Vernichten - Staatsschauspiel Dresden
Friede den Furchtlosen!
28. April 2023. Mit einem Tumor entsteht der Abend, und vier Stunden später gibt es Hoffnung auf Erlösung. Der Regie-Existenzialist Sebastian Hartmann trifft auf den Moderne-Verächter Michel Houellebecq. Und es entsteht eine Vorstellungskraft, die fast zu groß ist für den Möglichkeitsraum des Theaters. Aber doch nur fast.
Von Janis El-Bira
28. April 2023. Mit dem Skorpion kommen die Alpträume. Nicht die auf der Bühne, da laufen sie eh schon längst. Sondern die eigenen. Man weiß es, während man noch hinschaut: Dieses Urängste-Viech in x-facher Überlebensgröße, als Exoskelett getragen vom Schauspieler Moritz Lippisch und hervorkommend aus der ewigen Bühnenfinsternis wie ein Alien von HR Giger – das wird nicht wieder weggehen. Stattdessen wird es mitlaufen auf dem Heimweg und mitkriechen unter die Bettdecke. Plagen wird es einen wie jener faulige Atem, von dem an diesem Abend noch oft die Rede sein wird. Wie der Gedanke an den Tod.
Vom realen Verlust des Verstands
Eigentlich hätte man also warnen müssen, wie am Theater ja gerade viel gewarnt wird. Vor einer Szene wie dieser zum Beispiel oder der visuell und gedanklich sowieso pechschwarzen Grundformation dieser Dresdner Premiere. Oder davor, dass die unheilige Verbindung des Regie-Existenzialisten Sebastian Hartmann mit dem rechtsauslegenden Moderne-Verächter Michel Houellebecq möglicherweise ein ziemlich monströses Geschöpf in die Welt entlassen könnte. Vor allem anderen aber hätte man warnen müssen vor der realen Möglichkeit des Verstandesverlusts im Angesicht eines Theaters, das so weit und kühn vom Boden des Normalbetriebs abhebt wie kaum etwas sonst in jüngster Vergangenheit. Davor, dass man sich samt und sonders verlieren kann in diesen weißschlierigen Lichtbildern, wie sie fast vier Stunden lang im schwarzen Rechteck des Bühnenraums auf- und abblenden, als blickte man in die Sternenbilder fremder Galaxien. Hier wirkt eine Imaginationskraft, die fast, aber glücklicherweise eben nur: fast zu groß ist für den Möglichkeitsraum des Theaters.
Gewarnt hat man stattdessen – subtil im Ankündigungstext – tatsächlich, aber vor anderem. Dass nämlich von Sebastian Hartmann selbstverständlich eine "eigenständige Bühnenversion" von Michel Houellebecqs neuestem Roman zu erwarten sei. Und so kam es. Von den 620 Seiten des Romans interessiert ihn grob das letzte Viertel, jene erschütternde Sterbestrecke also, die mit der Mundkrebsdiagnose des Houellebecq-Helden Paul Raison beginnt. Vom Rest des Buchs, dessen fortschrittspessimistische Reflexionen im französischen Präsidentschaftswahlkampf ebenso andocken wie bei einer rätselhaften Anschlagsserie, bleiben nur jene Fetzen übrig, die Hartmanns Obduktionsbesteck nicht entfernt hat: Ein kleiner Teil der im Roman breit verhandelten Familiengeschichte, bedeutend weniger noch von Houellebecqs geschichts- und religionsphilosophischem Gepolter. Eine Obduktion ist es trotzdem, weil dieser Abend einerseits tief hineinschneidet ins faulende Fleisch des lange sterbenden europäischen Subjekts. Andererseits hängt Hartmann dem symbolisch aufgeladenen Tumor die existenzielle Not eines echten Menschen an, der in seiner Krankheit zum Tode jene Würde zurückgewinnt, die das Abendland in Houellebecqs Diagnose seit der Aufklärung eingebüßt hat. Somit gebührt ihm auch ein Requiem, wenigstens ein weltliches.
Ungeheuerliche Bilder
Und musikalisch beginnt das sowieso alles, wenn Friederike Bernhardt rechts vorne an Flügel und Elektronik Platz nimmt und einen betörenden Ambient-Teppich unter die viele, viele Minuten lange Anfangssequenz legt. Eine Kamera fährt auf Schienen die Bühne entlang, in deren Rücken einige Bäume jenen Wald andeuten, von dem es auf den letzten Seiten des Romans einmal heißt, seine Betrachtung lasse den Tod an Bedeutung verlieren. Aber der Tod ist hier überall, im Schwarzschwarz dieser Welt, in den Robert-Wilson-haften Schleichschritten des Ensembles, vor allem aber auf der Tonspur. Die Stimmen der Ärzte sind da zu hören, wie sie Pauls Tumor den Krieg erklären und schier geil von den Möglichkeiten moderner Medizin das Herausschneiden der Zunge und Entfernen des Kiefers anpreisen. Videoprojektionen laufen unterdessen auf allen Etagen des Bühnenraums, auf Leinwänden, Vorhängen, Gazen. Sie zeigen zumeist verdoppelt, was parallel auch direkt sichtbar ist. Von einem Doppelgänger verfolgt wähnt sich Paul seit seiner Erkrankung. Einem, der kurz davor stehe, ihn vollständig zu ersetzen. Wälder, Doppelgänger und dunkle Träume, wie sie in Roman und Inszenierung zuhauf vorkommen – das sind die Orte und Zustände einer Schauerromantik, die immer schon quer zum gleißenden Licht der Technikmoderne stand.
Nicht zu ihr gehört hingegen die wohl spektakulärste Setzung dieses Bühnenraums. Ein hochragender Brutalismus-Turm, der sich immer wieder vor den Wald schiebt, und der in seinem Innern die aus einem von Pauls Träumen entlehnten Treppen birgt. Furchtlose Spieler*innen wie Linda Pöppel oder Viktor Tremmel schweben in diesem Bauwerk auf und ab, umkreist von Kameras und Gegenlichtern, die es manchmal scheinen lassen, als seien sie Weltraumreisende in der Schwerelosigkeit. In einer unvergesslichen Szene wird der gesamte Turm aufwändig in die Horizontale manövriert, auf dass der Todes-Skorpion und Pauls Frau Prudence (Linda Pöppel) einander darin begegnen. Es geht um Prudence‘ und Pauls letzten Sex, den letzten Blowjob. Das Ungeheuerliche, das Ungeheuer – es ist wortwörtlich mit im Raum. Wo sonst sieht man im Theater solche Bilder?
Deal mit Gott
Viel gäbe es noch aufzuzählen an Wundersamem und Denkwürdigem. Auf Simon Werdelis müsste man verweisen, wie er zu Beginn des dritten Teils unendlich zart Pauls Bekenntnis zur Seitenlage (beim Schlafen, beim Sex, beim Schwimmen…) spricht. Oder auf Tilo Baumgärtels animierte Auferstehungs-Fantasie mit verteilten 3D-Brillen und chorischem Kate-Bush-Cover ("A Deal with God"). Am meisten aber vielleicht auf Nadja Stübiger, die den Schluss singen, sprechen und schließlich sogar tröten darf. Einen Schluss, mehr darf man nicht verraten, der nicht aus dem Buch stammt, aber alles mit ihm zu tun hat, wie große Kunst ja eh nie verdoppelt, sondern Verbindungen schafft. Einen Schluss, der so heiter die unwahrscheinlichsten Hoffnungssplitter vom Boden liest, dass man dem Untergang des Abendlandes gelassen entgegenblickt.
Vernichten
nach dem Roman von Michel Houellebecq
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Friederike Bernhardt, Animation: Tilo Baumgärtel, Video: Jan Speckenbach, Lichtdesign: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Jörg Bochow, Live-Musik: Friederike Bernhardt, Live-Schnitt: Jan Speckenbach, Live-Kamera: Christian Rabending, Dorian Sorg.
Mit: Marin Blülle, Moritz Lippisch, Linda Pöppel, Torsten Ranft, Karoline Schmidt, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel, Simon Werdelis.
Premiere am 27. April 2023
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, zwei Pausen
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
"Hartmann bleibt seiner Art von Theater treu. Er setzt auf äußere Aktion, verrätselte Szenen, viel Bühnennebel, lange Monologe, Live-Kameras, riesige Videowände, Überblendungen. Vor allem aber setzt er auf Emotionen, Stimmungen, Gefühle und Ausbrüche", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (29.4.2023). "Hartmanns Theater ist Zumutung und Zauber in einem. Er spaltet das Publikum.
"Entweder, man lässt sich auf seine Art der Neuerfindung von Erzählstoffen ein, oder man verzweifelt an ihm, einem Regisseur, der die Theaterwelt im eigentlichen Sinn ablehnt", schreibt auch Gabriele Fleischer hin- und hergerissen in der Freien Presse über Sebastian Hartmann (29.4.2023). "Eines jedenfalls hat der Wahl-Mecklenburger, der schon für manchen Skandal auf der Bühne sorgte, wieder geschafft: Die Zuschauer suchten noch weit nach Mitternacht nach Erklärungen - im Programmheft oder bei lebhaften Diskussionen."
"Zwar stellt sich die Frage, ob wir hier im Kinotheater oder im Theaterkino sind, doch jede Antwort wird angesichts der in permanenter Katastrophen- und Wundererwartung schwirrenden Ideencollage obsolet", schreibt Michael Ernst in den Dresdner Neuesten Nachrichten (29.4.2023). "Das verbliebene Publikum hat die schauspielerischen Leitungen gefeiert, Hartmann-Fans haben ihrem Meister applaudiert."
"Es schaut zwar manchmal fast aus wie das Musikvideo einer skandinavischen Depri-Pop-Band, ist aber stimmig und kraftvoll", schreibt Jakob Hayner in der Welt (29.4.2023). "So kann, so muss man Houellebecq lesen."
"Man staunt über die Ideen des Teams und ebenso darüber, dass die Gewerke des Theaters das überhaupt umsetzen konnten", sagt Matthias Schmidt auf MDR Kultur (29.4.2023). "Diese Inszenierung ist, im Guten wie im weniger Guten, eine Überforderung. Eine imponierende Überforderung der Sinne." Aber so überwältigend der Abend für Augen und Ohren sei, so diffus sei er für den Handlung und Struktur gewohnten Theaterverstand. "Große, experimentelle, avantgardistische Kunst, die intellektuell kaum zu begreifen ist."
"Hartmann ist Künstler, kein gewöhnlicher Theaterregisseur", analysiert Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.5.23). "Er nimmt Motive der Vorlage, überführt sie in einen ästhetischen Kosmos, in den man eintaucht wie in einen langen, dunklen Trip", erklärt er Hartmanns Methode jund konstatiert ein "überbordendes, düsteres Kunstwerk mit einem zarten Hoffnungsschimmer" am Schluss.
Torben Ibs von der taz (2.5.2023) erlebte einen gewaltigen Abend, "der staunen lässt und den Raum des Theaters weitet, weil er gleichzeitig so viel mehr und so viel weniger ist, als man vom ihm erwartet". "Es ist, als hätte jemand das bildmächtige Theater des (frühen) Robert Wilson dekonstruiert und mit Verve runderneuert. Dieses Theater ist gleichermaßen gebändigt, denn für die sonst bei Hartmann typischen Improvisationsräume ist hier kein Platz, und entgrenzt, weil es konsequent alle Mauern zwischen den Genres einreißt und darüber hinweggeht."
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