Einige Nachrichten an das All - In Wien scheitert Antú Romero Nunes auf visionäre Weise an dem Stück von Wolfram Lotz
Und dann die Leere
von Kai Krösche
Wien, 23. November 2012. "Einige Nachrichten an das All", das zweite Stück von Wolfram Lotz, bietet reichlich Möglichkeiten, auf banale Weise zu scheitern: Bewusst wiederkehrende Leerläufe in der Dramaturgie, ganze (echte) Ozeane als gefordertes Bühnenbild und nicht zuletzt 64 im Stück gesetzte Fußnoten, die den Text unterbrechen, erweitern und dem Geschehen eine zweite, dritte, vierte Ebene voll assoziativer Gedanken und Bilder hinzufügen. Das sind inszenatorische Herausforderungen, die einen Regisseur und sein Team ans Äußerste treiben müssen, da sie sich hier nicht hinter dem Deckmantel einer glatt umgesetzten, wohlgelungenen Inszenierung verstecken können. Stattdessen sind sie gezwungen, selbst zu schaffen, zu übersetzen, und eben auch das: an den unmöglichen (Über-)Forderungen des Textes zu scheitern.
Neben diesen formalen Unbequemlichkeiten bietet Lotz' Stück eine Vielzahl an poetischen und trotzdem niemals ins Schwülstige abdriftenden Geschichten über Leben und Sterben; über Vergänglichkeit und den urmenschlichen Wunsch, die Realität des Todes zu überwinden; schließlich auch über die Liebe.
Gefahr der kantenlosen Miniatur
Die größte Gefahr einer Inszenierung dieses Stücks liegt dann vielleicht darin, seinen Reichtum zu unterschätzen, ihn aufgrund des subtilen und feinen, manchmal auch lauten Humors als reine Ironie zu verkennen und am Ende eine kleinmütige, ecken- und kantenlose Miniatur des Stückes zu verwirklichen. Antú Romero Nunes ist dieser Gefahr nicht auf den Leim gegangen: Mit Mut und Ernsthaftigkeit schaffte er auf der Bühne des Akademietheaters mit einem hochkonzentrierten und wagemutigen Ensemble einen Abend, der im Theater seinesgleichen sucht.
Nicht, dass es nicht auch wirklich doofe Momente in der Inszenierung gäbe. So ist der wiederkehrende Einsatz weltraumartig-pathetischer Musik mehr als nur einmal zu viel des Guten; so ist eine aus virtuosen, überwältigenden und sich im grenzenlosen Kitsch verlierenden Videoprojektionen bestehende Sequenz kurz vor Ende viel zu viel des Guten. So gerät auch die Entscheidung, Fabian Krüger im Fat-Suit als dicke Frau auftreten zu lassen, zur Gratwanderung zwischen ironischer Distanz und dem Zulassen ernsthafter Schönheit des Gesprochenen, die mehr als nur einmal die Balance verliert. Genauso wie die lächerliche, in ihrer Übertriebenheit geradezu wahnsinnige Technik-Show, die der durch den Abend moderierende "Leiter des Fortgangs" für seinen Auftritt auffährt – inklusive Gangnam-Style-Tanz mit projizierten Schatten-Faksimiles seiner selbst und einem dazu johlenden Publikum. Oder das absurd aufwendige Bühnenbild: Eine bewegliche Wand aus einzelnen Würfeln, die sich nach innen oder außen stülpen, Türen frei- aber auch Muster in den Raum hineingeben können – in ihrer unverhohlenen Selbstzweckhaftigkeit droht diese Bühne die kleinen Schauspieler zu verschlingen.
Das Funktionieren des Stillstands
Aber genau diesem Aufs-Ganze-Gehen, diesem ungebrochenen Mut zum totalen Fehlgriff verdankt sich am Ende auch der Erfolg des Abends. Denn diese Maßlosigkeiten sind die Voraussetzung für das Funktionieren des plötzlichen Stillstands.
Zum Beispiel in dem Augenblick, in dem Matthias Matschke als "Leiter des Fortgangs" noch gerade den aggressiv-selbstsicheren Moderator gibt und im nächsten Moment, zu einem Haufen Elend zusammengesunken, buchstäblich nichts tut. Fünf Minuten lang sitzt Matschke lediglich auf dem Sofa und führt dem Publikum die Leere der Szene vor Augen. Hier bricht keine falsche Ironie die Intensität des Augenblicks – im Gesicht dieses "Leiters des Fortgangs" lesen wir zur Verbitterung erstarrtes Grauen vor der sich zur existentiellen Bedrohung ausweitenden Leerstelle.
Utopischer Schlussmoment
Oder in den berührenden Figuren von Lum und Purl Schweitzke, die angesichts des Technik- und Stimmungs-Feuerwerks, das der "Leiter des Fortgangs" zündet, verloren und unsicher in der Ecke stehen, während das Publikum johlt und auf Befehl abwechselnd klatscht und verstummt.
Schließlich am Ende, nach dem Applaus, wenn Matthias Matschke, immer noch in seiner Rolle bleibend, vom eigentlich geplanten Schluss erzählt: Eine Horde von Kindern sollte einen großen Ball ins Publikum werfen, der dort herumgetragen wird. Das hätte so ein Gefühl von Hoffnung erzeugen sollen. Ging aber nicht, wegen der Fluchtwege. Plötzlich ertönt Kinderkreischen, und mit einem Black schallt laut das in einer Fußnote des Stücks erwähnte "Nothing Compares 2 U" durch den Saal: Einen solchen Augenblick, in dem erst durch Nennung des Nicht-Möglichen eine Utopie gezeichnet wird, die dann mittels der Kraft des Theaters dennoch eingelöst wird, erlebt man selten.
Lotz' Stück und Nunes' von größtem Feingefühl zeugende Inszenierung teilen das Wagnis des Nicht-Funktionierens und sind gemeinsam ins Gelingen des Unmöglichen hineingescheitert.
Einige Nachrichten an das All (ÖEA)
von Wolfram Lotz
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Judith Hepting, Sounddesign: Heiko Schnurpel, Video: Impulskontrolle (Sebastian Pircher, Peer Engelbracht, Christopher Lensing) Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Florian Hirsch.
Mit: Jasna Fritzi Bauer, Daniel Sträßer, Ignaz Kirchner, Matthias Matschke, Fabian Krüger, Paloma Siblik/Anna Thomashoff/Sonja Rauber, Irene Rottensteiner/Michaela Wimmer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.burgtheater.at
Wie man auch an Einige Nachrichten an das All scheitern kann – zum Beispiel in Weimar oder Dortmund.
"Einige Nachrichten an das All" sei "das größenwahnsinnigste, klügste, unfasslichste und unverschämteste Stück der Gegenwartsdramatik, ein Stück Theater, das sich gegen ein Theater stemmt, das seine Aufgabe in der Umsetzung von Stücken sieht", schwärmt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (27.12.2012). In Wien sei die (in Weimar missglückte) Uraufführung nun endlich nachgeholt worden. Es sei unter Nunes' Regie das prallste, verrückteste, bilder- und gedankenvollste Lotz-Theater entstanden, das sich denken lasse. Die Schauspieler spielten, "als wären sie traurige Ritter in einem Schelmenbocksgesang, oder gestürzte Engel. Diese Figuren werden, was sie bei Lotz sind: Luftgeister, Traumtänzer, Todesträger." Dieser Abend sei "urkomisch und trauerzittrig. Mit herrlich sinnenzerstäubenden Videofilmtrickserein der Videofilmtricksertruppe 'Impulskontrolle', mit Comedy-Anleihen und Tragödieneinsprengseln. Mit Witz und Aberwitz."
Lotz' Text, der "ans Geniale grenzt", handele von "Ängsten, vom Horror Vacui, von der Vergänglichkeit, gegen die alle diese Darsteller mit Ablenkungsmanövern antreten", schreibt Norbert Mayer in der Presse (25.11.2012). Philosophische Einlagen würden darin eingebettet ins "Maßlose, das dann in Endlosschleifen wieder ans Peinliche grenzt". Nunes "Inszenierung bewahrt zwar die Frische dieses Dramas, sie hätte aber noch einiges gewinnen können durch" die Tugend der Disziplin. "Es gibt zwar vereinzelt kontemplative Szenen, doch der Schwank wie auch das Sentiment überwiegen." Zudem sei die Annäherung an das offensichtliche Vorbild des Textes, Samuel Beckett, "gefährlich". Fazit: "Alles in allem aber ist dieser überreiche Abend ein Geschenk, mit einem glänzenden Ensemble, mit rasanten technischen Spielereien und auch mit Mut zur Größe. Man begegnet dem wirklich Ernsten über Umwege, es schimmert sogar beim angeblich Leichten durch."
Die Regie sei "am Text gescheitert", registriert Hans Haider in der Wiener Zeitung (25.11.2012). "In üppiger Betriebsamkeit geht er zu oft unter." In der Eröffnung vor dem Vorhang und ihrer "Intimität behält das philosophisch tief abgesicherte Konzept, die punktgenaue, manchmal lyrische Sprache, noch Façon". Sobald aber das Spiel sich "zu einem Raum öffnet, schlägt eine zerdehnte Satire zu". So bleibt dem Rezensenten nur übrig, "Applaus für die deutsche Videodesignfirma "Impulskontrolle" und die mit dem stetigen Verrücken von Styroporwürfeln überbeschäftigten Bühnenarbeiter" zu vermelden.
"Einige Nachrichten an das All ist eine Liebeserklärung an das große Ganze, an die Welt als Wirrwarr - und daher auch an das Theater, in dem Unmögliches möglich wird", schreibt Thomas Trenkler in Der Standard (26.11.12) und befindet nach weiteren bewundernden Ausführungen über das Stück über Nunes' Inszenierung: "Selten hat man ein derart präzises, komplexes Zusammenspiel aus Video, Bühnenbild und Schauspiel gesehen." Gegen Ende hin befände man sich tatsächlich "in einer Explosion". Das Team Impulskontrolle flute die grandiose Bühne, eine bewegliche Mauer aus großen Styropor-Würfeln, mit einem irrwitzigen Bilderreigen. Da würden die Projektionen dreidimensional und erwachten zu Leben. "Lob für alle, speziell für die Bühnenarbeiter."
Einen "über weite Strecken sehr vergnüglichen Abend" hat Ulrich Weinzierl gesehen, der in der Welt (26.11.2012) schreibt. Er lobt Matthias Matschke, der aus dem "Leiter des Fortgangs" eine "virtuose Ekelnummer" mache, den "wie stets herrlichen" Fabian Krüger sowie Ignaz Kirchner ("Selten war eine präzisere leibhaftige Anmerkung zu erleben"). Der Star der Aufführung sei jedoch die Videotruppe "Impulskontrolle", die auf und mit Florian Lösches Styroporquader-Wand verblüffende Effekte zaubere: "Magie der optischen Täuschung von höchster Qualität. Vor unseren Augen entstehen und vergehen in Sekundenschnelle Häuser und Landschaften, Städte und Tempel. Eine Traum- und Albtraumreise zugleich." Besser als Antú Romero Nunes könne, so Weinzierl, mit Wolfram Lotz' Spektakel des intellektuellen Aberwitzes wohl niemand scheitern. "Der einzige Vorwurf an die Regie: Sie übertreibt durch Überlänge."
Es gehe, unbescheiden, um nicht weniger als "das grosse Ganze", reicht Barbara Villiger Heilig ihre Kritik in der Neuen Zürcher Zeitung (22.12.2012) nach. "Wegen des Universums im Titel und anderer universeller Themen, aber auch aus formalen Gründen." Mit Lust und List jongliere Wolfram Lotz Metatheater und Mitmachtheater durcheinander, lasse Figuren aus der Rolle treten und weise dafür dem Publikum Rollen zu, wenn es in der TV-Talkshow von Matthias Matschke mitklatschen solle. "Theater als Summe seiner Möglichkeiten – nicht nur der Autor nutzt sie mit Witz und Ernst, auch Antú Romero Nunes, der noch nicht dreissigjährige Regisseur, bekundet seinen Spass daran. Da haben sich zwei gefunden." Gross und klein, dick und dünn, komisch und traurig, ernst und doof, minimal und maximal – alles gehöre dazu. "Das Verhältnis aber von Aufwand und Ertrag stimmt in diesem Fall perfekt, jedenfalls in der künstlerisch-geistigen Ökonomie."
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(Sehr geehrter Weltraumschrott, Sie haben Recht. Diese Zusammenfassung ist zu knapp ausgefallen. Das Fazit ist eingefügt. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)