Kaputte Helden

29. Oktober 2023. Dort der antike Held Ajax, hier ein deutscher Familienvater. In seinem neuen Stück verschneidet Dramatiker Thomas Freyer den trojanischen Krieg mit der Gegenwart. Jan Gehler inszeniert den Text als großen Abgesang auf das Heroische – und Prepper-Fantasien im autokratischen Vorgartenstaat.

Von Jorinde Minna Markert

"Ajax" von Thomas Freyer in der Regie von Jan Gehler am Staatsschauspiel Dresden © Sebastian Hoppe

29. Oktober 2023. Die kurze aber gar nicht so verkürzte Hypothese, mit der Thomas Freyers "Ajax" im kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden in Stellung geht: Ohne Männlichkeit kein Krieg, ohne Krieg keine Männlichkeit.

Auftritt der Egomanen

Das Stück entlarvt sie, diese starken Männer, ob nun Familienvater mit Photovoltaikanlage oder griechischer Held, diese paranoiden Egomanen, die aus der Nähe gar nicht mehr so groß aussehen. Sondern eher wie der peinliche Verwandte, der nach zu vielen Gläschen laustark-engagiert über das "Migrantenproblem" schwafelnd nicht merkt, dass seine Gesprächsgegenüber a) von ihm abrücken und b) sich Spucketröpfchen von der Brille wischen. Aber wenn man eins von den Autokraten der letzten Jahre gelernt hat, dann, dass sie, nur weil sie lächerlich, nicht auch ungefährlich sind.

Es ist klar, wie eingespielt Regisseur Jan Gehler nach etlichen Uraufführungen mittlerweile mit Freyers Texten ist. In der komplexen Anlage wird der berühmteste Teil der "Ilias", der Krieg der Griechen gegen Troja, mit einer gegenwärtigen Familiengeschichte verschnitten. Jan Gehlers Inszenierung schafft klare Trennungen und Übergänge der beiden Stoffe und ist der Verständlichkeit des Textes dabei sehr dienlich.

Auch Freyer geht literarisch so vor. Die Vermischung der Textebenen funktioniert, weil sie in sich hyperpräzise gebaut sind. Die Sprache hat etwas Sprödes, nur an wenigen Stellen Lustvolles. Kunstfertigkeit zeigt sich eher im Szenenaufbau als in der Feinstofflichkeit der Sprache. Trotzdem hat das Stück einige Momente, die irgendwie funkeln und sich kurz in einem Spiel verlieren und einfach da sind, um schön zu sein.

Ajax 3 SebastianHoppe uUnterredung im Familienkreise: Oliver Simon, Jakob Fließ, Christine Hoppe © Sebastian Hoppe

Der Krieg um Troja wird hier als reales und aktuelles Ereignis gesetzt. Das ist ein sehr smarter Kniff, denn natürlich spiegelt sich dort eine Situation, die alle, die zuschauen, in den Ereignissen der letzten zwei Jahre und jüngst wiedererkennen. Das Stück bekennt sich an manchen Stellen klar zu der Metaphorisierung des russischen Angriffskriegs, etwa wenn der Sohn seinen überschnappenden Vater fragt, ob denn etwa nicht die Griechen angegriffen hätten, um sich den Zugang zur Schwarzmeerenge unter den Nagel zu reißen. Gleichzeitig rettet es sich durch den Rückgriff auf die Mythologie auch davor, tagesaktuell bleiben und in jeder Aussage übertragbar sein zu müssen.

Die Familie, bestehend aus Vater, Mutter Christiane und Sohn Jonathan, verfolgt also, wie der Krieg beginnt. Sie werden in kurzen Szenen gezeichnet als Familie, die sich einredet, glücklicher zu sein als sie ist und sich in Rollen verfestigt hat: Mama brät was Leckeres, Papa weiß über Politik Bescheid, der Sohn spricht nicht und wenn doch, hört niemand zu.

Trockenklo, Dosenbrot, Einmal-Bettwäsche

Der Vater (Oliver Simon) mutiert zu Kriegsbeginn erst zum Mansplainer – "Das kann Menealos nicht auf sich sitzen lassen" – dann zum fanatischen Prepper (Trockenklo, Curry Chicken Tactical Foodpack, Dosenbrot, Einmal-Bettwäsche) und schließlich zum vollendeten, Bunker bauenden Verschwörungstheoretiker ("Troja. Das ist viel größer. Als diese Festung. Troja ist ein Netz, das sich über den ganzen Erdball spannt.") Die Szenen um Troja finden anfangs als Schattenspiele auf einem großen, die ganze Bühne teilenden und je nach Beleuchtung transparenten oder deckenden Vorhang statt – das schafft eine schöne Trennung und gleichzeitig Verbindung der Settings.

Auch auf der anderen Seite steht eine kaputte Familie: Ajax, die von ihm entführte und versklavte Tekmessa, deren gemeinsamer Sohn Eurysakes und Toikros, der Halbbruder von Ajax. Die beiden Familien sind als Spiegelbilder gesetzt. Auf beiden Seiten kriegslustige Patriarchen, eine Mutter, die nur weg will und ein den Eltern extrem entfremdeter Sohn. Oliver Simon spielt sowohl die Rolle des Ajax, als auch des Vaters – er ist die Spiegelachse und gleichzeitig auch die Figur, die tatsächlich immer weniger weiß, in welche dieser Welten sie gehört.

Der Krieg wird zum Lebenssinn

In schnellen Sprüngen wird der beidseitige Familienzerfall über einen Zeitraum von den zehn Jahren der trojanischen Belagerung erzählt. Für den Vater und seinen selbst errichteten Mini-Staat im Vorgarten, dessen einziger und wichtigster Bewohner er ist, ist dieser Krieg konstituierend, lebenswichtig. Auf der anderen Seite versucht Ajax mit immer wahnwitzigeren Aktionen sich als Held zu rehabilitieren. Die Mutter (Christine Hoppe) bewohnt das Familienhaus alleine weiter, macht den Abwasch, weil man den ja auch im Krieg machen muss, träumt vom Alleinsein und versucht Kontakt mit dem verwahrlosenden Kind zu halten. Tekmessa plant ihre Flucht – mit oder ohne Eurysakes, der schon so sehr wie Ajax geworden ist, dieser zornige, kleine Junge, der lieber keinen Vater hat als einen schwachen. An Eurysakes wird der Kreislauf vergiftender Männlichkeitszwänge gezeigt. Kriemhild Hamann gibt der Rolle viel Trotz und Zerbrechlichkeit, aber auch eine Destruktivität und Misogynie, die gerade vor dem Hintergrund dieser glaubhaft und empathisch verkörperten Kindlichkeit verstörend wirkt.

Der andere Sohn, Jonathan, hat eine andere Abbiegung genommen, um sich vom Vater loszusagen: Er konsumiert Rauschgift, erhebt Verwahrlosung zu einer Philosophie und hat das ausschließliche Ziel, den Moment, in dem sich alles maximal egal anfühlt, so lange wie möglich auszudehnen. Jakob Fließ bringt die Rolle sicher durch den spielerisch schwierigen Zeitraffer vom kleinen Jungen zum Erwachsenen und blüht vor allem als zynischer Grunger auf, der seiner Mutter erklärt, dass, ja, das Kotze auf dem Tisch ist und jaja, seine Kotze, aber die ist dort mit Absicht, er findet ja das passt zum Gesamtkonzept.

Ajax 2 SebastianHoppe uDie Frauen machen sich auf in eine andere Zukunft: Kriemhild Hamann, Fanny Staffa © Sebastian Hoppe

Es gibt keine Versöhnung oder Wiedergutwerdung für diese kaputten Helden. Das Stück zeigt keinen Ausweg aus Gewaltkreisläufen, wie auch. Es zeigt aber mit den beiden Müttern zwei Figuren, die einen eigenen Ausweg gehen, ihre kriegstreiberischen Männer (und Söhne) und die entsprechenden Rollen, die sie für diese spielen müssen, verlassen. Das entlässt eine*n an diesem Tag, an dem die israelische Armee die Bodenoffensive gegen die Terrororganisation Hamas gestartet hat, trotzdem nicht besonders hoffnungsvoll aus dem Theater. Wenn überhaupt sind es kleine Hoffnungen: dass Frieden etwas Punktuelles, Eingekapseltes, in einzelnden Momenten Existierendes ist. Dass vielleicht immer irgendwo für irgendwen gerade alles friedlich ist.

 

Ajax
von Thomas Freyer
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüme: Katja Strohschneider, Musik: Matthias Krieg, Licht: Olivia Walter, Dramaturgie: Uta Girod.
Mit: Oliver Simon, Christine Hoppe, Jakob Fließ, Fanny Staffa, Kriemhild Hamann, Holger Hübner.
Premiere am 28. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"'Ajax' ist reich an Momenten, die Debatten und Diskussionen anstoßen können", ist Marcel Pochanke in der Sächsischen Zeitung (30.10.23) überzeugt und fährt fort: "Thomas Freyer mag damit ein Text gelungen sein, der anders als viele zeitgenössische Auftragsdramen öfter und anhaltender auf den Bühnen des Landes zu sehen ist." Trotz der Tragik schallten "immer wieder Lachen und Raunen" durch den Zuschauersaal: "Text und Regie flechten scharfe Ironie und spannende Wechsel in die Aufführung ein, die oft fesselnd und überraschend auch als Theatererlebnis überzeugen", lautet sein Fazit.

Hier gelinge "eine ambivalente Feinsinnigkeit ohne Moralschwert, die auf plumpe Politrhetorik verzichtet, und somit die antike Tragödie im modernen Gewand", berichtet Andreas Herrmann in den Dresdner Neuesten Nachrichten (30.10.23, €). Der Regisseur Jan Gehler schaffe es, "die Spiel- von der Textebene zu abstrahieren und somit die Verwebung der Zeiten auch für gelernte Dialektiker geistig ertragreich zu gestalten", findet der Kritiker.

"Obwohl es hier um Krieg und Verheerung geht, gibt es kein planloses Gehetze und Gebrüll", äußert Wolfgang Schiller im MDR (30.10.23. "Man folgt dem Text, findet gute Bilder, erlebt eine überzeugende Ensembleleistung", berichtet der Kritiker und konstatiert: "Ein harter, aber guter Abend. Einer der zum Nachdenken einlädt, nicht zum Parteinehmen."

Kommentare  
Ajax, Dresden: Vater-Sohn
Der Kreislauf vergiftender Männlichkeitszwänge

eine andere Abbiegung hat der Sohn genommen
um sich vom Vater los-zu-sagen
eine Abbiegung durch Rauschgift
er erhebt (als Abweichler von der sozialen Norm) Verwahrlosung zu einer Philosophie
das ausschließliche Ziel ist:
d i e s e n M o m e n t so lange wie möglich aus-zu-dehnen
in dem sich alles wirklich alles maximal (scheiß)egal anfühlt
und ihn nicht väterlich-chefmäßig anbrüllt

dass ja dass
Kotze auf dem Tisch ist ist klar
in vollen Schüsseln
und jaja und ja-ha des Sohnes Kotze
die ist immer dort mit Absicht
denn er findet jaja
die passt zur Gesamt-Situation.
Ajax, Dresden: Gedicht
Liebe*r Urfahr, danke für die schönen, Formulierungen meiner Kritik recycelnden Verse. Gefällt mir sehr gut!
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