Der Weißheit letzter Schluss

13. April 2024. Nach Tschechow ("Sistas!") wirft die Kompanie MamaNoSing nun ihren nicht-weißen Blick auf die Posse "Der Talisman" des Wiener Volksstückeschreibers Johann Nepomuk Nestroy. Der neue Titel: Cypressenburg.

Von Martin Thomas Pesl

"Cypressenburg" von Golda Barton nach Johann Nestroy am Wiener Burgtheater © Marcella Ruiz Cruz

13. April 2024. Na serwas. People of Color appropriieren Nestroy. Am Burgtheater! Und das Schlimmste: Die meisten von ihnen sind Deutsche! Was fällt denen ein? Da können sie ja gleich ins Café Schwarzenberg rübergehen und einen "lecker Káffee" bestellen.

Verpönter Rotschopf

Nach Tschechow ("Sistas!") wirft die Kompanie MamaNoSing nun ihren nicht-weißen Blick auf die Posse "Der Talisman" des beliebten Wiener Volksstückeschreibers Johann Nepomuk Nestroy. Der neue Titel "Cypressenburg" verweist auf eine Frauenfigur: die adelige Schriftstellerin, deren Herz – und das ihrer Angestellten – der Protagonist Titus erobert, indem er seinen verpönten Rotschopf unter diversen Perücken versteckt. Feministisch umgedeutet wird unser misogyner Nepomuk also auch noch! Das Team um Regisseurin Isabelle Redfern begeht haufenweise Fauxpas, freilich bewusst und derart "in yer face", dass man mit breitem Grinsen zu dieser Premiere kommt.

Cypressenburg5 1200 Marcella Ruiz Cruz uWas hat der denn für Haare!! MING, Moses Leo, Ernest Allan Hausmann © Marcella Ruiz Cruz

Das Grinsen friert dann erst mal ein, weil es anfangs lange kein Futter bekommt. Dass manch mögliche Pointe untergeht, mag an der ungünstigen Akustik in der Spielstätte Kasino liegen oder daran, dass die Rassismus-Thematik nicht nur offensichtlich den Kern des Stückes bildet, sondern auch diskursiv ausgewalzt wird – sogar die Frechheit, als "Piefke" in Wien Nestroy anzutasten, kommt zur Meta-Sprache.

Die Meerjungfrau Arielle und der Afrofuturismus

Auch fällt der Plot der Überschreibung notgedrungen etwas wirr aus, um den Stoff aus 1840 in ein Heute, und sei es noch so unernst, zu pressen: Die Filmsociété Cypressenburg hat Ärger, weil sie eine Schwarze (Safira Robens mit rotbraunen Dreads) Arielle spielen ließ (#nixmeinenixe), aber auch, weil für die Firmenleitung einfach keine Frau gefunden wurde, nur ein, igitt, Schweizer (notabene: es ist die drittletzte Premiere, bevor Stefan Bachmann übernimmt).

Unterdessen hat der junge Titus (Moses Leo) eine Drehbuchidee, die im Wesentlichen"Der Talisman" ist: Weißer Cis-Mann reüssiert dank "magic wig". Nur als rothaariger weißer Schnösel verkleidet bringt Titus seinen Pitch durch. Am Ende verfilmt die Firma den afrofuturistischen Roman, pardon: das faktenbasierte Sachbuch von Titus’ Onkel Carl Carl (kurz: CC, sprich: "Sisi", gespielt mit vorstehenden Vorderzähnen von Ernest Allan Hausmann), wonach Hannibal 200 v. Chr. 50.000 Ostafrikaner:innen in Österreich ansiedelte.

Bestens aufgelegtes Ensemble

Das ist im Prinzip sehr lustig und im Detail eben auch kompliziert. Nun aber genug gemeckert, denn vieles an diesem Unterfangen gelingt ganz wunderbar: Es schmeichelt Auge und Ohr, macht Spaß und wird von einem bestens aufgelegten Ensemble dargeboten. Leo und Robens erfreuen mit Mann-Frau-Fights, wer eigentlich schlimmer diskriminiert werde, und mit Tänzen von grotesk bescheuerter Niedlichkeit. Leo führt seinem Onkel hampelnd seine "filigrane Whiteness" vor. Musikerin Ming bedient sich immer wieder am Kostümständer für "Asian characters", schlüpft aber auch in die Rolle des verhassten Schweizers.

Cypressenburg1 1200 Marcella Ruiz Cruz uAnsteckemd spielfreudig: Zeynep Buyraç, Ernest Allan Hausmann, Safira Robens, MING © Marcella Ruiz Cruz

Überhaupt werden meisterhaft verschiedene Sprachregister bedient: Robens kann reden wie "Fack ju Göhte"-Chantal, sie und Hausmann persiflieren aber auch afrikanische Akzente. Und wenn es ums noble Wienerisch geht – ebenfalls in ironischer Überhöhung, versteht sich –, ist Zeynep Buyraç die Königin. Also die Gräfin. Sie spielt Ignatia alias Cypress, Urenkelin des Filmfirmengründers Suleiman von Cypressenburg, und ab dem Moment, als sie aus einem riesigen rosa Schnürlsamtdings in den Raum tänzelt wie eine kaputte Aufziehballerina, ist der Abend gerettet. Mit präzisesten Bewegungen und sich gerade nicht überschlagender Stimme verkörpert sie den Irrwitz, den ein solcher Abend braucht. Buyraç ins Ensemble zu holen, war eine der besten Entscheidungen des scheidenden Direktors.

Haarsträubende Biografie

Das wahre Kunststück von "Cypressenburg" aber liegt darin, wie es, postkoloniale Gegenaneignung hin oder her, mit dem "Talisman" umgeht. Denn das einzige Manko dieses frühen Dramas über Diskriminierung ist ja, Zitat: "Ein Rothaariger hat das bestimmt nicht geschrieben." Autorin Golda Barton (die vermutlich ebenso eine Erfindung ist wie ihre haarsträubende Biografie im Netz) übernimmt das zentrale Handlungselement eins zu eins, und mehr noch: Mit zahlreichen Direktzitaten und stilistischen Hommagen wie Couplets (na ja, Songeinlagen) und beiseite gesprochenen Monologen würdigt sie den Originaldichter mehr, als es an der Oberfläche scheint.

Nicht nur bleibt also die Nestroy-Cancelung aus. Endlich wurde sogar bewiesen, dass er mitunter mehr ist als seine Sprache. Dazu brauchte es ein Kollektiv piefkenesischer PoC. Respekt!

 

Cypressenburg
von Golda Barton nach Johann Nepomuk Nestroy
Uraufführung
Regie: Isabelle Redfern, Bühne: Lani Tran-Duc, Kostüme: Mariama Sow, Musik: Ming, Choreografie: Ute Pliestermann, Licht: Paul Eisemann, Dramaturgie: Andreas Karlaganis.
Mit: Zeynep Buyraç, Ernest Allan Hausmann, Moses Leo, Ming, Safira Robens.
Premiere am 12. April 2024 im Burgtheater-Kasino
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Regisseurin Isabelle Redfern versuche, "mittels knallbunter Klamotte (...) nicht allzu didaktisch zu wirken", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (14.4.2024). Das allerdings gelinge nicht. Der Abend sei "trotz grotesker Story und teils herzergreifenden Spiels ein simples Botschaftstheater", bei dem man sich "bei allem Vergnügen" vor allem "unterrichtet über White Supremacy" und "den auf allen Ebenen grassierenden Rassismus unserer Gesellschaft" fühle.

Rene-Pollesch-Theater "in der Abklatsch-Variante" hat Thomas Trenkler erlebt, wie er im Kurier (15.4.2024) schreibt. Aus dem Nestroy-Stück werde eine "affektierte Show mit Kauderwelsch rund um die  Triggerwörter 'Cultural Appropriation', 'Blackfacing' und 'Whitewashing'." Redfern wolle aufdringlich zeigen, wie vorurteilsbehaftet das Publikum sei. "Die Deutschen haben uns also wieder die Welt erklärt."

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