Schlachthof 5 - Dresden Hellerau
Weniger Multi-Multi, bitte!
von Michael Bartsch
Dresden-Hellerau, 24. September 2020. Eine Bearbeitung des Romans "Schlachthof 5" von Kurt Vonnegut garantiert in Dresden stets größte Aufmerksamkeit. Hier steht im Ostragehege jener Schlachthof nach Entwürfen des ehemaligen Stadtbaurates und Architekten Hans Erlwein, in dessen Keller der Autor als amerikanischer Kriegsgefangener die alliierten Luftangriffe vom 13. Februar 1945 überlebte. Eine Gedenkwand des irischen Architekten und Künstlers Ruairi O'Brien erinnert daran, und es gibt Führungen auf den Spuren Vonneguts.
Hohe Erwartungen ans Gesamtkunstwerk
Seit Wochen sprach man in der sächsischen Landeshauptstadt von der bevorstehenden Uraufführung im Festspielhaus Hellerau, zumal es sich nach 1996 in München um die erste Musiktheaterfassung des Stoffes handelte. Zwei Jahre hat tristan Production das Projekt vorbereitet und neben russischen Visaproblemen zuletzt auch mit der Seuche zu kämpfen gehabt.
Die Erwartungen waren also hochgeschraubt, zumal mit dem vierzigjährigen Maxim Didenko ein über Russland hinaus bekannter Artist opulenter Gesamtkunstwerke als Regisseur gewonnen werden konnte. Beim "Karussell"-Festival russischer Gegenwartskunst in diesem Januar gastierte er schon in Hellerau. Komponist Vladimir Rannev mit der Oper "Prosa" ebenfalls, Librettist Johannes Kirsten war damals Festivaldramaturg.
Der viel gerühmte Saal des Festspielhauses, der seit Appia Bühne und Zuschauerraum zugleich ist, würde dem Stoff und der Inszenierungsweise Didenkos entgegenkommen, ahnte man.
Dissonante Vokal-Komposition
Tatsächlich wird der gesamte weiße Raum zum Schauplatz, aus künstlerischen Gründen, und nicht, weil es die Abstandsregeln verlangen. Die Zuschauertraversen wurden entfernt, der Boden wie ein Orchestergraben geöffnet, so dass ein an den Schlachthofkeller gemahnender gruftartiger Spiel-Platz entsteht. Eine Möglichkeit, die bei der Rekonstruktion des Tessenow-Baus dankenswerterweise wieder vorgesehen wurde. Darüber hängt ein absenkbarer Plafond.
Vonneguts Romanvorlage pendelt zwischen kriegerischer Realität und Fiktion auf dem Planeten Tralfamadore und mischt überdies die Zeitformen. Das tun die 15 Szenen dieser dramatischen Fassung auch. Aber es ist müßig, den Sprüngen folgen zu wollen, denn ein durchgehendes Narrativ gibt es nicht. Es lohnte sich auch nicht, denn viele dieser Kurzgeschichten sind sprachlich einfach nur banal und entbehren jeder Poesie. Sie korrespondieren auch nicht immer mit dem, wovon Auge und Ohr schier überwältigt werden. Im Hellerauer Festspielhaus sollte man sich ganz auf die Atmosphäre einlassen.
Deren Wirkung aber wird durch ambivalente Wahrnehmungen getrübt. Vladimir Rannevs Kompositionsprinzip konnte man ein Dreivierteljahr zuvor bei "Prosa" schon studieren. Er verzichtet auf Instrumentalisten und vertraut ganz der menschlichen Stimme. Zwei oder drei Sänger bauen einen vokalen Hintergrundteppich auf, immer dissonant mit bevorzugten Sekundenreibungen, auf dem ein oder zwei Solisten den Text aufsetzen. Nach kurzer Pause kommt der nächste derart montierte Block. Notiert ist das nicht im klassischen Fünfzeilensystem, die Sänger bewegen sich zwischen zwei Linien frei, meist in relativ engen Intervallsprüngen oder in einfachen auf- oder absteigenden Linien.
Tänzer auf den Galerien
Zu singen ist das freilich alles andere als einfach, und man kann die acht Sängerinnen und Sänger des Dresdner Ensembles AuditivVokal unter Leitung von Olaf Katzer für ihre immense Konzentration und Intonation nur bewundern. Sie agieren erst in weißen, außerirdischen Schutzanzügen, dann in inzwischen üblichen "Spuckschutz"-Klarsichtkabinen.
Nutzt sich also die kompositorische Methode ab, zumal es keinerlei dramatische Steigerungen gibt, so können die ständig parallel angebotenen szenischen Ebenen ebenso überfordern. Für sich agieren die Tänzer auf den Galerien oder in den Nischen des Festspielhauses beeindruckend und leidenschaftlich, meist vom Schmerz dominiert. Aber sie haben schlichtweg ständig Konkurrenz, und obschon das Publikum auf einzelnen Drehstühlen sitzt, sind Unterbühne, drei Videoprojektionen und mehrere Tänzergruppen kaum multiplex zu erfassen.
Der Versuch, eine Korrespondenz zwischen diesen Ebenen zu erfassen, lenkt nur unnötig von der zweifellos suggestiven emotionalen Wirkung dieser "Schlachthof 5"-Adaption ab. Langeweile kam in diesen 100 Minuten trotz der von jeder Zuspitzung freien Gleichförmigkeit jedenfalls nicht auf. Die Besucher sollten sogar aktiv etwas dagegen tun, wurden zweimal zum Platz- und Perspektivwechsel nach vorheriger Desinfektion ihres Sessels aufgefordert. Woraufhin eine Prozession im Uhrzeigersinn wie um die Kaaba zu Mekka einsetzte.
Gleichwohl blieb beim Sekt nach diesem ersten Hellerau-Saisonhöhepunkt die alte Frage, ob weniger Multi-Multi nicht manchmal mehr ist. Und die neue, ob nicht auch große Namen wie Didenko und Rannev in ein Gefängnis ihrer Formen geraten können.
Schlachthof 5
nach dem Roman von Kurt Vonnegut
Regie/Film: Maxim Didenko, Musik: Vladimir Rannev, Text/Dramaturgie: Johannes Kirsten, Bühnenbild/Kostüme/Licht: AJ Weisshard, Choreografie: Vladimir Varnava, Musikalische Leitung Olaf Katzer.
Mit: Ensemble AuditivVokal Dresden, 8 Tänzer*innen, Schauspieler Wolf-Dieter Gööck.
Premiere am 24. September 2020 am Europäischen Zentrum der Künste Hellerau
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.hellerau.org
Kritikenrundschau
"Ein bezwingendes Theater, das uns alle mitgenommen hat, eintauchen ließ, wirklich berührt und angefasst hat", schwärmt Michael Ernst von MDR Kultur (25.9.2020). "Man ist umgeben von diesen schwebenden Tönen, mal Sprechgesang, mal bloße Töne, purer Klang, dann Deklamation, mit Wortverschränkungen und elektronischen Einspielungen", da sei alles dabei, und alles ziele auf emotionale Wirkung. "Theater für alle Sinne, fesselnd durch seine Thematik, durch die Musik und deren Umsetzung, fesselnd aber auch durch die vielfältigen Inszenierungsideen."
"Auch ohne konkrete Bilder von dem Gräuel des Krieges liegt diese Spannung über dem Abend. Diese Verwirrung, dieses auch in ästhetischen Bildern Grauenvolle zu sehen, in klangvoller Musik das Verderben zu hören. Bewegungen und Kostüme der Tanzenden geben Assoziationen, die Distanz zwischen allen teilt und verbindet zugleich. Der Versuch, wenn nicht die eine, so doch irgendeine Geschichte zum Festhalten zu finden, zwingt zu ununterbrochener Aufmerksamkeit", schreibt Jens Daniel Schubert von der Sächsischen Zeitung (26.9.2020). "Ein beeindruckender Abend, auch wenn sich nicht jedem alles erschloss, wenn eingesetzte Mittel im Kontext von Bedeutung Fragen erzeugten."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 12. Oktober 2024 Sanierung des Theaters Krefeld soll 154 Mio. Euro kosten
- 12. Oktober 2024 Theater an der Rott: Weiterhin keine Bundesförderung
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
neueste kommentare >