Wo die Goldgelbsucht grassiert

6. April 2024. Wie halten wir's mit Geld und Moral? Nicolai Sykoschs Dresdner Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts modernem Klassiker zeichnet weniger getarnte Monster als Menschen von nebenan.

Von Michael Bartsch

"Der Besuch der alten Dame" in der Regie von Nicolai Sykosch am Staatsschauspiel Dresden © Sebastian Hoppe

6. April 2024. Die großformatigen Reliefbuchstaben "Abendland" sind ebenso schmutziggrau wie die bühnenfüllende Bahnhofshalle zu Güllen und also kaum zu erkennen. Die morbide Atmosphäre hat eher etwas von Gutenachtland, und man muss nicht Oswald Spengler gelesen haben, um zu ahnen, dass es hier um dessen Untergang geht. Nicht nur, weil eingangs die düstere wirtschaftliche Lage des Kleinstädtchens geschildert und das Selbstmitleid des Dresdner Publikums mit larmoyant-nostalgischen Sprüchen wie "Dabei waren wir mal ne Kulturstadt" herausgekitzelt wird. Nachhaltiger stellt sich dieses Untergangsgefühl im genial-makabren Dürrenmatt-Text ein, wenn schließlich ein Lynchmord um des Geldes willen mit abendländischen Werten gerechtfertigt wird.

Entwertete Welt der Geldwerte

Diese "tragische Komödie" ist wohl durch keine Regieattitüden zu entwerten. 1956, also in der so genannten Wirtschaftswunderphase nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde das Stück in der Schweiz uraufgeführt und avancierte zu einem weltweit gespielten Klassiker. Es wird auch noch lange als eine der treffendsten Parabeln auf die Verführbarkeit und moralische Erbärmlichkeit des Menschen, auf seine Erpressbarkeit mit einem kruden Materialismus gelten. Und verdeutlichen, dass Gerechtigkeit eine Illusion bleibt, sofern materielle Überlegenheit, also Reichtum, ihr nicht zum Durchbruch verhilft.

Seid umschlungen, Millionen! Ensemble mit Anna-Katharina Mucks Claire (rechts) © Sebastian Hoppe

Das kann die aus einem Hurenhaus weggeheiratete und reich verwitwete Claire Zachanassian, einst Klara aus Güllen und geschwängerte Jugendfreundin von Alfred Ill, der nunmehr kurz vor der Übernahme des Bürgermeisteramtes steht. Er ließ sie vor Jahrzenten im Stich, begegnete einer Vaterschaftsklage mit falschen Zeugen, stürzte Klara in die Halbwelt. So tief müssen die Verletzungen bei ihr gebrannt haben, dass sie sich alternd noch an Alfred und den Spießern ihrer Heimatstadt rächen muss. Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet, lautet ihr perfides und doch so entlarvendes Angebot. "Man kann alles kaufen", ist ihr Credo und trifft bis heute die Erfahrungen mit einer Welt der bloßen Geldwerte und der schon 1916 von Georg Lukács beschriebenen "transzendentalen Obdachlosigkeit".

Perversionen des Erlösungsbedarfs

In seiner sechsten Arbeit am Staatsschauspiel Dresden schöpft Regisseur Nicolai Sykosch zunächst das parodistische Potenzial der Ankunftsinszenierung für die erwartete Retterin der Stadt aus. Acht Honoratioren Güllens zappeln aufgeregt in der Bahnhofshalle herum. Karikaturen sind's, der Bürgermeister, der Gymnasialdirektor, der Polizist, der Pfarrer. Umso mehr, wenn man die Spieler kennt und doch in dieser Maske und Kostümierung kaum wiedererkennt. Sie üben sich in Floskeln und devoter Schleimerei, zelebrieren den sprichwörtlichen Bahnhof für die nahende und unvorstellbar reiche Erlöserin.

Da klingelt es schon zum ersten Mal: Ist der unkaputtbare olle Dürrenmatt plötzlich sogar ein Autor für das Schicksalswahljahr 2024? Kaum zuvor war der Erlösungsbedarf einer immer zu kurz kommenden Wählerschaft so groß, ebenso aber auch deren Verführbarkeit durch Heilsversprechen. Als Claire Zachanassian mit ihrem vergifteten Schenkungsangebot zunächst einen Stilleschock auslöst, leuchtet ungewöhnlich früh, aber sinnvoll nach 35 Minuten schon das Saallicht zur Pause.

Nicht nur eiskalter Zynismus

Die beiden Protagonisten Anna-Katharina Muck als Claire und Ahmad Mesgarha als Alfred sind seit Jahrzehnten zumindest auf der Bühne so etwas wie ein Traumpaar. Zuletzt improvisierten sie in Rainald Grebes "Münchhausen" hinreißend als ein solches. Wie werden aus ihnen Todfeinde?

Zum Golde drängt doch alles: Philipp Lux, Willi Sellmann, Ahmad Mesgarha, Holger Hübner © Sebastian Hoppe

Sie werden es eben nicht, umarmen sich noch kurz vor der das Quasi-Todesurteil verkündenden Bürgerversammlung in der schauerlichen Bedürfnisanstalt, einst verlegenheitshalber ihr Liebesort. Diese anhaltende Nahbarkeit unterscheidet die neue Dresdner Inszenierung von den meisten anderen.

Aber auch die charakterlich so armselige Männerschaft, die stellvertretend für "das Volk" steht und den Versuchungen der Milliarde nach und nach erliegt, erscheint nicht als Monster, nicht im brechtischen Sinn verfremdet eindimensional. Da ist man erneut beim Wahljahr. Diese Typen sind solche wie du und ich, wir kennen sie und uns alle, und doch sind sie, sind wir zum Äußersten fähig. Wenn man uns beim inneren Schweinehund erwischt.

Am Ende flattern die Scheine

Dieser bestürzenden Beobachtung hätte aufgesetzte Forcierung, Stilisierung vermutlich nur geschadet. Die Bilder sprechen für sich, wenn in Erwartung des großen Geldes sich das Goldgelb in das Leben der Güllener einschleicht. "Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles", diese Goethe'sche Erkenntnis einer Gelb-Sucht drängt sich optisch auf. Die güldenen Scheine flattern denn vor dem reichlichen Schlussapplaus auch aus dem Schnürboden herab. Drei melancholische Solo-Lieder befördern diese Erkenntnis wenig. Die Volksliedsätze eines Jungmännerquartetts des  Knabenchores Dresden konterkarieren in ihrer Ehrlichkeit hingegen den spießbürgerlichen Selbstbetrug.

 

Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Nicolai Sykosch, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Britta Leonhardt, Dramaturgie: Uta Girod.
Mit Anna-Katharina Muck, Ahmad Mesgarha, David Kosel, Hans-Werner Leupelt, Philipp Lux, Holger Hübner, Moritz Dürr, Willi Sellmann, Jannis Roth.
Premiere am 5. April 2024
Dauer 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

https://www.staatsschauspiel-dresden.de/

 

Kritikenrundschau

Guido Glaner (8.4.2024) beklagt auf Tag24.de, dass auch in Dresden wie üblich eine Fassung gespielt werde, die um zahlreiche Figuren bereinigt sei. So bestehe die Reisegruppe der alten Dame eigentlich aus mehreren Männern, an denen sie bereits furchtbare Rache genommen habe. "Ill ist bloß das letzte Glied in der Kette. Verzichtet man in einer Theaterproduktion auf all das, nimmt es nicht allein der illustren Titelfigur, sondern dem Stück im Ganzen eine wichtige Dimension." Der Kritiker resümiert: "Das Ensemble, voran Anna-Katharina Muck als alte Dame und Ahmad Mesgarha als Ill, spielt gut, doch bleibt am Ende schulterzuckend der Eindruck, nichts Überraschendes und Inspiriertes, sondern lediglich Übliches gesehen zu haben."

Christian Ruf von den Dresdner Neuesten Nachrichten (8.4.2024) ist etwas ratlos. "Sykosch nimmt das Etikett 'tragische Komödie' ernst. Das Geschehen ist zweifelsohne tragisch, das Drama, das sich abspielt, wird aber derart mit Komik und heutigen Zeitbezügen ummantelt dass die eigentlichen Botschaften fast schon untergehen."

Nikolai Sykosch lasse es an grotesker Drastik nicht fehlen, findet auch Rainer Kasselt von der Sächsischen Zeitung (8.4.2024). Weiter heißt es: "Das Ensemble ist gut besetzt." Ahmad Mesgarha spiele den Ill bravourös. Anna-Katharina Muck gebe ihre alte Dame als "eine verletzte, verratene Frau". "Ein Rest Rätsel um ihr unmoralisches Angebot bleibt."

Kommentare  
Besuch der alten Dame, Dresden: Verballhornung & Verulkung
Lieber Michael Bartsch,
da sind Sie aber sehr schweigsam geblieben, was die eigentliche Inszenierung angeht. In Ihrem Text ist mehr allgemeine Stückbeschreibung und lokale Theaterhistorie zu finden als eine Auseinandersetzung mit der Regie, die ja nun wirklich herzlich schlecht daher kam. Warum so meinungsscheu?
Herr Sykosch hat für mich mit seiner Verballhornung und Verulkung des Stoffes nebst der Figuren einen neuen Tiefpunkt der Interpretationen der "Alten Dame" markiert, immerhin diesen Superlativ will ich ihm zugestehen.
Etwas ausführlicher, wenn auch sicher nicht differenzierter hier: https://teichelmauke.me/2024/04/06/nicht-durrenmatts-humor/
Besuch der alten Dame, Dresden: Gelbe Schuhe für den Wandel
Die Biographien der Charaktere und deren Entwicklungen habe ich nicht erkennen können. Zwar waren gelbe Schuhe und seidende Trainingsanzüge ein optisches Signal für den Wandel, aber abgesehen von Ansätzen bei Ahmad Mesgarha und Philipp Lux war im Spiel zu wenig zu erkennen. Ich ich muss mich der Kritik meines Vorredners anschließen, der flache Humor war wenig inspirierend, kam aber beim Großteil des ausverkauften Hauses gut an.

Regisseur Nicolai Sykosch kann spannender inszenieren, wie auch aktuell bei "Vor Sonnenaufgang" noch zu sehen ist.

Mein (vielleicht zu) hartes Urlteil ist: Unterkomplexe Inszenierung und langweilig.
Besuch der alten Dame, Dresden: Blutleer
Ich habe gestern die Vorstellung der Alten Dame gesehen, und ich schließe mich den beiden Vorschreibern an - das war blutleeres Schülertheater. Teilweise wurden Texte brav aufsagend runtergeleiert. Hier sprang kein Funke über, wurde kein Konflikt rausgekitzelt - nur einfach dargestellt. Wie mittlerweile üblich gabs Musik dazu, auch die alte Dame musste singen, ohne erkennbaren Mehrwert.
Von den Rängen gab es teils begeisterten Beifall - entweder saß dort die Fanbase der Sänger, oder man war froh Muck und Mesghara zu sehen, oder das euphorische Publikum ist so jung dass sie das, mangels Erfahrung, wirklich für Theater halten. Im Parkett gabs freundlichen Höflichkeitsapplaus.
Besuch der alten Dame, Dresden: Große Erwartung
Meine Vorgänger haben schon ihre Kritik, der ich mich anschließe, kund getan.
Ich habe die gestrige Vorstellung gesehen und war danach ebenfalls etwas ratlos, ob ich das alles positiv oder negativ sehen sollte ... oder wie anders?
Warum das Publikum dennoch so applaudierte war wohl den bekannten Schauspielern
zuzurechnen, dem Inhalt bzw. der Ausführung des Stückes wohl kaum. Es wurde so viel Werbung darum gemacht, dass auch ich mir sagte "Das muss du gesehen haben". Weiter empfehlen, es tut mir leid, werde ich es nicht. Nicht alles, was auf Moderne gemacht ist, kann sich sehen lassen. Die Erfahrung machte ich schon des Öfteren. Von unseren teuren Plätzen aus in einer Loge, konnten wir nicht sehen, was sich links auf der Bühne abspielte und verschiedene Worte waren so leise, dass sie im 1. Rang kaum hörbar waren. Fazit: Erstmals im Schauspielhaus gewesen, eine große Erwartung gehabt und leider das Erlebnis nicht bis aufs Letzte genießen können - schade.
Kommentar schreiben