Harper Regan - Mirko Borscht gelingt am Thalia ein großer Wurf, und trotzdem liegt in Halle einiges im Argen
Lichtjahre entfernt
von Matthias Schmidt
Halle, 22. Februar 2012. Endzeitstimmung durchweht den Saal des Thalia Theaters Halle. Einerseits liegt das an der Dunkelheit, einer morbiden Soundcollage und einer Überdosis Kunstnebel. Hier ist dicke Luft, kommentiert es ein Zuschauer und meint damit gleichzeitig den zweiten Schlechte-Laune-in-Halle-Grund: Einen Tag vor der Premiere veröffentlichte die Stadt ihre Sparpläne für das kommende Haushaltsjahr, und darin versteckt war ein Posten von 300.000 Euro auf Seiten der Städtischen Theater. Deren Chef Rolf Stiska plante kurzerhand, diese Einsparung mit der Schließung des Thalia Theaters zu erreichen. Gemeint sei "nur" die komplette Spielstätte, das Ensemble ist momentan unkündbar.
Es ist, als habe man sich verhört. Ist das Thalia nicht gerade erst gerettet worden? Haben die Mitarbeiter nicht erneute Gehaltskürzungen erduldet, um dies zu erreichen? Wo habe ich kürzlich gelesen, die Staatskapelle der 230.000-Einwohner-Stadt Halle sei mit rund 150 Musikern das drittgrößte Orchester der Bundesrepublik? Sorry, aber wer hat hier welches Maß verloren? Jedenfalls ist es in dieser Theater GmbH offenbar so: Den Kleinsten fressen die Hunde. Und die Kleinsten gleich mit, weil – und hier wird es etwas verwickelt – das Thalia ja eigentlich das Kinder- und Jugendtheater der Stadt ist. Dass Intendantin Annegret Hahn ausdrücklich auch auf Theater für Erwachsene setzt, ist seit jeher umstritten, und so riecht die Maßnahme nicht nur nach Spar-, sondern ein wenig auch nach Hauspolitik.
Ein Geniestreich
Genug der Vorrede, denn Mirko Borschts "Harper Regan" ist eine großartige Inszenierung. Wäre sie etwas kompakter, sagen wir eine halbe Stunde kürzer als die etwa 140 Minuten Spieldauer, ich hätte vorbehaltlos diesen leichtsinnigen Satz gesagt: Sie war das in sich geschlossenste, faszinierendste Bühnenkunstwerk, das ich je gesehen habe. Leider hat es einen Makel, der gar nicht künstlerischer Natur ist, sondern mit dem oben angerissenen Problem der Sparten und des Sparens in Halle zu tun hat, doch dazu später.
Es geht um Harper Regan, eine 41jährige Frau, deren Leben komplett auseinander fällt. Sie kommt immer einen Schritt zu spät: Als ihr Vater stirbt, ist sie weit weg. Dort ist sie, weil ihr Mann mutmaßlich eine Neigung zu minderjährigen Mädchen hat und sie davor weglief. Sie selbst hat dann ein Verhältnis mit einem 17jährigen. Sie sucht das schnelle Abenteuer mit einem weiteren Fremden und wird von diesem erniedrigt. Dabei will sie nur – leben. Einsamkeit, verdrängte Konflikte, Frust und ungebremste Lebenslust – Simon Stephens hat mit dieser Harper eine schwer zu fassende Figur geschaffen. Mirko Borscht gelingt es, in dem er die Stationen ihres Leidens vermischt, das gesamte Stück zu einer Art universellem Harper-Regan-Gefühl zu machen. Ein Geniestreich, in seiner Komplexität kaum wiederzugeben.
Die Bühne ist hochartifiziell: Sie dreht sich, langsam wie die Erde. Das Sternensystem wird auf die Hinterwand projiziert. Auf weiteren Leinwänden sind die Bühne aus der Vogelperspektive sowie eine langsame Rückfahrt von der Erde ins All zu sehen. Eine Herz-Lungen-Maschine ist das Zentrum der Bühne. Die Schauspieler stehen wie angewurzelt auf der Drehscheibe und sprechen fragmentarische Sätze und Dialoge. Vor der Rampe ist ein Kanal angedeutet, an dessen Rand sich ein Junge über 90 Minuten lang von Kopf bis Fuß selbst eingipst. Nach und nach setzt sich das Bild zusammen, erschließen sich die Stationen im Leben Harpers.Apokalyptisches Dunkel
Sie kämpft gegen die Schicksalsschläge ihrer Biografie an, und immer, wenn man denkt, jetzt springt sie in den Kanal (wie schließlich der eingegipste Junge, mit dem sie die Affäre hatte), rafft sie sich wieder auf. Und doch wirft ihr Leben ein Licht auf unsere Welt, das düster, bedrohlich, ja apokalyptisch genannt werden muss. So ist auch die Inszenierung: eine Erde, die sich immer weiter dreht, auf ein Ende zu, das unabwendbar scheint. Wir Menschen sind zu klein, um es zu verhindern, groß genug, um es zu beschleunigen, und nur selten in der Lage innezuhalten.
Natascha Mamier als Harper gibt dieser Inszenierung ein schauspielerisches Gesicht und Gegengewicht, was schwer ist angesichts der permanenten Dunkelheit und der kolossalen Bühnen-, Video- und Klanginstallationen. Sie ist ein warmes Wesen in einer kalten Welt, emotional immer perfekt auf dem Grat zwischen Abheben und Ableben. Am Ende singt sie und schafft es mit ihrer melancholischen Stimme tatsächlich, so etwas wie Hoffnung hinaus ins All zu schicken. Das beginnt bekanntlich im Zuschauerraum.
Womit wir bei einem Paradoxon angekommen wären, das in Halle in der jetzigen Situation schlimmer nicht sein könnte. Der Applaus fällt mager aus, viel zu mager. Ein Großteil des Publikums waren offenbar Schüler in einem Premieren-Abo, sichtlich überfordert von dem, was Mirko Borscht da gelungen ist. Die richtige Inszenierung am falschen Ort? Das falsche Publikum am richtigen Ort? Halle muss seine Theaterszene wohl endlich neu sortieren. Das Thalia wäre ein guter Ort für junges, experimentelles Theater. Ein außergewöhnliches Erlebnis wie "Harper Regan" wäre im neuen theater allein technisch unvorstellbar. Also, bitte, Freunde, setzt euch zusammen und denkt nach. Aber macht das Thalia nicht zu!
Harper Regan
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Mirko Borscht, Bühne: Christian Beck, Kostüme: Elke von Sivers, Videoinstallation: Hannes Hesse, Herz-Lungen-Maschine: Michael Krenz
Mit: Natascha Mamier, Alexander Kluth, Enrico Petters, Frank Schilcher, Sophie Lüpfert.
www.buehnen-halle.de
Mehr zur aktuellen Situation des Thalia Theaters Halle lesen Sie hier.
Mikro Borscht habe an die "Geschichte einer Frau, die nach langer Lethargie einen kurzen, heftigen Ausbruch wagt", die "intergalaktische Elle angelegt", schreibt Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung (online 23.2.2012). Dabe pflege Borscht einen Spielstil, der den Rezensenten an den "Jazz" von Sebastian Hartmanns Leipziger Arbeiten erinnert. Allerdings gebe Borscht die "entschleunigte 'Ambient'-Version": "Die Schauspieler tropfen oder türmen ihre Texte neben- und übereinander, sie verfangen sich in Routinen und Loops, bis sie den Ausweg in die nächste Situation oder Rolle finden." Da jedoch weder die Schauspieler noch das Publikum in Halle mit diesem Verfahren richtig "vertraut" seien, blieben die Figuren ausdrucksarm und schemenhaft, und die Geschichte teile sich "nur fragmentarisch mit, weil auch lakonische Texte nach Verständlichkeit verlangen".
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anderhalten. Richtiges Publikum am falschen, falsches am am richtigen Ort ?? Warum nicht auch Falsches am Falschen, Richtiges am Richtigen ?! Man mußte nicht vom Geniestreich (wie Herr Schmidt ihn nennt) überfordert sein, um ziemlich an diesem Abend zu leiden, und dieses "Leiden" als "universelles Harper-Gefühl" handeln zu wollen, ist in der Tat ein Einfall mit Verve. Es mag ja sein, daß sich Bruchstücke aus der Harper-Konstellation sich in diesem Setting genial hätten verdichten lassen können: allein, das war vielleicht das Vorhaben; dieses aber scheiterte meineserachtens wirklich kläglich, ja: ärgerlich. Da ich das Stück kenne, war es für mich gewiß noch leichter als für die "SchülerInnen", die noch erstaunlich diszipliniert waren, es ansatzweise zu wechseln, aber an sehr empfindlichen Stellen und so oft, wie ich das in einem professionellen Theater noch nie erlebt habe, ist schlichtweg von den teilweise ineinandergeworfenen Dialogfetzen nichts zu verstehen. Dreiviertel der Anstrengung also schon reine Gehörarbeit so ungefähr. Gibt es denn da bei den Proben niemanden, der das mal gegenprüft ? Ich saß, wie der Kritiker, in der vierten Reihe, und da ging schon so manches nicht mehr. Auch wenn dieser "pränatale Postpunk" irgendwie eine Art Reiz verströmte, aber "universelles Harpergefühl": nö ! Dafür darf ich mir jetzt vom Kritiker bescheinigen lassen, daß ich diesen Geniestreich nicht zu würdigen verstehe: entzückend, wenn das so läuft..
Yeti ist gut ! Offen gestanden, ein wenig sehe ich jetzt tatsächlich so aus, aber als ich erfuhr, daß mein günstiges Hotelzimmer jenes ist, daß sonst Martin Wuttke als Kommissar Keppler
im Leipziger Tatort "bewohnt", ließ ich meinen wuttke- oder yetiaffinen Kopfschmuck noch für diesen Urlaub stehen.
Aber genug der Privatismen ! Ich gehe auch sehr stark davon aus, daß an der Verstehbarkeit des Abends schon für die morgige und übermorgige Schicht gearbeitet worden sein wird: so jedenfalls, wie es bei der Premiere war, kann es, darf es nicht bleiben, denn darüber gehn wirklich sämtliche Harper-Stationen flöten.
Richtig, die Jugendlichen waren erstaunlich still und aufmerksam, und dennoch hieß es mehrfach :"Spring endlich !" und dies wurde meineserachtens von den meisten unter ihnen geteilt: ich kam im übrigen noch kurz ins Gespräch mit einem der jungen Männer. Er war da tatsächlich sehr differenziert und hatte, ich faßte das von ihm Gesagte so auf, die Bereitschaft der Enstehung dieser Bühnenskulptur aus Schlaglichtern geduldig beizuwohnen, als habe er mit seinem Jahrgang für die Abi-Klausur eine Kunstgalerie besucht, um sich ganz und gar auf ein Werk einzuschießen, um das es gehen soll. Nun, da auch Nr. 4 von Video- und Soundinstallation redet, ist sowohl diese Kunstform ganz offenbar nicht vollends outer space (zumindestens bezüglich der Rezeptionshaltung der Jugendlichen) als auch an dieser Stelle in Wirkung. Ich schrieb auch erst kürzlich, daß Beifall nicht alles ist (und ich gegenüber "Von morgens bis mitternachts" gewiß selbst ein wenig regide reagiert habe/hatte), muß allerdings sagen, daß die erfolgreiche Schaffung jenes "Harper-Gefühles", erst recht angesichts der eher offenen und problembewußten Rezeptionshaltung der Jugendlichen, wohl unfehlbar größeren Beifall nach sich gezogen hätte: dieses ist aber ausgeblieben größtenteils, währenddessen sich ziemlich allgemein Erleichterung breit machte, mitunter wie oben verbalisierte zudem. Nein, ich "glaube" an diesen Abend auch dann nicht, wenn er einerseits ein wenig eingedampft und andererseits verständlicher gemacht worden sein wird. Nicht, daß ich mir zu den Schlaglichtern nichts denken könnte, aber letztlich sehe ich Schwarzweißmalerei gerade dort, wo bei Stephens eine Fein- und Kleinarbeit an einem schleichenden Erosionsprozeß stattfindet, die für mich entweder durchgehend sichtbare Antlitze in etwa erfordert oder eine stilisierte SACHLICHKEITSKUNSTSPRACHE wie in "Klassenverhältnisse" (einer Verfilmung von Kafkas "Amerika"), am besten sogar beides.