Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! - Akademietheater Wien
Im Schweinsgalopp in die Postmoderne
von Reinhard Kriechbaum
Wien, 4. September 2021. Einmal im Vierteljahrhundert sollte man's als Regisseur vielleicht ja doch mit Elfriede Jelinek versuchen. So jedenfalls hat's Frank Castorf gehalten. 1995 "Raststätte oder Sie machen's alle" in Hamburg, jetzt "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" im Akademietheater. Und weil Österreich ja zwei Höchstgeehrte anzubieten hat, ist in Wien jetzt gleich ein Castorf-Doppel in Sachen Literaturnobelpreisträger angesagt: Peter Handkes "Zdenek Adamec" kommt am 18. September im Burgtheater heraus.
Corona-Verbreiter und -Leugner
Eine Schweinerei ortete die Jelinek in Pandemie-Zeiten. Eine nicht geringere als damals im alten Griechenland, als die Zauberin Kirke alle menschlichen Wesen, die sich auf ihre Insel verirrten, in Tiere verwandelte. Da wimmelte es also, so Homer, von "starkklauigen Löwen und Wölfen", und dazu kam nach Odysseus' Eintreffen eine (eh schon recht klein gewordene) Ex-Matrosencrew von Schweinen. "Senkrechte Schweine" (Edgar Allan Poe) sah die Jelinek in geübter Manier auch im Tiroler Ballermann-Skiort, der sowieso in ihr Österreich-Bildrepertoire gehört. Ausgewachsene Ferkel also unter Corona-Verbreitern wie unter Corona-Leugnern, bei denen es wiederum solche an den Schaltstellen der Macht wie unter den tumben Halligalli-Mitläufern gibt. In dem achtzigseitigen Textflächenmonster kriegt dann auch die Fleischindustrie noch reichlich Schweinefett ab.
Diesen Textwust allein vorzulesen brauchte es wohl, Pi mal Daumen geschätzt, sieben oder acht Stunden. Mit dreien ist Karin Beier für die Uraufführung im Juni im Deutschen Schauspielhaus Hamburg ausgekommen. Frank Castorf braucht jetzt im Akademietheater eine Dreiviertelstunde länger. Die Jelinek'sche Vorlage war ihm nämlich zu wenig. Da wird fleißig nachgebessert mit – naheliegend – Homer, und Daniel Defoes "Die Pest in London". Die Fleischfabrik-Schweinerei wird mit Fahim Amirs "Schwein und Zeit" vertieft und die Gesellschafts-Hierarchie mit Max Horkheimers Skizze "Der Wolkenkratzer" in voller Höhe ausgemalt. Um das Peinigende auch nicht abflachen zu lassen, schließlich noch die kurze Erzählung "Die Marter der Hoffnung" von Auguste Villiers d'Isle Adam. Da geht es um einen Rabbiner und einen Großinquisitor, um unterschiedliche Blickwinkel aufs Konstrukt Wahrheit und um trügerische Hoffnungen auf Befreiung.
Jelinek ohne Kalauer
Das alles hinein zu bringen, hat gute Gründe, aber auch einen hohen Preis. Der Jelinek und der Ur-Regisseurin in Hamburg ist ja vorgeworfen worden, dass sie in "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" wortspielend, wortklingelnd und mit abgegriffenen Bildern eher an der Oberfläche blieben. Das kann man Frank Castorf so sicherlich nicht nachsagen. Klar, eine Ischgl-Episode musste rein, und in Wien darf Österreichs Bundeskanzler Kurz nicht fehlen, als kakophone Video-Einspielung und als Figurine mit überdimensionalem Kopf. Aber insgesamt kommt die Gesellschaftskritik in Castorfs Panik-Theater einigermaßen fokussiert rüber, so man's im allgemeinen Rumor mitbekommt. Dafür ist dem Jelinek'schen Textanteil, der dann gar nicht mehr so furchtbar groß ist, alle Eigenart rausgestrichen. Die saftigen Kalauer, die ein Gutteil der Jelinek-Eigenart ausmachen, sind Castorfs Sache nicht. Ohne sie aber geht doch viel literarischer Eigen-Wert, auch Eigen-Sinn verloren.
Manches aus der Textflut wird zudem von der Bilderflut und der krassen Lautstärke einfach überdeckt und somit unverständlich. Mit der Videokamera und dem Mikrophon an einer langen Stange werden die Schauspieler bis in die verborgensten Bühnenwinkel verfolgt. Die riesenhafte Projektionswand geht oft auf und ab, meistens füllt sie eine Bühnenhälfte. Aleksandar Denić hat eine Bühne gebaut, die Spielräume zuhauf bereit hält: Ein gut sieben Meter hoher schwarzer Hohlkopf steht da. Klappmaul, seitwärts eine Coca-Cola-Reklame. Laut Leuchtschrift 24/7 geöffnet – dafür wird das innen mit Renaissance-Liliendekor ausgemalte Ding eigentlich selten betreten. Viel öfter spielt sich's hinter einem Lattenzaun ab, wo ein best-bürgerliches Wohnzimmer mit allerlei Antiquitäten-Sitzmöbeln eingerichtet ist. Oder auf der Unterbühne, wohin eine eiserne Treppe fürt. Dort ein Gitterverlies mit mehreren Kisten voller Bananen. Eine steinerne Ballustrade wird zum Tresen in der Ischgler Skibar umfunktioniert. Ein Bankomat steht auch da, der wird mal geplündert.
Königinnen der Nacht und ein echtes Schwein
Kirke (Andrea Wenzl) nimmt gleich mal in der ersten (Video-)Szene dem nach Luft japsenden Branko Samorowski die Sauerstoffmaske weg. Wer welche Rolle(n) spielt, ändert sich von Episode zu Episode. Dörte Lyssewski taucht mit charakteristischer Frisur und ausgiebigem Lippenstift-Rot als Jelinek-Doppelgängerin auf (man denkt zuerst an eine Art Kassandra). Was für ein tollkühnes Kostüm- und Kopfputz-Gemisch der drei Damen (zu den genannten noch Marie-Luise Stockinger) in der Ischgl-Szenen. Als seien alle drei irgendwelchen Zauberflöten-Inszenierungen als Königinnen der Nacht entkommen! Das alkohöllisch verbrämte Frauenbild männlicher Halligallo-Touristen wird aufs Heftigste durchdekliniert. Überhaupt die tendenziell chaotisch anmutende Bilderflut. Wären Säue Reittiere, würden wir sagen: Es geht im Schweinsgalopp durch die Postmoderne.
Für Leisheit steht Castorf sowieso nicht: Es wird nach Leibeskräften geschrien, die Musik entsprechend aufgedreht, und nochmal drübergeschrien. Marcel Heuperman hat gegen Ende, wenn Pseudo-Schweine in einer Heuballen-Arena in unterschiedlichstem Outfit endgültig die Sauerei besiegeln, einen exzessiven Monolog, der ernsthaft um seine Stimmgesundheit bangen lässt. Es war schon sehr verdient, dass über dem sich schweißtreibend verausgabenden Ensemble nach der Premiere ganz viel Beifall niedergegangen ist, in den Castorf und sein Team einbezogen wurden. Keinerlei Widerspruch.
Ach ja, das echte Schwein. Es hört, verrät das Programmheft, auf den Namen Edmund. War aber nicht sehr spielfreudig am Premierenabend und ist, anstatt über die strohbeckte Bühne in Richting Bankomat zu laufen, in einer Ecke stehen geblieben. Links Sitzende werden's vielleicht gar nicht wahrgenommen haben, aber die allgemeine Turbulenz an dem langen Abend ist sowieso dazu angetan, manches zu übersehen und zu überhören.
Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!
von Elfriede Jelinek
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: William Minke, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Sebastian Huber, Mitarbeit künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink, Videodesign und Kamera: Andreas Deinert.
Mit: Mehmet Ateşçi̇, Marcel Heuperman, Dörte Lyssewski, Branko Samarovski, Marie-Luise Stockinger, Andrea Wenzl.
Österreichische Erstaufführung am 4. September 2021
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.burgtheater.at
Kritikenrundschau
"Der dichte Text der Nobelpreisträgerin ist nur eine leichte Empfehlung für Castorf", schreibt Norbert Mayer in Die Presse (€, online am 5.8.2021) und fand den Abend im Akademietheater "laut, trashig, verzettelt, aber niemals lang-, dafür oft kurzweilig (und doch etwas selbstverliebt ausgedehnt), auch in Plattheiten schwelgend – eine große Castorf-Show, jedenfalls für Fans".
Regisseur und Autorin seien "ein verdammt gutes Match", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (5.9.2021). "Sie treffen sich mit diebischem Vergnügen im Dschungel missverständlicher Zeichen. Es lässt sich nie mit Sicherheit sagen, was man da sieht. Ist es aber doch entziffert, so hat es sich schon in etwas anderes oder gar ins Gegenteil gewendet." Das Ensemble genieße die Herausforderung, kriege aber in seinen stadttheatergestählten Sprechweisen die performative Kurve nicht immer. Der zweite Teil sei wuchtiger, dichter und inhaltsstärker. Die Kritikerin schließt: "Castorf hat wieder mal alle rumgekriegt."
"Der Sexismus und die Selbstherrlichkeit feiernder Männerrunden in den Alpen, die Beschwichtigungs- und Vertuschungsversuche durch Behörden und Politik, die abstrusen Verschwörungstheorien der 'Querdenker', die Grauslichkeiten der Schweineindustrie verbinden sich in dem Text zu einer groß angelegten Zivilisationskritik, die von Regisseur Frank Castorf noch unterstrichen und überhöht wird", schreibt Ute Baumhackl von der Kleinen Zeitung (5.9.21). Höchst hingebungsvoll bringe das Ensemble die jelinekschen Wortkaskaden mit ihren scharf zugeschliffenen Kalauern zum Glitzern.
Wolfgang Kralicek schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 6.9.2021, 17:09 Uhr): Jelinek "verarbeite" in ihrem Text "alle möglichen Texte und Stimmen", unter besonderer Beachtung des Corona-Hotspots Ischgl und dessen orgiastischem Après-Ski-Treiben. "Große Teile der Handlung" spielten sich auch in dieser Castorf-Inszenierung im Off ab, per Video auf eine Leinwand übertragen. Der für Castorf-Verhältnisse relativ kurze Abend erinnere im Gestus und inhaltlich an ein René-Pollesch-Stück. Es sei ein "teils recht disparater und spröder, dann wieder herrlich vitaler und spielerischer Abend".
Martin Lhotzky freut sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.9.2021) über die Pause im knapp vierstündigen Abend. Man dürfe vermuten, dass sich Castorf von Jelineks Text dazu hat inspirieren lassen, seinem Publikum zeigen zu lassen, "dass der Mensch unweigerlich zum Schwein" werde. Das sechsköpfige Schauspielensemble, "körperlich und textlich extrem gefordert", rezitiere, brülle "fast dauernd in neuer, selten zum Text passender", aufwendiger Verkleidung. "Letzter Akt: der diesmalige Castorf’sche Beitrag zur Klassenkampftheorie. Warum die Schweine das Proletariat verkörpern, und, nein, nicht ersetzen, sondern ergänzen, brüllt Marcel Heuperman bis zum Ende laut heraus."
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So fokussiert und präzise war schon länger kein Abend des abgetretenen Volksbühnen-Heroen mehr. Zum Einstieg arbeitet er sich an Sebastian Kurz ab. Die wortgewaltigen Passagen, in denen Jelinek mit ihrem Regierungschef abrechnete und die Karin Beier in ihrer Hamburger Uraufführung wegließ, kostet Castorf für sein Wiener Publikum aus. Minutenlang wird er nur umschrieben, bevor Kurz dann in vielfacher, sich selbst widersprechender Ausführung in einer Videoschnipsel-Collage über die Leinwand flimmert und später noch als Pappmaché-Double über die Bühne stolpert.
Die Pandemie ist in den Medien derzeit nur als Hintergrundrauschen präsent und trotz Empfehlung trägt nur noch eine Minderheit im Saal Maske, aber mit vielen treffend ausgewählten Querdenker*innen- und Impfgegner*innen-Zitaten ist der Abend, der bei den Autor:innentheatertagen an diesem Wochenende am Deutschen Theater Berlin gastiert, ein anregendes und wichtiges Zeitdokument, das die aufgeheizten Debatten der vergangenen beiden Jahre spiegelt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/12/laerm-blindes-sehen-blinde-sehen-castorf-akademietheater-wien-kritik/
Teilweise war der Abend auch gespenstisch, wenn im Text Coronaleugner wiedergegeben wurden, Marcel Heupermann in einem schreienden, sich und seine Stimme verausgabenden Monolog die ersten Reihen mit Aerosolen versorgte und über die Hälfte der Zuschauenden, bei dem Thema keine Masken trug. Eben Lärm.Blindes Sehen.Blinde Sehen.