von roter Farbe überdeckt. Ein Nebel oder auch eine Wolke aus Blut, vor der sich acht nur mit beiger Unterwäsche bekleidete, glatzköpfige Gestalten versammeln. Zu düster drohenden elektronischen Klängen, einer grollenden Maschinenmusik, die von jenseits der Mauer in den Raum dringt und Schlachtenlärm andeutet, zucken sie hin und her. Sie krümmen und verrenken sich, werden von Anfällen geschüttelt und von körperlichen Ticks verzerrt.

Gesellschaft im Ausnahmezustand

Einer der Acht, Alexander Peiler, beginnt, die berühmten ersten Zeilen Richards, "Now is the winter of our discontent...", auf Englisch zu rezitieren. Miko Greza stimmt wenig später auf Deutsch ein. Die anderen schließen sich nach und nach an. Weitere Sprachen kommen hinzu. Die Verse wiederholen und überlagern sich, werden unverständlich, während die Stimmen einen infernalischen Kanon bilden. Anschwellender Bocksgesang einer Gesellschaft im permanenten Ausnahme- und Kriegszustand. Irgendwann tritt dann Thomas Braus dazu. Er kommt von oben aus dem Publikum herunter und betrachtet seine Doppelgänger. Sobald auch er Richards Monolog spricht, kann kein Zweifel mehr bestehen. Er ist es, der die Rolle des verwachsenen und entstellten Herzog von Gloucester für sich beansprucht, der fortan "den Dreckskerl", wie es in Thomas Braschs Übersetzung heißt, aufführen wird.

RichardIII2 560 Uwe Schinkel uStreber der Macht: das Wuppertaler Ensemble spielt auf der Bühne von Hanna Rode © Uwe Schinkel

Ein gewaltiger Auftakt, ebenso verstörend wie mitreißend. Richard, dieses intrigante, von Hass und Minderwertigkeitsgefühlen zum Bersten angefüllte Monstrum, ist in Henri Hüsters Inszenierung kein Einzelfall und schon gar keine Ausnahme. Das Königsdrama wird von einem Ensemble weiblicher wie männlicher Richards aufgeführt, die sich mit ihren Kostümen tarnen und unter Perücken verbergen. Hüster nimmt die Ideen, die der Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorf 1992 in "Politik in Shakespeares Dramen" formuliert, quasi wörtlich und liest die auch im Programmheft zitierte Analyse wie eine Regieanweisung. Richards "Aufstieg bis an die Spitze ist unaufhaltsam, weil er der Intelligenteste, der Klassenbeste unter Seinesgleichen, den Politikern ist".

Mitschüler desklassiert

Folglich spielt Thomas Braus diesen "Klassenbesten" als Streber der Macht, der seine Lehrer überflügelt und seine Mitschüler deklassiert. Seine Bosheit und seine Verachtung erwachsen aus dem Wissen darum, dass letztlich alle so wie er sind, nur ihnen das nötige Talent fehlt. Wenn wie bei Alexander Peilers Hastings oder bei Konstantin Rickerts Lord Rivers Dummheit dem Machtstreben und der Skrupellosigkeit enge Grenzen setzt, reicht ein Schritt und schon verwandeln sich diese Politiker in Witzfiguren, die ein entsprechend lächerliches Ende finden. Für Feinheiten und subtile Psychologie bleibt dabei kein Spielraum.

So trägt Hüsters Interpretation des Stücks über weite Strecken die Züge einer bitteren Farce, bei der einem das Lachen aber meist im Halse stecken bleibt. Hier bekommen alle genau das, was sie verdienen. So trägt die von Julia Reznik gespielte Lady Anne zwar die Leiche ihres Mannes als Puppe vor sich her. Aber das Hochzeitskleid, in dem diese Witwe in Weiß auftritt, verrät ihre Ambitionen. Die Wut und der Hass, mit denen sie auf Richards Werben antwortet, sind nur Spiel, eine notwendige Fassade, die schnell in sich zusammenfällt.

RichardIII3 560 Uwe Schinkel uExistenziell grausam: Thomas Braus als Richard III. mit Krone, umringt von Lena Vogt, Julia Meier und Julia Wolff © Uwe Schinkel

Nicht jede von Shakespeares Szenen fügt sich derart perfekt in Henri Hüsters Konzept ein wie Richards Werben um Lady Anne. Mancher Moment widersetzt sich ihm sogar, was der Inszenierung eine gelegentlich frustrierende Rauheit und Unebenheit verleiht. Doch das nimmt ihr nichts von ihrem Sog und ihrer Dringlichkeit. Wieder und wieder verlagert Hüster das Spiel in den Zuschauerraum und unterläuft so die größte Gefahr, die in seiner Lesart des Stücks steckt. Richard Gloucester mag, wie Ekkehart Krippendorf schreibt, "die verbrecherischen Techniken des Machterwerbs bereits [...] mit der Muttermilch seiner Klasse mitbekommen" haben, aber das heißt nicht, dass sie alleine seiner Klasse vorbehalten sind.

Die Meisterschüler der Heuchelei

Hüsters Inszenierung ist keine Abrechnung mit den Politikern an sich, sondern ein im tiefsten Grunde absurdes Spiel, das die Untiefen des menschlichen Wesens offenlegt. Alle tragen den Richard-Keim in sich. Ob er aufgeht, ist die eigentliche Frage. Hinter der Farce, die etwa die beinahe clownsmäßig geschminkten Wangen von Lena Vogts Buckingham heraufbeschwören, liegt ein existentielles Grauen. Shakespeares Figuren sind für Hüster selbst der Abgrund, in den sie schließlich ausnahmslos stürzen. Buckingham ist Richards Meisterschüler.

Lena Vogt stiehlt selbst Thomas Braus die Show. Sie ist noch maliziöser und noch heuchlerisches als er. Jedes ihrer Worte ist vergiftet, jede ihre Gesten ein Dolchstoß, aber seinem Ende entkommt auch ihr Buckingham nicht. Dafür steht sie als Richmond wieder auf, allerdings in den Kleidern Richards. Der Kreis schließt sich. In seiner letzten Szene schlüpft Braus kurzzeitig in die Kostüme der anderen, während sie wieder zu denen werden, die sie zu Anfang waren. Das Spiel ist aus und beginnt sogleich von neuem, wenn Lena Vogt "den Winter unserer Bitterkeit" für beendet erklärt. Richmond ist Gloucester, und alle, Publikum wie Spielerinnen und Spieler, sind Richard.

 

Richard III.
von William Shakespeare
Deutsch von Thomas Brasch
Regie: Henri Hüster, Bühne und Kostüme: Hanna Rode, Musik: Florentin Berger Monit und Johannes Wernicke, Choreographie: Vasna Aguilar, Dramaturgie: Barbara Noth.
Mit: Thomas Braus, Julia Reznik, Alexander Peiler, Julia Meier, Miko Greza, Julia Wolff, Lena Vogt, Martin Petschan, Konstantin Rickert, Kasimir Pachl / Mohamed Anis Sahli, Henri Hager / Fabian von Heimburg.
Premiere am 11. Mai 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.wuppertaler-buehnen.de

 

Kritikenrundschau

"Die Inszenierung von Henri Hüster liefert eine abstrus-abstrakte Über-drei-Stunden-Schlacht der Worte, Bilder und Emotionen", schreibt Stefan Seitz in der Wuppertaler Rundschau (16.5.2019). Im genial auf zwei mobile bluttriefende Gerüstbauwände reduziertem Bühnenbild agieren die elf Schauspieler. Thomas Braus zeige als Richard einen an Körper und Seele hässlichen Machtmenschen. Stark auch Julia Wolff in der Verzweiflung der Großmutter. "Leider hat das Stück auch schwache Phasen. Wenn allzu viele Verwandtschaftslinien und das ununterbrochene gegenseitige Ermorden aufgedröselt werden müssen, wird das Ganze arg langatmig."

Das gewaltige Shakespeare-Textgebirge bewältigt der Schauspieler-Intendant immer intensiv, säuselt die Worte, spuckt sie, beherrscht mit seiner fast anfassbaren Körperlichkeit die Bühne. Aber er macht das Stück ja nicht allein. Miko Geza etwa, wenn er (nur durch ein Ohrgehänge als Frauenrolle erkennbar) die düstere Flüche ausstoßende Ex-Königin Margaret gibt: Da ist ein Altmeister am Werk – das macht Gänsehaut.

"Der Tyrannenmord im England Shakespeares ist keine Blaupause für die Zukunft der Trumps, Erdogans und Kim Jong Uns unserer Zeit. Auch die Inszenierung Henri Hüsters gibt dem Zuschauer keine Hoffnung. Zeigt zugleich, dass Theater auch einfach nur spielfreudiges Spektakel sein kann", schreibt Monika Werner-Staude in der Westdeutschen Zeitung (13.5.2019). Thomas Braus gibt einen genialen Richard, der die Skrupellosigkeit ebenso verkörpere wie den damit einhergehenden Wahnsinn, den Realitätsverlust und die Schwäche für Anerkennung. "Dabei agiert er nicht als Solitär, sondern als Teil einer Gruppe, die er freilich lange vor sich hertreibt, weil er nun mal verschlagener, zynischer und diabolischer ist." Die Inszenierung sei nichts für schwache Nerven, nichts für bequeme Unterhaltungsaufnahme, sie setze "auf schaurig-schöne Bilder und Effekte. Sie ist grell, laut", habe aber auch komische Momente, etwa wenn sich zwei gedungene Mörder im schwäbischen Dialekt über störende Gewissensbisse austauschen.

Richard ist keine Ausnahmeerscheinung, jeder könnte ein blutrünstiger Diktator sein. Diese Grundthese ist interessant, aber besonders weit trägt sie nicht, so Stefan Keim im WDR 5 (13.5.2019). Für eine kurze radikale Shakespeare-Performance könnte sie reichen, aber Henri Hüster will das ganze Stück erzählen und dabei rase ihm einiges durcheinander, so Keim. Ein zusammenhängender schlüssiger Richard "ist in der Inszenierung nicht erwünscht. Richard soll Projektionsfläche bleiben. Ein Gesicht von vielen." So gelingen auch Thomas Braus in der Rolle nur Ansätze von Glaubwürdigkeit und "kurze Blicke in Abgründe, bevor die nächste Verfremdung naht".

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