Konsens? Nur mit Dinkelkeksen!

1. Oktober 2023. Eine Satire von prophetischer Natur? Der Nürnberger Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger inszeniert an der Burg Jonathan Spectors "Die Nebenwirkungen" – von 2018! – über eine fiktive Mumpsepidemie an einer Privatschule. Hier geht's um nicht weniger als die Demokratie selbst. Und um ein fulminantes Duell der Königinnen.

Von Gabi Hift

"Nebenwirkungen" in der Regie von Jan Philipp Gloger am Burgtheater Wien © Matthias Horn

1. Oktober 2023. "Willkommen im Schuljahr 2018/19" steht mit Kreide an der Tafel, ein Menetekel, das Übles ahnen lässt. Aber das wahrhaft Unglaubliche ist die Jahreszahl: 2018, das Jahr, in dem die Komödie "Die Nebenwirkungen" von Jonathan Spector in Berkley uraufgeführt wurde – und in dem noch niemand etwas von Corona ahnen konnte. 

Alles etwa Schicksal?

Es geht um Sitzungen des Schulbeirats einer progressiven Privatschule, in der niemand ausgegrenzt werden soll und alle Beschlüsse nur über Konsens erfolgen. Bei den Kindern in der Schule bricht eine fiktive Mumpsepidemie aus. Daraufhin verordnet das Gesundheitsamt, dass ungeimpfte Kinder vom Unterricht ausgeschlossen werden sollen – im Schulbeirat, der die Verordnung umsetzen soll, bricht die Hölle los. Was den Kritiker:innen der Uraufführung als lustige aber ziemlich übertriebene Groteske erschienen ist, jagt einem jetzt – danach! – ungläubige Schauer über den Rücken. Bedeutet die unheimliche Genauigkeit, mit der Spector jede Wendung des desaströsen gesellschaftlichen Streits vorhergesehen hat, dass alles, was passiert ist, unvermeidlich war? Schicksal?

Regisseur Jan Philipp Gloger siedelt das kleine Konversationsstück nicht in einem intimen Innenraum an, sondern auf der offenen großen Bühne. An die hundert Stühle bilden einen riesigen Kreis. Das ist kein Sitzungszimmer, das ist die griechische Agora (Bühne: Marie Roth). Das Stück beginnt als bissige Sprachsatire. Wir treffen auf Personen, die wild entschlossen sind, alle möglichen Identitäten, seien es ethnische oder sexuelle, gleichermaßen wertzuschätzen, alle individuellen Standpunkte gelten zu lassen und ihre Kinder in einer solchen Umgebung zu besseren Menschen heranzuziehen, als sie selbst es sind.

Die Nebenwirkungen 2 MatthiasHorn uEs verhärten sich die Fronten: Maximilian Pulst, Regina Fritsch, Zeynep Buyraç, Markus Hering © Matthias Horn

Der Beirat besteht aus vier Personen, die schon lange dabei sind, allesamt weiße Privilegierte: Don, der Schuldirektor (Markus Hering), ein sanfter, salbadernder Dauerlächler, die hübsche May, der alles ausfusselt, das Wollkleid ebenso wie die Sätze (Lilith Häßle) und die eine Affäre mit dem polyamourösen, verheirateten Eli hat (Maximilian Pulst), einem entspannten, bärtigen Hausmann, der, wie sich später herausstellt, unvorstellbar reich ist. Und schließlich die elegante, patrizische Suzanne (Regina Fritsch), die alle mit Dinkelkeksen versorgt und hinter deren eiserner Freundlichkeit eine manipulative Dominanz und Überheblichkeit versteckt ist.

Als Neue kommt in diesem Jahr Carina dazu (Zeynep Buyraç) – sie ist die erste "Person of Color" im Beirat, und wird deshalb von allen hofiert. Sie ist nicht nur Türkin, sondern auch noch lesbisch und hat ein Kind mit "besonderen Bedürfnissen". Als Neuhinzugekommene kennt Carina die Regeln noch nicht und durch sie lernt das Publikum mit, wie man sich gefälligst zu verhalten hat: so gibt es keine Personalpronomen, Carina darf, wenn sie über ihren eigenen Sohn spricht, nicht "er" sagen. Und alle Entscheidungen fallen im Konsens. "Das Geheimnis für Konsens: Dinkelcookies", verrät ihr Mae. Das Stück verwandelt sich im Lauf des Abends von einer Satire zu einem psychologischen Drama und schließlich zu einer Tragödie.

Der "irre, wissenschaftsfeindliche Todeskult"

Im zweiten Teil bricht die Mumpsepidemie über die Schule herein. Suzanne und Mae sind Impfgegnerinnen und beharren darauf, dass es das Wesen der Gemeinschaft sei, alle Meinungen gleichermaßen gelten zu lassen. Es wird ein Live-Stream für alle Eltern mit dem Elternbeirat aufgesetzt. Diese Szene gehört zum Lustigsten und gleichzeitig Erschreckendsten, was ich seit Langem auf einer Bühne erlebt habe. In weniger als zehn Minuten verwandeln sich die Chatteilnehmer in eine tobende Meute. Von der altlinken Kritik an der Pharmaindustrie, der noch praktisch alle zustimmen, geht es in rasendem Tempo zu Sätzen wie "Euer IRRER WISSENSCHAFTSFEINDLICHER TODESKULT bedroht uns alle", zu "Antwortet ehrlich: Hättet ihr lieber Masern oder Autismus?" und "Sorry, aber die Weigerung, Impfschäden anzuerkennen, ist so, wie die DEUTSCHEN um 1944 behauptet haben, sie wüssten nichts von Konzentrationslagern". Und weiter zu immer wüsteren, irren, menschenfeindlichen Beschimpfungen. Das ist perfekt geschrieben, und fantastisch rhythmisch umgesetzt.

Die Nebenwirkungen 3 MatthiasHorn uDas war's dann wohl mit der "Community": Lilith Häßle, Markus Hering, Zeynep Buyraç © Matthias Horn

Nach diesem Livechat wird die Schule erst einmal gänzlich geschlossen. Und es folgt ein großes politisches Drama mit den zwei Protagonistinnen Regina Fritsch als Suzanne, der Impfgegnerin, die auf keinen Fall ungeimpften Kindern den Zugang zum Unterricht verwehren will und Carina, die sich weigert, ihr Kind durch Unterricht mit Ungeimpften zu gefährden. Hinter beiden stehen große Gruppen von Eltern – und es würde den finanziellen Ruin der Schule bedeuten, wenn eine der beiden Gruppen ihre Kinder abmelden würde. Was hier zur Disposition steht, ist tatsächlich die Demokratie selbst. Und es wird – ganz wie in der griechischen Tragödie – klar, dass die Entscheidungen in der Demokratie zwar auf Vernunft beruhen müssen, dass aber die Gerechtigkeits- und Moralvorstellungen, anhand derer die Menschen entscheiden sollen, tief im mythischen Denken verwurzelt sind. Dass das Politische sich zu sehr von weiteren Zusammenhängen der Natur und des Mythos isoliert. Dass andererseits gerade die, die am meisten von einer Entscheidung betroffen sind, am wenigstens in der Lage sind, die Interessen der ganzen Gemeinschaft gegen die eigenen abzuwägen.

Das Duell der Königinnen

Regina Fritsch und Zeynep Buyraç spielen dieses Duell der Königinnen einfach großartig, uneitel und in einer alten, mich sehr berührenden Weise, der Sache dienend. Sie kämpfen nicht für ihre Figuren, sondern für eine möglichst klare und ergreifende Darstellung des universellen Konflikts. Es geht um das Schicksal der Demokratie. Und entscheidend sind letztlich Macht und Geld. Das ist intelligent gelöst, aber auch bitter und sehr pessimistisch. Das mag aber auch daran liegen, dass das Stück als Dystopie geschrieben ist und eigentlich als Warnung wirken sollte. Nun sehen wir es aber, nachdem die Dystopie Wirklichkeit geworden, ist – und was Warnung war, scheint jetzt, post factum, unumstößliche Diagnose. Das ist der einzige Fehler, der durch die Zeitverschiebung entstanden ist. Ansonsten ist dies tatsächlich ein politisches Stück im alten, nützlichen Sinn, spannend, interessant, erschreckend, von allen Beteiligten mit großem Sinn fürs Ganze auf die Bühne gebracht.

 

Die Nebenwirkungen
von Jonathan Spector
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert
Regie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Marie Roth, Kostüme: Justina Klimczyk, Musik: Kostia Rapoport, Licht: Marcus Loran, Video/Grafikdesigner: Florian Dolzer, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Zeynep Buyraç, Regina Fritsch, Lilith Häßle, Markus Hering, Maximilian Pulst.
Premiere am 30. September 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

"So konventionell" gehe es in der Burg zwar selten zu, schreibt Margarete Affenzeller im Standard (2.10.2023). Das "Abbild einer komplexen Debatte samt ihren diversen Vertreterinnen und Vertretern", das der Abend zeige, sei aber "gelungen", findet die Kritikerin. Die Inszenierung, die "das naturalistische Dialogtheater ernst" nehme, schenke "alle Aufmerksamkeit den Figuren", und Regisseur Jan Philipp Gloger beweise "handwerkliches Geschick".

"Die zweistündige Aufführung unter der Regie von Jan Philipp Gloger steigert sich bis zum eindeutigen Höhepunkt mittendrin in der Komik, flacht danach etwas ab und erhält schließlich durch seine tollen Charakterdarsteller eine fast tragische Intensität", fasst Norbert Mayer in der Presse zusammen (2.10.2023). Der "Erklärungszwang" lasse den Abend zwar bisweilen an "Prägnanz" verlieren, dafür hat der Rezensent aber viel Lob für das Ensemble: "Großartig" sei, "was Häßle, Pulst, Buyraç, Fritsch und Hering mit kleinen und großen Gesten, mit sensiblem und gröberem Mienenspiel, mit auf die Tafel geschriebenen Phrasen so alles anstellen!" 

Martin Lhotzky von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.10.2023). schreibt: "Das Ensemble des Abends ist großartig, alle Spieler überzeugen. Gloger inszeniert zart, wo nötig, und brachial, wo möglich, auch das insgesamt überzeugend. Das Stück selbst aber, diese Komödie oder Tragikomödie, will sich nicht wirklich entscheiden, ob sie sich über alle, über die Skeptiker oder über die Befürworter lustig macht."

"Das von Jan Philipp Gloger mit gutem Pointen-Timing inszenierte Well-made play funktioniert, enthält für ein Publikum, das gerade eine Pandemie hinter sich hat, aber keinerlei Überraschungen oder neue Erkenntnisse", schreibt Wolfgang Kralicek von der Süddeutschen Zeitung (4.10.2023)

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