Die Habe ist der Putz der Sarmaten!

3. Mai 2022. Fünf Tage lang zeigte das Festival "Nebenan/Побач. Unabhängige Kunst aus Belarus" im Festspielhaus Hellerau Theater der Freien Szene. Viele der Produktionen erzählen von einem Leben vor 2020, als die Proteste gegen Präsident Lukaschenko begannen. Andere entstanden im Exil – und ringen um Positionen.

Von Michael Bartsch

"SarmaTY/JA" beim Festival „Nebenan/Побач" in Hellerau © AQQ Media

3. Mai 2022. Schockierend wirkte schon der Auftakt zum Belarus-Festival "Nebenan“ im Festspielhaus Dresden-Hellerau. Als hätte das 2005 in Minsk gegründete Belarus Free Theatre den Zuschauern eine Falle stellen wollen, wird eine Dreiviertelstunde lang eine rührende Liebesgeschichte erzählt, eingebettet in ein intaktes Familienmilieu. Der Titel "Discover Love“ spielt auf die gegenseitige Entdeckung der großen Liebe zwischen Irina und Anatoly an. Die trägt über den alltäglichen Überlebenskampf ihrer Familie hinweg. Als beide nach 19 Jahren die Früchte ihrer Verbindung und ihrer Arbeit genießen wollen, bricht die Katastrophe herein. Eher beiläufig war angedeutet worden, dass Geschaftsmann Anatoly demokratische Kräfte unterstützt. Nichtsahnend wird er plötzlich nach der Banja, der russischen Sauna, von einer Todesschwadron entführt und grausam ermordet.

Vom jähen Durchgriff politischen Terrors

Das geht nicht nur zu Herzen. In dieser ersten Inszenierung steckt auch viel, was für die fünf Tage dieses am 1. Mai beendeten Festivals Freier Kunst aus Belarus gilt. "Discover Love" geht auf einen authentischen Fall aus der Serie politischer Morde in den Jahren 2000/2001 zurück. Hier wie auch in weiteren Inszenierungen wird Natürlichkeit und Lebensnormalität vom jähen Durchgriff politischen Terrors überlagert.

DiscoverLove1 c Belarus Free Theatre"Discover Love" © Belarus Free Theatre

Das Dreipersonenstück steht ebenso exemplarisch für den minimalen Personaleinsatz und die knappe Ausstattung der meisten Inszenierungen. Größeren technischen Aufwand erforderte nur die Soloperformance "SarmaTY/JA" von Palina Dabravolskaja, ein mit kräftigem Sound und der Hilfe von drei Videowänden performtes Gedicht der Belarussin Maryia Martysevich über das Fremdbleiben im Exil. In diesem fremden, Sarmatien genannten Land kann man unschwer den Westen erkennen, wenn es heißt: "Die Habe ist der Putz der Sarmaten!"

Der reduzierte Aufwand wiederum hat nicht nur mit den überall auf der Welt knappen Ressourcen freier Bühnen zu tun. Das Stück über die jäh gekappte Liebesbeziehung ist zwar schon vor 2020 entstanden. Doch nach den Massenprotesten gegen die mutmaßliche Wahlfälschung 2020 in Belarus und deren brutaler Niederschlagung ist auch das Belarus Free Theatre emigriert und hat in Großbritannien politisches Asyl beantragt. Auch die meisten anderen Gäste in Dresden-Hellerau arbeiten inzwischen in Litauen, Polen oder Berlin.

Vernachlässigter oder ignorierender Blick nach Osten?

Dieser Umstand signalisiert den wohl wichtigsten Weiterbildungseffekt dieses Festivals, das zwar "Nebenan" betitelt ist, aber gerade damit auf ein ziemlich fernes unbekanntes Land verweist. Erkenntnisse über den Osten zu vermitteln, gehört zu den erklärten Absichten von Intendantin Carena Schlewitt am Europäischen Zentrum der Künste Hellerau. Nicht erst dann, wenn wir selbst vom Überfall auf eines dieser Länder tangiert sind wie jetzt beim Ukraine-Krieg, wo wir plötzlich unseren Nachholbedarf an Wissen über die russische und ukrainische Geschichte entdecken.

Palina Dabravolskaya8 c Magdalena Mdra"SarmaTY/JA" © Magdalena Mdra

"Es ist bitter, dass vor zwei Jahren erst Alexander Lukaschenkos Wahlfälschung und die Proteste dagegen kommen mussten, damit wir auf Belarus aufmerksam werden", bedauert Johannes Kirsten. Der Dramaturg am Berliner Maxim-Gorki-Theater kuratierte nach dem russischen "Karussell"-Festival vor zwei Jahren auch das Belarus-Festival. Zumindest ältere ehemalige DDR-Bürger mögen noch einige Kenntnis der Sowjetunion und ihrer quasi kolonialisierten Republiken mitbringen. Mehr als 60 oder 70 Besucher aber sahen die Vorstellungen in Hellerau auch nicht.

Kirsten ärgert mehr die traditionelle Ignoranz im Westen. Für den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer begann "hinter Braunschweig die asiatische Steppe". Westdeutschland wollte gar nicht wissen, wie es hinter dem Eisernen Vorhang aussieht, wollte damit auch nicht an deutsche Nazi-Verbrechen erinnert werden, meint Johannes Kirsten.

Blüte der Freien Szene bis 2020

Entsprechend überrascht wurden Deutschland und Westeuropa bei den Protesten 2020 vom Demokratiepotenzial beim wohl engsten Verbündeten Russlands. Hierzulande blieb auch weitgehend unbekannt, dass es zuvor eine gewisse Toleranz des Diktators Lukaschenko gegenüber einer sich entwickelnden Freien Theaterszene gab. Sie wurde offenbar kaum als Konkurrenz zu den eher linientreuen staatlichen Theatern angesehen. In einer der Diskussionen des Rahmenprogramms war sogar von einem "breiten Feld", gar von einer "Renaissance" und vom "Austoben" die Rede, auch wenn kein Massenpublikum die Säle stürmte.

PrimitiviSVM 9329 Anna Sharko"Primitivi" © Anna Sharko

"Lukaschenko dachte, alles unter Kontrolle zu haben", erklärt Olga Shparaga die Herausbildung unabhängiger Bühnen, aber auch einer NGO-Szene in der belarusischen Nische. Die Philosophin spricht von "Mikroinstitutionen". Bis 2021 lehrte sie am European College of Liberal Arts in Minsk, war Mitglied im Koordinationsrat um die bekannteste Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja und gehörte der feministischen Gruppe des Rates an. 2020 wurde sie inhaftiert, floh über Litauen nach Berlin. Bei Suhrkamp erschien ihr Buch "Die Revolution hat ein weibliches Gesicht".

Schlagartig ist diese Szene von Freien Theatern, von sich selbst organisierenden Gruppen, von frei denkenden Akademikern und Intellektuellen zerschlagen worden nach den Massenprotesten gegen die Wahlfälschung. Von 650 verbotenen Nichtregierungsorganisationen spricht Olga Shparaga, davon, dass es keine Räume und keine Finanzierung für Freie Theater mehr gibt. In der Diskussion wurde später das Bild einer "Welle, die alles auf ihrem Weg wegspült" gezeichnet.

Die nicht emigriert sind, spielen zum Teil in privaten Wohnungen. Angestellte Schauspieler verloren ihren Job. "Jedes Wort kann Dich in Haft bringen", hieß es über die Säuberungen gegen "Nichtpatrioten". Während des Festivals sah man Arbeiten, die vor 2020 entstanden waren oder solche, die nun im Exil Antworten suchen. Bedeutet Exil nicht auch Entwurzelung? Olga Shparaga hält Kontakt zu den Verbliebenen, sieht die Möglichkeiten der künstlerischen Weiterarbeit nicht ganz so dramatisch. Sie lobt die kommunikative und bunte Kulturszene Berlins, wo sie lebt. "Wir sind zu Hause, aber auf die Distanz", beschreibt sie die Stimmung.

Alltag und Einbruch der Macht

Im Zusammenhang mit den Repressalien in Belarus verlief beim Festival eine Diskussion über den Zerfall der Sowjetunion sehr aufschlussreich. Eine Kontroverse entzündete sich an der Frage, ob man das Erbe der Sowjetunion negieren oder integrieren solle. Gewarnt wurde vor einer Verdrängung der Geschichte, die zu nostalgischen Reaktionen, ja Verklärungen führen könne.

Das tat "Primitivi" von Aleksandr Marchenko, Leiter des Zentrums für belarusische Dramatik, gerade nicht. Ein Dokumentartheater mit geringstem Aufwand, das in die Zeit des Stalin-Terrors der 1930-er Jahre zurückgeht, aber ohne jeden agitatorischen Unterton. Im Mittelpunkt steht die naive Malerin Alena Kish, eine skurrile, durch Suizid tragisch endende Einzelgängerin unter uniformierenden Bedingungen. Über die Person hinaus beeindrucken vor allem die gesammelten Eindrücke des Alltagslebens in einer Kolchose.

Haiko Frau mit Automat2 c Marcin Pietrusza "Frau mit Automat" © Marcin Pietrusza

Nicht immer dringen Stoffe so brutal politisch auf die Zuschauer ein wie in der dokumentarischen Performance "P for Pischewsky" über ein homophobes Hassverbrechen. Ästhetisch am meisten beeindruckte "Frau mit Automat" aus Brest. Mit Witz, Feingefühl und Engagement führen Aksana Haiko und Partnerin Sviatlana Haidalionak verschiedene Frauenrollen nach dem Zerfall der Sowjetunion vor, vom Mütterchen im "Tempel des Zuhause" über die Rachegöttin der biblischen Salomé bis zur Me-Too-Kämpferin. Wenige Accessoires genügen zur Illustration dieser Varianten. Im Gedächtnis bleiben vor allem zwei wunderbare Schauspielerinnen und eine geschickte Lichtregie.

Flankiert wurden die Vorstellungen durch eine multimediale Ausstellung im Festspielhaus. Wenn auch der erreichbare Publikumskreis begrenzt blieb, dürfte das von Kurator Johannes Kirsten formulierte Hauptziel des "Nebenan"-Festivals erreicht worden sein: Kenntnisse über Belarus vermitteln, Verständnis wecken und Begegnungen ermöglichen. Zum Beispiel auch mit ehemaligen Teilnehmerinnen eines Freiwilligen Sozialen Jahres in Belarus, die sich diese Kontaktgelegenheit nicht entgehen ließen.

Nebenan/Побач. Unabhängige Kunst aus Belarus
Festival vom 27. April bis 1. Mai 2022

www.hellerau.org/de/festival/belarus/

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